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Bildungsbericht mit Konstruktionsfehler

So, wie sie ist, klammert die für die Politik so bedeutende Bestandsaufnahme unseres Bildungssystems wichtige Bereiche aus. Das hat Folgen. Ein Gastbeitrag von Dieter Nittel.

WER WÜRDE DAS VERDIENST der Bildungsberichterstattung seit PISA ernsthaft bestreiten wollen? Sie hat einen Ruck im deutschen Schulwesen erzeugt, auch weil sich bildungspolitische Entscheidungen nun mittels Empirie fundierter begründen lassen. Zu seiner Lebzeit hätte Max Weber (einer der Wegbereiter einer solchen Expertise) etwaige Kritiker wohl mit dem Etikett "Romantiker" belegt – ein Ausdruck, der für den Vater der Soziologie einen spöttischen Anklang hatte. 

Und wer würde leugnen, dass der von der Kultusministerkonferenz und dem BMBF in Auftrag gegebene Bericht "Bildung in Deutschland 2022" viele interessante Befunde zu bieten hat? Mit Blick auf die dramatischen Folgen der Corona-Pandemie, auf den aufwändig ermittelten Personalbedarf in gleich mehreren Bereichen des Bildungswesens oder die Befunde zu nachhaltigen Effekten der Vermittlung sprachlicher Kompetenzen in der Frühpädagogik. Ebenso positiv schlägt zu Buche, dass der sogenannte Nationale Bildungsbericht diesmal jene Personen in den Mittelpunkt rückt, welche die tagtägliche Arbeit verrichten. 

 

Zugleich müssen sich die Macher des Bildungsberichts jedoch kritische Fragen gefallen lassen – was vor allem mit der Begriffsbestimmung zusammenhängt, die sie vornehmen. 

Dieter Nittel ist Pädagoge und leitet den Arbeitsbereich Erwachsenenbildung und erziehungswissenschaftliche Professionsforschung an der Goethe Universität Frankfurt am Main. Foto: privat.


Anders gesagt: mit ihrem Verständnis dessen ist, was die Autor*innen eigentlich genau meinen, wenn sie vom "Bildungswesen" oder vom synonym gebrauchten "Bildungssystem" sprechen – Begriffe, die im Bericht immerhin 114 Mal auftauchen. In dem Bericht angehängten Glossar werden zwar Wörter wie "Absolvent" oder "Lockdown" erläutert, aber ausgerechnet eine auf den Hauptuntersuchungsgegenstand selbst bezogene Bestimmung fehlt. 

 

Politische Bildung? Kommt
im Bericht nicht vor

 

Dass die hier aufgeworfene Frage keineswegs eine rein akademische ist, wird deutlich, wenn man als Leser*in nachvollziehen möchte, warum zentrale Segmente des Bildungswesens in die Berichterstattung einbezogen wurden, andere hingegen nahezu vollständig ausgeklammert werden. 

 

So ist zu begrüßen, dass der aktuelle Bericht das Untersuchungsfeld in Richtung nonformale Bildung und informelles Lernen beträchtlich erweitert hat und erstmals eine Lebenslaufperspektive einnimmt, erweitert um neue Ordnungsebenen  ("Lernorte und Lernwelten in Deutschland") – auch wenn unklar bleibt, ob die Autor*innen mit der Erweiterung ihres Untersuchungsfeldes etwa auch eine Ausdehnung der staatlichen Verantwortung auf all die genannten Orte für wünschenswert halten.

 

Umgekehrt scheint jedoch ausgerechnet der in den vergangenen Jahren finanziell außerordentlich stark alimentierte Sektor der politischen Bildung in den Augen der Autoren*innen nicht zum Bildungssystem zu gehören – er taucht im Bericht jedenfalls nicht auf. Auch werden die für den gesellschaftlichen Zusammenhalt strategisch wichtigen sozialpädagogischen Angebote sowie die in der sozialen Arbeit geleistete Bildungsarbeit nicht eigens thematisiert. 

 

Die Exklusion dieser Handlungsfelder und der darin tätigen Berufe mutet fast schon grotesk an, weil die in diesem Segment tätigen Fachkräfte über die gesamte Lebensspanne hinweg lupenreine pädagogische Dienstleistungen anbieten, sie also genau jene Lebenslauforientierung realisieren, für die der Bericht ja mit Verve eintritt. 

 

Sozialpädagogen*innen sind in Schwangerschaftskursen oder als Fachberater*innen im Elementarbereich ebenso aktiv wie in der Schulung junger Menschen, die ihren Hauptschulabschluss nachmachen wollen. Sie sind in der Suchtarbeit zu finden, in der Ausbildung von in der Hospizarbeit tätigen Laienhelfer*innen und in anderen Feldern der Arbeit mit alten Menschen. Die hier zum Ausdruck kommende Selektivität in der Dokumentation konterkariert den eigentlichen Anspruch des Berichts, "von Beginn an (eine) systembezogene, evaluative, indikatorisierte Gesamtschau" zu liefern. 

 

Seine Selektivität konterkariert 

den Anspruch des Berichts

 

Der hier dargelegte Konstruktionsfehler stellt die Quelle für eine Reihe weiterer Mängel im Bericht dar. So deckt die Kategorie "formale Bildung" zunächst nur jene Bildungseinrichtungen ab, die laut Glossar "staatlich anerkannte Abschlüsse" ermöglichen. Im Widerspruch dazu ordnen die verantwortlichen Autoren*innen die Kindertageseinrichtungen kurzerhand der formalen Bildung zu, obwohl bislang nicht bekannt ist, dass Kinder den Kindergarten mit einem Diplom verlassen. Die Liste der handwerklichen Fehler ließe sich leicht verlängern. Nicht ohne Stolz verweist der Bericht zum Beispiel darauf, präzise Angaben über das gesamte Szenario an Bildungseinrichtungen in Deutschland zu machen. Zugleich leistet er sich im Kapitel über die Gesamtzahl der Bildungsorganisationen den Fauxpas, die Weiterbildung einfach außen vor zu lassen. Das ist schon allein deshalb nicht nachvollziehbar, weil in den Dokumenten der Nationalen Weiterbildungsstrategie verlässliche Zahlen über die Weiterbildungseinrichtungen in Deutschland vorliegen. Einschlägigen Quellen faktisch von mehr als 18.000 Einrichtungen. 

 

Auch vom Standpunkt der staatlichen Auftraggeber dürften die hier angedeuteten Schwächen keineswegs von trivialer Bedeutung sein. Wie soll das staatliche Mandat unter bundes- und landespolitischen Gesichtspunkten in Bezug auf die jeweiligen Bildungsbereiche, wie soll die öffentliche Verantwortung gegenüber einzelnen Erziehungs- und Bildungsinstitutionen glaubwürdig repräsentiert werden, wenn der Bericht die Frage offenlässt, wo das Bildungswesen anfängt und wo es endet? Denkbare Maßnahmen der Systemsteuerung vonseiten der Politik können doch nur dann ernsthaft in Erwägung gezogen werden, wenn die Entscheidungsträger*innen über belastbare Kenntnisse der im Bildungssystem ohnehin praktizierten Arbeitsteilung verfügen. Da offenbar eine genauere Vorstellung von der sozialen Einheit "Bildungssystem" fehlt, können die gegenwärtig mobilisierten Ressourcen in den einzelnen Segmenten nur schlecht auf ihre gesellschafts-, finanz- und bildungspolitische Wirksamkeit verglichen und bewertet werden. Oder anders ausgedrückt: Wenn in Bezug auf das Bildungssystem das INNEN und das AUSSEN unbekannt sind, kann auch nicht geklärt werden, welche Probleme hausgemacht und welche extern zurechenbar sind.

 

Selbstverständlich entwertet die hier geäußerte Kritik nicht die generelle Bedeutung des Bildungsberichts. Dieser stellt nicht nur für die Politik eine wichtige Entscheidungsgrundlage dar, sondern bildet auch für die interessierte Öffentlichkeit und nicht zuletzt für die Wissenschaft eine zentrale Markierung für weitere Diskurse. Dennoch kann das hier genannte Monitum nicht einfach beiseite geschoben werden. 

 

Möglicherweise ist diese unklare Gegenstandsbestimmung im Bericht darauf zurückzuführen, dass sich die Autoren*innen weniger auf ein wissenschaftlich informiertes als vielmehr auf ein alltagsweltliches Konzept verlassen haben, etwa im Sinne: "Jedem von uns ist doch intuitiv klar, was das Bildungssystem ist". Träfe diese riskante Lesart einer Orientierung am Common Sense zu oder läge überhaupt keine Gegenstandsbestimmung vor, so wäre dies ein Affront gegenüber der empirisch-analytischen Wissenschaftstradition. Genau diese pflegen die Autoren*innen ja gewöhnlich hochzuhalten. In einem solchen Fall hätte der Bericht "Bildung in Deutschland 2022" zur Lebzeit von Max Weber in der Tat mit dessen Kritik rechnen müssen. 


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Kommentare: 1
  • #1

    Jörg Schlömerkemper, Prof. i.R. an der Goethe-Universität Frankfurt a.M. (Dienstag, 07 Februar 2023 14:12)

    Ja, offenbar wird "Bildung" immer enger nur noch als das verstanden (und erforscht), was in staatlich akkreditierten "Anstalten" an "Wissen" vermittelt und in Punkten und Zeugnissen zertifiziert wird. Die vielfältigen, zum großen Teil auch "verborgenen" Einflüsse und Wirkungen der "Erziehung" werden dabei 'vergessen'. Die sind aber für die Entwicklung der Persönlichkeit mindestens gleich wichtig. Das sollte in einem "Erziehungsbericht" kritisch in den Blick genommen und dann öffentlich diskutiert werden.