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Gefangen in der Verhandlungsfalle

Es ist für viele Wissenschaftler in Deutschland verrückter Alltag: Sie haben auf große Teil der wissenschaftlichen Literatur keinen unmittelbaren Zugriff. Weil der Großverlag Elsevier sich seit Jahren in einem vertragslosen Zustand mit den meisten Hochschulen und Forschungsinstituten befindet. Und jetzt?

Foto: klimkin / Pixabay.

IN DEM TWEET steckte der Frust des Fleißigen. "Ich sitze hier in meinem elitären Elfenbeinturm und habe auf ca. zwei Drittel der für mich relevanten Literatur keinen Zugriff", schrieb neulich ein Verfahrensingenieur, der an einer Berliner Universität arbeitet. Warum? Weil sich Elsevier "auf keinen Deal eingelassen hat".

 

Tatsächlich muss man es sich einmal auf der Zunge zergehen lassen: Seit mehr als einem halben Jahrzehnt befindet sich ein großer Teil der deutschen Wissenschaft in einem vertragslosen Zustand mit dem weltweit größten Wissenschaftsverlag. 2018 wurden die Verhandlungen durch die federführende Hochschulrektorenkonferenz (HRK) abgebrochen, offiziell "ausgesetzt"– in dem Kalkül, Elsevier endlich zu Zugeständnissen zu bewegen. Woraufhin Elsevier hunderten Hochschulen und Wissenschaftseinrichtungen, die demonstrativ ihre Verträge nicht verlängert hatten, den Zugang dichtmachte. 

 

Zum DEAL-Konsortium hatten sie sich 2014 zusammengeschlossen, und der Projektname war zugleich der Anspruch: An die Stelle teurer Einzelabos wollte man mit vereinter Stärke insgesamt günstigere Nationallizenzen aushandeln, die den dauerhaften Zugriff auf die gesamten Zeitschriften-Portfolios der Verlage erlauben sollen. Parallel wollten die Hochschulen und Forschungseinrichtungen den Umstieg auf Open Access erreichen – was bedeutet, dass nicht mehr die Leser einer wissenschaftlichen Publikation zahlen, sondern die Institutionen, die hinter den Autoren stehen.

 

Die Wissenschaftsszene hat sich
notgedrungen arrangiert

 

Mit den zwei anderen Großverlagen, Wiley und Springer Nature, wurde sich DEAL nach unterschiedlichem Hin und Her einig, auch wenn viele Details auch dieser Verträge nicht den geschürten Erwartungen gerecht wurden. Ende 2023 laufen diese Vereinbarungen sogar schon wieder aus, ihre Verlängerung steht an. Erste Gespräche mit Wiley und Springer Nature hätten dazu bereits stattgefunden, teilt die HRK mit. 

 

Doch Elsevier mit seiner enormen Marktmacht stellte sich stur. Und die HRK verkrachte sich mit dem Verlag so nachhaltig, dass vier Jahre fast komplette Funkstille herrschte. Wieso der Druck auf die Verhandlungspartner in der Zwischenzeit nicht auf ein Maximum stieg? Auch weil die Wissenschaftsszene sich notgedrungen arrangierte. 

 

Passend dazu verwies denn auch ein Wirtschaftswissenschaftler den tweetenden Verfahrensingenieur auf die Online-Schattenbibliothek Sci-Hub – woraufhin der antwortete: "Und du findest es nicht verrückt, dass es für alle scheinbar normal ist, illegale Wege für den Zugang zu (meist) öffentlich geforderter Forschung zu beschreiten?“"

 

Verrückt: ja. Aber für viele Wissenschaftler eben Alltag. Neben der Nutzung von Sci-Hub fragen viele zum Beispiel auch direkt bei den Autoren an: Ob sie ihnen ihre wissenschaftlichen Beiträge bitte zumailen könnten? Alles weder würdig noch wirklich praktikabel.

 

Fragt sich: Wie lange noch. Vergangenen Juli hatte DEAL-Verhandlungsführer Günter Ziegler, im Hauptberuf Präsident der Freien Universität Berlin, sich, bereit zum Tatsachenschaffen, aus dem Fenster gelehnt: Es liefen "aktuell Vorbereitungen für Gespräche mit Elsevier", die "bei günstigem Verlauf in einem Vertrag für das Lizenzjahr 2023 resultieren könnten". Daraus ist wieder nichts geworden, aber immerhin teilen HRK und Elsevier mit, dass sie wieder richtig miteinander verhandeln.

 

Wie lange noch, darauf will sich die HRK jetzt nicht mehr festlegen: Beide Seiten seien "mit großer Ernsthaftigkeit im Gespräch, um auszuloten, ob, in welcher Form und unter welchen Bedingungen ein Vertrag zustande kommen könnte." Doch sei der Klärungsbedarf nach der sehr langen vertragslosen Zeit groß. 

 

Der Großverlag scheint

Zeit zu haben

 

Elsevier sagt auf Anfrage, man versorge bereits mehr als 2000 wissenschaftliche Institutionen in Europa und der Welt auf der Grundlage "transformativer Vereinbarungen, die Open Access fördern – dasselbe wollen wir in Deutschland tun" – zu "fairen, gerechten und nachhaltigen" Konditionen für beide Seiten. Wobei sich Kritiker fragen, was ein Quasi-Monopolist wohl unter fairen Konditionen verstehe. Und ob und wie sich die HRK überhaupt darauf einlassen könne.

 

Elsevier jedenfalls gibt zu Protokoll, die Verhandlungen mit DEAL seien ein "iterativer Prozess": "Beide Seiten wollen es gut machen, und da ist es nicht ungewöhnlich, dass da seine Zeit dauert."

 

Es sind ja erst fünf Jahre. Aber der Großverlag scheint Zeit zu haben. Während die Verhandlungen aus Sicht von DEAL im Vergleich zur Situation vor dem Abbruch sogar noch komplexer geworden sind. Es gehe weiter um ein einfaches und transparentes System der Bepreisung nach dem Open-Acess-Prinzip, betont die HRK, doch ließen die neuen Vorgaben der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz (GWK) grundsätzlich keinen Kostenausgleich zwischen den Hochschulen und Forschungseinrichtungen zu. Weshalb Modelle gefunden werden müssten, die für alle teilnehmenden Institutionen direkt sinnvoll und finanzierbar seien.

 

Und die HRK fügt hinzu: "Wie weit sich das in einem komplexen System mit hunderten unterschiedlichen Einrichtungen mit differierenden Rahmenbedingungen in eine wissenschaftsadäquate und für alle Beteiligten stabile Lösung überführen lässt, müssen die Verhandlungen erweisen." So definiert man wohl: gefangen in der Verhandlungsfalle.

 

Dieser Beitrag erschien in einer kürzeren Fassung zuerst im Newsletter ZEITWissen3.


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