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Mehr als ein Schaulaufen?

Das BMBF hatte zum öffentlichen Gespräch über die WissZeitVG-Reform eingeladen. Was hat die Runde gebracht? Und wie geht es jetzt weiter? Eine erste Einschätzung.

Screenshot aus dem BMBF-Livestream. In der Mitte: der gastgebende Staatssekretär Jens Brandenburg (FDP).

AM ANFANG hakte der Livestream gewaltig, mit der Zeit wurde es dann besser. Kein Wunder: Der Termin war heiß erwartet worden, seit das BMBF nur zwei Tage nach Veröffentlichung seiner WissZeitVG-Eckpunkte zurückgerudert war. Am vorgegangenen Sonntagabend war das, der parlamentarische Staatssekretär Jens Brandenburg (FDP) verkündete per Twitter: "Schon die Stakeholder-Beteiligung hat uns gezeigt, dass die Erwartungen hier weit auseinandergehen. Umso wichtiger ist es, diese Frage vor Fertigstellung des Referentenentwurfs noch einmal zu debattieren. Wir werden kurzfristig dazu einladen."

 

Auf Twitter war auch ein Großteil der öffentlichen Debatte zu WissZeitVG und "#IchbinHanna" gelaufen, hier hatte sich der Shitstorm gegen die Ampel-Pläne ereignet, der für die Koalition offenbar dadurch besonders bedrohlich wurde, dass sich auch hunderte und am Ende tausende Professoren unter dem Hashtag "#ProfsfuerHanna" daran beteiligten.

 

Am Donnerstagmorgen nun saßen sich viele, die sich zuletzt hauptsächlich in den sozialen Medien ausgetauscht (und teilweise heftig gestritten) hatten über die Zukunft des Sonderbefristungsrechts in der Wissenschaft, an einem langen Tisch im Berliner Dienstsitz des Ministeriums gegenüber, weitere waren zugeschaltet. Ausgerechnet Postdoc-Netzwerke waren dabei nicht eingeladen, was diese schon im Vorfeld erboste (die Frage nach den Gründen wurde dann auch prompt die auf "Slido" am meisten gelikte Publikumsfrage). Jede/r eingeladene Initiative, Organisation oder Verband durfte genau eine/n Vertreterin schicken. Statt 168 Zeichen für einen Tweet standen ihnen jeweils 120 Sekunden für ein Eingangsstatement zur Verfügung.

 

Brandenburg selbst nahm sich als Gastgeber zur Einführung deutlich mehr Zeit als die zwei Minuten, betonte, wie weit die Positionen der Szene vor allem in Sachen Postdoc-Höchstbefristung auseinanderlägen, und verwies unter anderem auf die Milliarden, die der Bund über den "Zukunftsvertrag"Studium und Lehre stärken" zur Verfügung stelle – auch damit die Länder deutlich mehr Dauerstellen schaffen könnten. Tenor: Der Bund tue längst viel mehr, als nur eine Gesetzesnovelle vorzubereiten, aber die Länder stünden eben auch in der Verantwortung.  Eine Novelle des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes, sagte Brandenburg, könne "nur ein Baustein sein. Über diesen Baustein sprechen wir." 

 

Gescheitertes
Erwartungsmanagement

 

Das Ampel-Erwartungsmanagement in Sachen WissZeitVG-Novelle war allerdings schon in der Vergangenheit daran gescheitert, dass der entsprechende Absatz im Koalitionsvertrag in einem Sinnzusammenhang mit der Reform sehr wohl nach einem grundsätzlichen Paradigmenwechsel klang, getreu dem darin zitierten GEW-Slogan "mehr Dauerstellen für Daueraufgaben". Nicht hilfreich war da sicherlich auch, dass die Kommunikation des BMBF beim Zurückrudern selbst zweideutig war: Während Brandenburg  noch einmal über die Postdoc-Höchstbefristungsdauer sprechen wollte, hatte seine Kollegin, die beamtete Staatssekretärin Döring eine ganz "neue geteilte Vision" als Ziel ausgegeben. 

 

Doch war es eben nicht Döring, die das Gespräch moderierte, sondern Brandenburg. Und der hatte  zu Beginn sichtlich Mühe im konkreten Management der 2-Minuten-Rederegel. Gleich der erste Redner, der aus den USA zugeschaltete Wirtschaftswissenschaftler Rudi Bachmann, überzog so stark, dass der Staatssekretär dessen mit Powerpoint-Slides ausgestatteten Vortrag nach dreieinhalb Minuten abbrechen musste.

 

Das machte aber nichts, denn bei dem Reigen der (zum Teil eben doch nicht so kurzen) in alphabetischer Reihenfolge der Nachnamen aufgerufenen Kurz-Statements ging es nicht so sehr um die Inhalte und Forderungen, die weitgehend bekannt waren, sondern um die Zwischentöne und das Atmosphärische drumherum. Und um die ständig deutlich werdende Diskrepanz zwischen Geste und Wirklichkeit einer zweistündigen vom BMBF angesetzten Beteiligungskonferenz, deren Ziel – außer Zeit in der Debatte zu gewinnen – am Anfang unklar war und es bis zum Ende blieb. 

 

Spannend war denn auch gleich die Kombination der Rednerinnen 2 und 3. Amrei Bahr, als eine der Initiatorinnen von "#IchbinHanna" zugegen, sagte, sie wolle die hinreichend bekannten Positionen nicht wiederholen, sondern einen konkreten Vorschlag machen: das die Höchstbefristungsdauer ergänzende Instrument eines Anschlusszusage-Modells (das zuletzt auch hier im Blog vorgeschlagen und erörtert wurde). Das sie im Übrigen in der Wissenschaftsszene sehr wohl für konsensfähig halte. "Hier liegen die Vorstellungen gar nicht weit auseinander, Herr Brandenburg", betonte sie. 

 

Nach Bahr lobte die Präsidentin der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), Katja Becker, zunächst ausdrücklich verschiedene der BMBF-Eckpunkte, kritisierte dann jedoch unter anderem die geplante Einschränkung der Tarifsperre. Vor allem aber forderte sie statt der dreijährigen Postdoc-Höchstbefristungsdauer mindestens vier Jahre, nach denen "eine Richtungsentscheidung über den weiteren Werdegang" erfolgen solle. Damit trug Becker die sogenannte "4-Plus"-Position vor, die auch Mehrheitsposition in der Allianz der Wissenschaftsorganisationen ist – und die sehr stark an das entsprechende, bereits vor einem Dreivierteljahr von der Hochschulrektorenkonferenz (HRK) präsentierte Modell erinnert.

 

Die  Zwischentöne machten die Runde
wirklich sehens- und hörenswert

 

Interessant war, dass später wiederum die HRK-Vertreterin, die Düsseldorfer Unipräsidentin Anja Steinbeck, nach Vortragen des offiziellen HRK-Modells in einem persönlichen Statement von eben diesem wieder ein Stückweit abzurücken schien. Keine der zitierten Jahreszahlen bei der Postdoc-Höchstbefristungdauer zwischen 0 und 6 werde "uns alle glücklich machen", sagte Steinbeck: Wenn die Universitäten attraktive Arbeitgeber bleiben wollten, bräuchten sie einen Kulturwandel. So habe die Dichotomie "Professor oder Raus aus dem System" ausgedient, auch müsse man hinterfragen, ob die Ausstattung von Professuren mit wissenschaftlichen Mitarbeiterstellen noch zeitgemäß sein – ein unverhohlenes Plädoyer für eine Departmentstruktur.

 

Genau solche Zwischentöne machten die Runde wirklich sehens- und hörenswert – anders als viele andere der Statements, die schon in jüngster Vergangenheit oft gehört erwartbar aus der jeweiligen Rolle des Redners herauskamen. Stellvertretend sei hier Max-Planck-Präsident Martin Stratmann genannt, der warnte, die Reform dürfe nicht dazu führen, "dass wir international nicht wettbewerbsfähig sind".

 

Der Wissenschaftsratsvorsitzende Wolfgang Wick betonte derweil, das vom WR kürzlich in einem Positionspapier kritisierte Missverhältnis zwischen Grund- und Projektfinanzierung sei ein wesentlicher Grund für die "Misere" und nicht mehr hinnehmbar, weshalb Bund, Länder und Wissenschaftsorganisationen auf das Gesamtsystem schauen müssten.

 

Was wiederum gut zum Plädoyer des Berliner Soziologen Steffen Mau passte, der als Vertreter von "#ProfsfuerHanna" ein "Gesamtpaket" forderte, das über eine Novelle des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes hinausgehen müsse. Inklusive, wie er später ausführte, definierter Entfristungsquoten pro Universität auf Länderebene und der Diskussion über neue Stellenprofile. Zu diesem Zweck müsse der Wissenschaftsrat ins Boot geholt werden, dann seien über die Verwaltungskommission nämlich auch die Länder eingebunden. Der WR sei "sehr leistungsfähig und das zentrale Organ zur Beratung von Bund und Ländern in wissenschaftspolitischen Fragen". 

 

Ein nett anzuhörendes, um Chatfragen
angeregtes Pro und Contra

 

Nach der Auftaktrunde betonte der souverän moderierende Brandenburg, nach seiner Meinung gingen die Auffassung doch weit auseinander. Aber stimmte das wirklich? Oder wäre doch am Ende die "geteilte neue Vision" möglich, die seine Kollegin Döring beschworen hatte? Unklar, weil die Debatte doch seltsam unbestimmt blieb: ein nett anzuhörendes, um Chatfragen angeregtes Pro und Contra einer wie auch immer ausgestalteten Sonderbefristungsrechts in der Wissenschaft. Inklusive der schon häufig gehörten Fragen, wie viel persönliche Sicherheit wissenschaftliche Inspiration brauche, wieviel Unsicherheit umgekehrt zu wissenschaftlichen Qualifikation nötig sei, was Generationengerechtigkeit bedeute, ob der Begriff "Verstopfung" angemessen sei – und ob weniger Postdoc-Befristungen die Attraktivität der deutschen Wissenschaft erhöhten oder einschränkten.

 

Sehr deutlich wurde dagegen eines: Eine wie auch immer geartete grundlegende Reform des wissenschaftlichen Karrieresystems ist so überfällig wie durch eine WissZeitVG-Reform allein nicht erreichbar. Was letztere jedoch nicht überflüssig macht, sondern im Gegenteil: Ihre Ausgestaltung muss sitzen, damit das Große und Ganze dadurch nicht erschwert, sondern erleichtert wird. Das BMBF ist also selbst in seiner Regelungskompetenz gefragt.

 

Die Ausarbeitung dieses Großen und Ganzen wiederum ist das, was laut Steffen Mau und anderen unter Einbeziehung des Wissenschaftsrates passieren könnte. Dessen Vorsitzender Wick bedankte sich denn auch für das Vertrauen und signalisierte Bereitschaft dazu. Dies würde allerdings Zeit kosten. Und mehrere Äußerungen von Jens Brandenburg ließen am Donnerstagmorgen Zweifel aufkommen, ob das BMBF bereit und in der Lage ist, die Novelle zumindest so lange in Teilen vorläufig zuhalten, wie ein solcher Prozess dauern würde. Womöglich ist der Druck in Politik und Wissenschaft dafür längst zu groß. 

 

So lautete zum Beispiel Brandenburgs Antwort auf die Online-Publikumsfrage, warum nicht auch die Postdoc-Initiativen eingeladen worden seien: Wenn alle dabei Initiativen mit am Tisch säßen, "würden wir vermutlich wieder über Wochen diskutieren". Später wiederholte er mit Verweis auf den Zukunftsvertrag, über diesen könnten schon jetzt "über 20.000 Dauerstellen, auch im Mittelbau" finanziert werden. Es sei "unsere Erwartung", dass die Länder dies in schwieriger Haushaltslage täten. 

 

Umso hilfreicher wäre es gewesen, wenn Brandenburg am Ende der zwei Stunden sehr deutlich gesagt hätte, wie es jetzt konkret weitergehen soll und wie genau die Ergebnisse des Gesprächs transparent und systematisch in die Weiterentwicklung der BMBF-Eckpunkte und das parlamentarische Verfahren einfließen werden. Doch dafür hätte das Gespräch wohl von Anfang an strukturierter geplant sein müssen. So blieb der Eindruck einer im Ton freundlichen, aber doch zumindest auf den ersten Blick wenig zielgerichteten Diskussion. Es sei denn, das Ziel des BMBF wäre gewesen, danach sagen zu können: "Wir haben nochmal eine Extrarunde gedreht. Jetzt ist es aber auch gut." Genau das wäre aber nicht gut. 



FDP-Wissenschaftsexperte Seiter: Drei Jahre Höchstbefristungsgrenze nicht mehr zu halten

 

Unmittelbar nach Ende des Gesprächs meldete sich der wissenschaftspolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, Stephan Seiter, zu Wort. Nach dem heutigen Austausch zur Höchstbefristungsgrenze im Postdoc-Bereich im BMBF sei der Kompromiss für drei Jahre Höchstbefristung "nicht mehr zu halten".Dem wissenschaftlichen Nachwuchs müsse auch in Zukunft ausreichend Zeit für die notwendigen Qualifikationen für eine Laufbahn hin zur Professur eingeräumt werden", sagte Seiter weiter. "Der Austausch hat auch gezeigt, dass die Diskussion über die Novellierung des WissZeitVG hinausgehen und auf einen Dialog mit Ländern und Hochschulen über die Ausgestaltung der Post-Doc-Phase erweitert werden muss."

 

Die Debatte in den sozialen Medien ging nach Ende der Veranstaltung ebenfalls munter weiter. So schrieb Christian Leßmann, Professor für Volkswirtschaft an der TU Dresden, auf Twitter, bei allen Gegensätzen im Gespräch habe es offenbar "auch sehr klare Übereinstimmungen" gegeben: dass die Drittmittelfinanzierung zugunsten der Grundfinanzierung zurückgefahren werden müsse; dass es ein Gesamtpaket mit einer viel umfassenderen Reform brauche als nur die arbeitsrechtliche Seite; und dass der Wissenschaftsrat eine "aktive Rolle" einnehmen sollte, er solle die nötigen Reformschritte im Verhältnis Bund/Länder/Forschungseinrichtungen" vorbereiten. Dies seien "sehr wichtige, konsensuale Ergebnisse des Gesprächs und damit auch ein Auftrag der Stakeholder an die Politik, mehr Veränderung in Angriff zu nehmen."

 

Der Twitteraccount der Forschungsgruppe von Christian Ducho, Professor an der Universität des Saarland, befand hingegen, das von Amrei Bahr immer wieder ins Gespräch gebrachte Anschlusszusage-Modell sei "in der bisherigen Form und entgegen Bahrs Behauptung" leider nicht in der Wissenschaftsszene konsensfähig. "Hierfür müsste man auf wiederholt vorgebrachte sachliche Einwände gegen die bisher diskutieren Entwürfe eingehen, was aber nicht gemacht wird." Zu den Einwänden zähle, dass es offenbar einseitig um die Gemengelage bestimmter Fächergruppe gehe und die Lage in den MINT-Fächern nicht wirklich reflektiert werde. Dort würden Postdocs zu einem erheblichen Teil für eine spätere Tätigkeit außerhalb der akademischen Welt vorbereitet, weshalb ein verpflichtendes Anschlusszusage-Modell hier nicht viel Sinn mache. "Über diese Schwachstellen der Vorschläge hätte man sprechen müssen, wenn man wirklich einen großen Konsens innerhalb der Wissenschaftsszene herstellen möchte". Das sei nicht passiert, anstelle seien wiederholt strategisch wenig erfolgreiche Maximalforderungen worden. "Damit ist das Thema wahrscheinlich durch, die Politik wird sich jetzt irgendwas zusammenzimmern und wir müssen das an den Hochschulen irgendwie umsetzen." 

 

Allianz veröffentlicht aktualisierte Stellungnahme, "IchbinHanna" reagiert verhalten positiv

 

Am Freitag veröffentlichte die Allianz der Wissenschaftsorganisation eine Allianz ihrer einer Woche zuvor abgegebenen Stellungnahme zur Reform des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes. Darin wird das von DFG-Präsidentin Becker im BMBF-Gespräch erwähnte "4-Plus-Modell" weiter ausgeführt. Nach einer bis zu vierjährigen R2-Postdoc-Phase soll es nach Vorstellung der Wissenschaftsorganisationen neben dem Weg in den außenakademischen Arbeitsmarkt zwei akademische Optionen geben: eine "dauerhafte Tätigkeit in der Wissenschaft ohne Berufung" oder "der Ausbau des wissenschaftlichen Profils mit dem Ziel der Berufungsfähigkeit auf

eine Professur (R3 mit dem Ziel des Übergangs zu R4)".

 

Bei letzterem soll laut dem Vorschlag angesichts der Vielzahl der in den vergangenen Jahren entstandenen Qualifizierungsformate eine weitere Befristung von maximal sechs Jahren möglich sein, unabhängig von der Geldquelle, aber unter zwingenden Voraussetzungen: Es müssten überdurchschnittlich hohe Chancen auf eine erfolgreiche Berufung belegt werden; der Eintritt in ein wettbewerblichen Karrieretrack mit transparentem Begutachtungsverfahren, wobei die Positionen öffentlich und international ausgeschrieben werden müssten; die klare Ausrichtung der R3-Postdoc-Phase "auf die Herstellung von Berufungsfähigkeit – mit angemessen Ressourcen für die Betroffenen sowohl in zeitlicher als auch in materieller Sicht und schließlich wissenschaftliche Unabhängigkeit inklusive eigener Forschungsagenda und ihnen zugeordnete, eigenen Ressourcen.

 

Die Initiative "#IchbinHanna" reagierte verhalten positiv. Die Anschlusszusage zeichne sich als "konsensfähige Lösung" ab, twitterte Amrei Bahr. "Auch Allianz votiert dafür." Klar sei allerdings, dass die vorgeschlagenen vier Jahre für R2 "deutlich zu lang" seien, weil das Risiko bestehe, dass die Arbeitgeber es dann bei den vier Jahren beließen, ohne die darauf folgende Plus-Phase noch anzubieten.

 

Dieser Artikel wurde zuletzt am 01. April um 10 Uhr aktualisiert.

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Kommentare: 9
  • #1

    Michael Lorke (Donnerstag, 30 März 2023 13:08)

    Generell muß man leider sagen:
    Für viele Kommt diese Debatte schlicht Jahre zu spät.

  • #2

    Thomas Böttcher (Donnerstag, 30 März 2023 13:29)

    Leider verbohrte sich die Diskussion in eine sehr enge Denkweise in Bezug auf die Diversität der Fachkulturen und der tatsächlichen Karrierewege. In vielen Fächern dient nun mal die Postdoc-Phase nicht einzig und allein dem Erreichen einer Professur in Deutschland:
    1) Doktoranden, die gerne noch aus Interesse an Wissenschaft und Passion für ihre Arbeit nach der Promotion ein paar Jahre in der Wissenschaft tätig sein möchten, um Projekte abzuschließen oder noch ein anderes Fachgebiet kennen zu lernen bevor sie sich entscheiden in welche Richtung die eigene Karriere laufen soll.
    2) Als Qualifikation für nicht-akademische Karrieren in der Industrie ist besonders bei Leitungstätigkeiten (Laborleitung, F&E) eine Postdoc-Phase üblich. Aber auch in Jobs wie Editoren von Fachjournalen oder Leitungsstellen in Behörden, wird eine ähnliche Qualifikation wie für TT-Stellen erwartet.
    3) Zur Vorbereitung auf eine akademische nicht-professorale Stelle in Deutschland.
    4)Als Qualifikation für akademische Karrieren im Ausland.
    Einzig für 3) und natürlich für eine Professur im Inland ist das Argument für eine Anschlusszusage oder Option auf eine unbefristete Stelle relevant. Für alle anderen Karrierewege trifft dies nicht zu und hier die befristete Postdoc-Phase als Orientierungsphase zu bezeichnen, wird der Diversität der Karrierewege und Absichten eindeutig nicht gerecht. Diese Phase auf ein oder zwei Jahre begrenzen zu wollen erst recht nicht. Es besteht also durchaus Bedarf an befristeten Postdoc Stellen in R2 zur Qualifikation für weitere Karrierewege auch jenseits einer kurzen "Orientierung". Natürlich stünde es jedem frei, sich auch von einer unbefristeten Stelle wegzubewerben, aber bei all der Euphorie wurde herzlich wenig darüber diskutiert, woher diese unbefristeten Stellen kommen sollen. Ob mit oder ohne Überarbeitung des WissZeitVG, das Gesetz alleine wird die prekäre Lage nicht ändern, ohne, dass massiv in mehr Mittelbau und mehr Dauerstellen jenseits der Professur investiert wird. Das ist vielleicht auch die Krux in der nie enden wollenden Diskussion, bei der es scheint, als wolle man hier das Pferd von hinten aufzäumen. Dabei hätte wohl kaum eine Professorin oder ein Professor etwas gegen eine Verteilung von mehr unbefristeten akademische Ratsstellen oder Senior Scientist Stellen einzuwenden. Ganz im Gegenteil! Aber was hier über das WissZeitVG geregelt werden soll, wird nicht zu mehr Stellen führen sondern die Flexibilität der bestehenden einschränken und auf den Schultern der Beteiligten abladen. Dann wird es eben nicht mehr möglich sein, engagierte Postdocs für ein paar Jahre zu verlängern, wenn ein Projekt sich nicht wie geplant entwickelt, von Reviewern noch Experimente für das high impact Paper gefordert werden oder mal wieder eine weltweite Krise zu temporären Schließungen oder Lieferengpässen von Material und Geräten führt - nicht gerade zum Vorteil der entsprechenden Postdocs.

  • #3

    Friedhelm Nonne (Donnerstag, 30 März 2023 14:13)

    Der Vorschlag von GEW und #IchbinHanna, möglichst schnell nach der Promotion nur noch Stellen mit Zielvereinbarung und klarer Anschlussperspektive zuzulassen, ist m.E. nicht realitätstauglich. Ärgerlich ist dann umso mehr, dass auch die Vertreter*innen der Wissenschaftseinrichtungen kein wirklich klares, in den Konsequenzen hinreichend durchdachtes Konzept präsentieren konnten. Dass die Länder sich bisher an der Diskussion kaum beteiligen, kommt erschwerend hinzu. Deshalb: Für die Postdoc-Phase muss jetzt in Zusammenarbeit mit den Ländern ein durchdachtes neues Konzept entwickelt werden, von dem das WissZeitVG nur eine Komponente bilden kann. Vielleicht könnte man eine "kleine" Novelle zur Regelung der Promotionsphase (4 (nicht drei) Jahre Erstvertrag, Vorrang der Qualifizierungsbefristung) und der Rahmenbedingungen für studentische Hilfskräfte vorziehen und gleichzeitig die Konzeptentwicklung für die Postdoc-Phase zügig vorantreiben. Es muss aber sichergestellt werden, dass noch in dieser Legislaturperiode auch die Postdoc-Phase und die Frage der Schaffung von mehr Dauerstellen im Rahmen eines Gesamtkonzepts neu geregelt wird.

  • #4

    Edith Riedel (Donnerstag, 30 März 2023 16:51)

    Die Argumente z.B. von Prof. Stratmann, dass Deutschland mit einer dreijährigen Postdocfrist nicht wettbewerbsfähig sei, oder auch, dass die Postdocs selbst große Sorgen ob einer dreijährigen Frist hätten, verbrämen nur schlecht, dass es es doch sehr starke Beharrungstendenzen gibt, weisungsgebunden forschende Postdocs so lange als möglich in dieser Position zu halten. Das Interesse etablierter Professor*innen, "Nachwuchs"-wissenschaftler*innen eigenständig forschen zu lassen geht oft gegen Null, da es gerade die erfahrenen Postdocs sind, die den Löwenanteil der Arbeiten in eine Gruppe übernehmen (Anträge schreiben, Promovierende betreuen, Lehre leisten), ohne dass dies als eigenständige Leistung gewürdigt wird. Das Wissenschaftszeitvertragsgesetz, wie auch immer es ausformuliert wird, kann diese Denkweise nicht im Alleingang ändern.

  • #5

    Fumarius (Donnerstag, 30 März 2023 19:25)

    "Anschlusszusagen" klingt erst einmal gut - faktisch würden sie aber zu einem nochmal immens erhöhten administrativen Aufwand führen: Je nach Ausgestaltung einerseits für die externe Begutachtung, die Arbeit ggf. neu zu schaffender zuständiger Gremien, zeitlich klar getaktete Prozesse, die eine Bewertung hinreichend vor Ablauf des Vertrages gewährleisten, etc.; andererseits durch die umfangreichen rechtlichen Anforderungen an Vereinbarungen und Prozesse - jeder negative Ausgang wird mit großer Sicherheit eine Befassung des Verwaltungsgerichts nach sich ziehen. Im Ergebnis wird vermutlich die Quote mit positivem Ausgang sehr, sehr hoch sein. Damit ist sehr fraglich, was daran besser sein soll als ein ggf. aufwändigeres, aber zeitlich befristetes Besetzungsverfahren für Dauerstellen (wie es in jedem anderen Job außerhalb der Wissenschaft auch der Fall ist). Daher: Wenn es gesicherte "Anschlussstellen" gibt, warum diese dann nicht direkt qualitativ gut besetzen?

  • #6

    Ruth Himmelreich (Freitag, 31 März 2023 09:35)

    Hier wird es nie eine Lösung geben, die alle befriedigt - und das Gras ist auf der anderen Seite des Teichs ist übrigens auch nicht unbedingt grüner: https://www.aaup.org/article/data-snapshot-tenure-and-contingency-us-higher-education. Nur weil eine Anzahl von höchstqualifzierten deutschen Postdocs eine Tenure Track-Stelle an einer amerikanischen Research University bekommt, verallgemeinert man bei uns fröhlich, dass das dort für alle gilt.

  • #7

    Hanna (Montag, 03 April 2023 19:14)

    Das deutsche Wissenschaftssystem ist international besonders:
    1) Es ist quasi-feudalistisch nach dem Lehrstuhlprinzip aufgebaut. Es gibt meist nur Professuren und prekär beschäftigte Prä- und Postdocs, die je 6 Jahre ausgebeutet und dann ausgetauscht werden, aber kaum noch unbefristeten Mittelbau. 92% der unter 45-Jährigen der Wiss. Mitarbeitenden an deutschen Universitäten werden befristet beschäftigt. Das ist in keinem anderen Land der Welt so. Der unbefristete Mittelbau wurde quasi abgeschafft. Der befristete Mittelbau ist stark vom Gutdünken der vorgesetzten Professor:innen abhängig, leistet Überstunden ohne Ende mit der Hoffnung auf eine der sehr raren Professuren. - Lehre und Forschung würden aber enorm davon profitieren, wenn auch im Mittelbau einige unbefristete Stammkräfte arbeiten würden (Know-How-Sicherung, Lehre auf hohem Niveau).

    2) Das deutsche (und internationale) Wissenschaftssystem ist nach dem Dogma des New Public Management aufgebaut, also der Idee, die Wissenschaft nach marktwirtschaftlichen Prinzipien zu organisieren.

    2a) Für die befristet beschäftigten Wissenschaftler:innen auf dem Weg zu einer Professur bedeutet dies: Was zählt sind die Anzahl der Publikationen (Output), Zitationen (Likes), Drittmitteleinwerbungen (Money) und das Netzwerk (Follower). In diesem Ellbogenkampf gewinnen meist nicht die Brillianz oder das Engagement für gute Lehre (Social Impact), sondern das Ausmaß der Bereitschaft zur Selbstausbeutung. - Hier die zynische Kurzanleitung zur Professur in unserem System: 1) Mehr arbeiten als alle anderen: 50-70 Stunden/Woche (Outputerhöhung). 2) Jeden Artikel in zwei bis drei kleinere aufteilen und diese mit Co-Autoren schreiben (Publikationslisten-Expansion). 3) Fleißig wichtige Gate-Keeper zitieren (Follower sein, bauchpinseln) und diese ja nicht zu sehr kritisieren (Konformist sein), damit sich die Türen des Drittmittelsegens öffnen. 4) Durch möglichst viele Aktivitäten auffallen - unabhängig davon, ob inhaltlich sinnvoll - um den CV zu optimieren (Workshops organisieren, Wissenschaftskommunikation betreiben, Vorträge halten, Auslandsaufenthalte verbringen). 5) Die Erforschung wirklich neuer Wissensgebiete und Methoden unbedingt vermeiden, da zu risikobehaftet und zeitraubend (besser: Recycling).

    2b) Für die Professor:innen bedeutet dies: Das eigene Netzwerk auf- und auszubauen (Influencer werden, Follower akquirieren) und Drittmittel einwerben (Sichtbarkeit und Machtbasis stärken). Wissenschaftliche Mitarbeiter sollten daher möglichst befristet beschäftigt werden, damit diese gut unter Kontrolle gehalten werden können (Follower binden), zum eigenen Forschungsgebiet beitragen (Zitationen generieren) und durch Selbstausbeutung möglichst die Leistung der Forschungsgruppe erhöhen (Outputmaximierung). Bloß niemanden entfristen, denn nicht-konforme und ausgebrannte Docs/Postdocs kann man durch Befristungen leichter wieder loswerden (Erhalt der Produktivität des Netzwerks, Kontrolle).

    2c) Für die Universitäten bedeutet dies: Output erhöhen und Drittmittel einwerben (Selbstausbeutung der Mitarbeiter:innen durch Befristungen anregen), Sichtbarkeit erhöhen (Mitarbeiter:innen zur Teilnahme an möglichst vielen PR-wirksamen Exzellenzwettbewerben anregen), Professoren (Influencer) mit großen Netzwerken gewinnen und halten (Lehrstuhlmitarbeiter befristet flexibel und gefügig halten). Entwicklung der Universität flexibel halten, kranke/ausgebrannte/weniger leistungsfähige Mitarbeiter:innen schneller loswerden (Befristungen als Standardfall). Keine Dauerstellen unterhalb der Professur schaffen. Regelmäßig zu teure befristete Postdocs in hohen Entgeltgruppen durch günstigere Prädocs ersetzen (Wirtschaftlichkeit, für den Erhalt des WissZVG eintreten).

    Was das System aus Professorenfeudalismus und New Public Management im Ranking-Wettkampf um den Vergleich quantitativer Messwerte kaum oder nur sehr bedingt fördert: Die Qualität von Forschung und Lehre.

    Die Wissenschaft in Deutschland ist damit quasi in vielen Fächern bereits tot. Es gibt einerseits nur noch Professor:innen (Influencer/Manager) und abhängige, konforme, befristete Beschäftigte (Follower, Like-Generierer), die auf Basis quantitativer Messwerte agieren. Wissenschaft braucht aber Zeit und Freiheit zur Erweiterung und Reflexion der Grundlagen unseres Wissens, einen Widerstreit der Ideen und Disput, keinen Konformismus. Dazu braucht es auch einen starken, in Teilen unbefristeten Mittelbau und einen Ausbau der Grundlagenfinanzierung, damit sich die herrschende Elite und deren Ideen nicht immer nur selbst reproduzieren sondern die Innovationskraft der Wissenschaft gestärkt wird.

  • #8

    Hans (Mittwoch, 05 April 2023 11:36)

    Danke, Hanna!
    Dem ist nur noch eins hinzuzufügen:
    Außerhalb der Unis ist schon die PreDoc-Befristung falsch und einer PostDoc-Befristung bedarf es gar nicht.

  • #9

    NichtmehrHanna (Donnerstag, 06 April 2023 10:10)

    Ein internationaler Vergleich der Befristungsquoten legt nahe, dass die Systeme bereits auf Doktorandenebene sehr unterschiedlich sein können. Während sich deutsche Doktoranden vorwiegend als "Wissenschaftliche Mitarbeiter", also als Angestellte der Hochschulen sehen (und gerne auch über die Einstufung im TV-L verhandeln), bezeichnen sie sich andernorts als "PhD-Students". Erstere, deutsche, schätzen die Sicherheit eines Tarifvertrags mit vernünftigen Gehältern, ist dieser aber erst geschlossen, fordern sie eine Erhöhung des Arbeitszeitanteils für die eigene wiss. Qualifizierung auf 50%. Vielleicht steht einer Professionalisierung und Wertschätzung der - sehr verschiedenen - PostDoc-Positionen ja eine etablierte, aber evtl. unangemessene Institutionalisierung der Doktoranden entgegen. In einigen Ländern mit ausdifferenzierter PostDoc-Ebene (PostDoc, Lecturer, Assistant Prof., Associate Prof....) werden Doktoranden vornehmlich entweder auf drittmittelfinanzierten Projektstellen ("WiMi") oder als Stipendiaten (PhD-Student) aus Hochschul-, Landes- oder Fördermitteln beschäftigt. Anstelle einer Vielzahl an Doktoranden-Stellen nach TV-L gibt es dann eine Vielzahl an unterschiedlichen PostDoc-Stellen (s.o.) mit hohen Anforderungen und Selektionsmechanismen. Die Etablierung solcher Strukturen würde in Deutschland ein Nachdenken über Aufgaben, Sinn und Nutzen unbefristeter Dauerstellen unterhalb der (Voll-)Professur bzw. eine weitere Differenzierung des Professorenbegriffs erfordern. Vor allem aber würde es die Umwandlung von TV-L-13-Landes-Stellen in solche Dauerstellen erfordern, was wiederum eine deutlich ausgeprägtere Stipendienkultur auf Doktorandenebene erforderte. Daher halte ich eine Diskussion über das "Normal" von TV-L-13-Doktoranden-Stellen für überfällig. Wissenschaftliche Qualifizierung gelingt gut oder besser, v.a. auch schneller auf Stipendienbasis. Qualifizierte wiss. Arbeit in Forschung und Lehre gelingt gut oder besser auf PostDoc-Dauerstellenbasis. Es kann nicht schlau sein, zugunsten einer international ihresgleichen suchenden Ausstattung von Doktorandenstellen das Potenzial hoch und teuer qualifizierter PostDocs an das Ausland abzugeben. Die Länder und Hochschulen muss ein solcher Systemwechsel nicht nennenswert viel Geld kosten; er kostet ein offenes Nachdenken über bisherige Systemgrenzen hinaus und evtl. ein wenig finanzielle Flexibilität durch etwas geringere natürliche Fluktuation im Personalkörper. Aber auch die wird sich einstellen, da hochqualifizierte PostDocs unterhalb der Vollprofessur in der Regel ihre Chancen suchen und finden werden. Und zwar von einer adäquaten Basis aus, die auch Familiengründung etc. zulässt. Diese Aspekte sind nämlich in der Regel in dieser Phase weit bedeutsamer als direkt nach dem Masterabschluss.