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Verlorene Chancen

630.000 junge Menschen in Deutschland machen weder eine Ausbildung noch arbeiten sie. Ein Systemversagen, das in den Köpfen beginnt.

ES IST EINE bedrückende Zahl. 630.000 Jugendliche in Deutschland zwischen 15 und 24 gehen weder zur Schule noch machen sie eine Ausbildung. Sie studieren nicht, und eine Arbeitsstelle haben sie auch nicht. 630.000 junge Menschen, die komplett durchs Raster fallen, von denen vielen jede Zukunftsperspektive fehlt.

 

Das Forschungsinstitut für Bildungs- und Sozialökonomie (FiBS) hat die Zahl im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung errechnet und festgestellt: Zwischen 2019 und 2021 ist sie noch dazu um knapp 140.000 Jugendliche gestiegen. Wenn so viele Menschen betroffen sind, kann man sich als Gesellschaft nicht damit herausreden, dass die junge Generation zu verwöhnt sei, sich halt mal auf den Hosenboden setzen, statt immer nur fordern solle. Wenn so viele Menschen betroffen sind, muss man die Ursache eindeutig benennen: Es handelt sich um ein Systemversagen, das nicht in den Kitas und Schulen beginnt, sondern in unseren Köpfen.

 

Es beginnt an der Stelle, an der viele überrascht sind von der Größe der Zahl. 630.000? Das sind ja fast zehn Prozent aller 15- bis 24-Jährigen. Und diese Misere ist nicht aus dem Nichts gekommen. Sie betrifft mal etwas mehr, mal etwas weniger Jugendliche. Doch sie ist immer da. Seit vielen Jahren. Und wird ebenso lange von großen Teilen der Gesellschaft und Wirtschaft ignoriert.

 

Lieber diskutierte man über eine vermeintliche Akademikerschwemme und akademisches Prekariat, obwohl die meisten Hochschulabsolventen hervorragende Jobchancen und gute Gehaltsaussichten haben. Man sorgte sich um all die unbesetzten Lehrstellen und die vermeintlich ins Studium fehlgeleiteten Abiturienten. Dabei machen schon extrem viele Abiturienten eine Ausbildung: Laut FiBS inzwischen fast die Hälfte eines Jahrgangs. Die eigentliche Schieflage ist eine andere: Es gelingt nicht, die Quote der Schulabbrecher ohne jeden Abschluss nachhaltig zu senken. Zugleich haben die Abgänger von Hauptschulen, früher die klassische Azubi-Klientel, immer schlechtere Chancen, einen Platz zu ergattern.

 

Rührt das viele so wenig, weil das wahre Prekariat unserer Gesellschaft zwar groß, aber so weit weg ist von der Lebenswelt der gesellschaftlichen Meinungsführer? Zu dem Ergebnis muss man kommen. Sonst würden wir als Gesellschaft kaum noch über Anderes reden als über verlorene Bildungs- und Zukunftschancen junger Menschen – und wie wir sie endlich zurückgewinnen. 

 

Dieser Kommentar erschien zuerst in meiner Kolumne "Wiarda will's wissen" im Tagesspiegel.


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Kommentare: 3
  • #1

    Chris (Mittwoch, 01 Februar 2023 10:08)

    Guter Beitrag Herr Wiarda.
    Die Zahl wird sicherlich noch steigen. Die Pandemie und der Umgang mit den Jugendlichen in dieser Zeit in Deutschland hat eine Schieflage im System geschaffen. In Schulen werden die Kinder auf Berufe/Abschlüsse/Chancen nach der Schule einfach nicht vorbereitet. Familien können das nicht leisten und später nur schwer auffangen.

  • #2

    Roger Kutschki (Mittwoch, 01 Februar 2023 10:43)

    Berufliche Bildung ist schon immer eine Nischendiskussion gewesen. Kaum jemand, selbst im Bildungssystem, kennt sich hier Ansatzweise aus. Was an beruflichen Schulen, hier in Berlin auch an den OSZ, ist gerade auch für die Medien ein Buch mit sieben Siegeln.
    Roger Kutschki,
    ehem. in beruflicher Bildung tätig.

  • #3

    Alexandra (Mittwoch, 01 Februar 2023 11:38)

    Vielen Dank, lieber Herr Wiarda. Wir brauchen für die Ursachen nur auf das Berliner Schulsystem schauen: Wenn für den Zugang zu einer Integrierten Gesamtschule, welche ja gerade für Chancengleichheit sorgen sollte, eine Förderprognose ("NC") zwischen 1,0 und 1,9 erforderlich ist und die restlichen Schüler*innen auf den sog. "Resterampen"-OSZ landen, brauchen wir uns nicht wundern. Das Problem ist definitiv hausgemacht. Bitte bleiben Sie an dem Thema dran!