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Vertrauensbildung geht anders

Die "Wuppertaler Erklärung zur vertrauenswürdigen Wissenschaftsgovernance" hätte zu einem Signal aufrichtiger Veränderungsbereitschaft werden können. Heraus kam ein Hochglanzpapier, das Schaden verursacht. Ein Gastbeitrag von
Heinz G. Fehrenbach, Sophia Hohmann und Jana Lasser.

Hehrer Anspruch: Um einen "konstruktiven Umgang mit Konflikten und Vorwürfen" sollte es gehen bei der Tagung an der Bergischen Universität Wuppertal. Foto: Screenshot von der Uni-Website.

DER TITEL DER VERANSTALTUNG ließ uns auf eine Debatte hoffen, wie sie an Hochschulen und Forschungseinrichtungen viel zu selten offen geführt wird. "Governance in Wissenschaftsorganisationen – Konstruktiver Umgang mit Konflikten und Vorwürfen", so war die Tagung überschrieben, die Mitte März an der Bergischen Universität Wuppertal stattfand.

 

Noch gespannter waren wir auf die im Nachgang erschienene "Wuppertaler Erklärung zur vertrauenswürdigen Wissenschaftsgovernance". Die Liste der Unterzeichner:innen ist illuster: von Oliver Günther, Präsident   der Universität Potsdam und Vizepräsident der Hochschulrektorenkonferenz, über den kürzlich ausgeschiedenen Vorsitzenden des Deutschen Hochschulverbands (DHV), Bernhard Kempen, bis hin zur Leiterin des Bayerischen Staatsinstituts für Hochschulforschung und Hochschulplanung, Isabell Welpe, der Inhaberin des Lehrstuhls für Betriebswirtschaftslehre mit Schwerpunkt Governance an der Universität Passau, Carola Jungwirth, und der Präsidentin der Bergischen Universität Wuppertal, Birgitta Wolff. 

 

Eine Hochglanzpapiersprache, die wesentliche
Aspekte der Thematik vernebelt

 

Wir, der Vorstand des Netzwerkes gegen Machtmissbrauch, möchten unsere Meinung gleich auf den Punkt bringen: Die "Wuppertaler Erklärung" hat uns mehr als enttäuscht. Sie kommt in einer Hochglanzpapiersprache daher, die von Anfang bis Ende wesentliche Aspekte der Thematik vernebelt und, mit Blick auf künftige Konfliktfälle, einer Täter-Opfer-Umkehr den Weg bereitet. Auch wenn wir als Vorstand nicht für uns in Anspruch nehmen, mit unserer persönlichen Ansicht für alle Mitglieder unseres Netzwerkes zu sprechen, so glauben wir doch, unsere Irritation mit vielen Menschen im Wissenschaftssystem zu teilen. Das wollen wir erläutern.

 

Im einleitenden Absatz werden durchaus noch Aspekte angesprochen, die diese komplexe Thematik treffend kennzeichnen, so zum Beispiel , dass Konflikte "auch zum Alltag in Wissenschaftsorganisationen" gehören und sich "in unterschiedlichen Facetten und Konstellationen" zeigen. 

Um deutlich zu machen, was darunter zu verstehen ist, verweisen wir auf die Umfrageergebnisse des Ombudsgremiums der DGPs wie von UniSAFE: jeweils über 60 Prozent der Befragten geben an, "Schikanen am Arbeitsplatz" oder "gender-based violence" an akademischen Institutionen direkt oder indirekt erlebt zu haben.

 

Weshalb also differenzieren die Autor:innen der Wuppertaler Erklärung Konfliktfälle, die "im Zusammenhang mit wissenschaftlichem Fehlverhalten" stehen, und solche, "die nicht auf wissenschaftliches Fehlverhalten im engeren Sinn beschränkt bleiben"? Spätestens seit im September 2019 die DFG die "Leitlinien zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis" (kurz Kodex) veröffentlicht hat, ist eine solche Trennung nach unserer Einschätzung obsolet. Nach Leitlinie 4 gilt: "Machtmissbrauch und das Ausnutzen von Abhängigkeitsverhältnissen sind … zu verhindern."

 

Doch anstatt diesen Kernaspekt des DFG-Kodex in den Vordergrund zu stellen, macht sich die Erklärung das Leitmotiv eines neuen, besonderen Beratungsangebots des DHV zu eigen: der Primat des Schutzes mutmaßlicher Täter:innen vor dem Schutz potentieller Opfer. DHV-Mitgliedern wird seit diesem Jahr angeboten, ihnen ein Krisenteam zur Seite zu stellen sollten sie in besondere Krisensituationen geraten. Während sich das ursprüngliche Angebot explizit auf Krisensituationen durch Anschuldigung von Mobbing, rassistischer Äußerung, sexueller Belästigung, wissenschaftlichen Fehlverhaltens bzw. der Veruntreuung von Geldern bezog, wird nun nur noch kursorisch ein "Verdacht auf Fehlverhalten" genannt. Honi soit qui mal y pense.

 

Ein Paradebeispiel für die
Rekursivität von Macht

 

Dass laut Grundsatz 1 der "Wuppertaler Erklärung" eine Behandlung von möglichem Fehlverhalten auf eine "normative ex ante-Bestimmung zurückgreifen" soll, "die durch beobachterunabhängige Kriterien weiter zu konkretisieren ist", kommt auf den ersten Blick logisch und wie ein neuer Ansatz daher. Solche Kriterien sind jedoch längst durch verschiedene Studien verfügbar. Leider verlieren die Autor:innen kein Wort darüber, wer diese Kriterien auswählen oder aufstellen und dann im Konfliktfall anwenden soll. Wer die Macht besitzt, diese Kriterien festzulegen, verfügt wahrlich über die Macht im System – ein Paradebeispiel für die Rekursivität von Macht

 

Grundsatz 2, dass daneben "eine kommunikative Klärung dessen, was wünschenswert oder akzeptabel ist" gestellt wird, vermittelt den Eindruck, hier würden zwei Parteien auf gleicher Augenhöhe eine Art Gentlemen’s Agreement schließen. Das Gegenteil trifft zu. In den allermeisten Konfliktfällen geht es um Auseinandersetzungen zwischen Professor:innen mit von ihnen abhängigen Studierenden, Promovierenden, Habilitierenden oder einfach (in der Regel befristet) angestellten Personen. Selbst bei Konflikten zwischen Professor:innen und Organisationsleitungen gehen diese Vorschläge am Kern der Sache vorbei, betreffen sie doch häufig die Einhaltung bzw. Nichteinhaltung "expliziter vorheriger Absprachen" zwischen Parteien mit deutlich unterschiedlichen Machtpositionen. 

 

In Grundsatz 3 werden "transparente Regeln, praktikable Verfahren und niederschwellige Anlaufstellen für die konstruktive und frühzeitige Lösung von Konflikten für alle Mitglieder der Organisation" gefordert. An (nahezu) allen wissenschaftlichen Einrichtungen sind mittlerweile Ombuds-, Gleichstellungs-, Antidiskriminierungsstellen etc. sowie Personal- oder Betriebsräte eingerichtet. Es mangelt also nicht am Vorhandensein der aufgeführten Anlaufstellen, Regeln und Verfahren. Die wahre Problematik liegt im Mangel an effektiven Mechanismen, um Anlaufstellen, Verfahren und Regeln vor der verdeckt verlaufenden missbräuchlichen Einflussnahme durch Leitungspersonen oder sogenannten "akademischen Entrepreneuren" zu schützen. 

 

Diese Problematik muss den Autor:innen der Erklärung bekannt sein. Weshalb wird sonst in Grundsatz 4 gefordert, dass es "Anlaufstellen geben [muss], an die man sich im Falle von institutionellem/systemischem Fehlverhalten wenden kann – gemeint ist damit insbesondere Fehlverhalten auf Leitungsebene"? Was unseres Erachtens in der Erklärung fehlt ist, die Forderung nach einer externen Anlaufstelle. Denn nur eine vom akademischen System unabhängige Bundeseinrichtung mit machtvollen Aufklärungs- und Sanktionskompetenzen kann die hierbei nötige Klarheit schaffen. Nebenbei bemerkt begrenzte dies die Freiheit der Wissenschaft ebenso wenig wie ein die Hochschulfinanzen prüfender Bundesrechnungshof.

 

Erst Grundsatz 6 geht auf "Abhängigkeit als Konfliktursache" ein, obwohl dies zahlenmäßig der vorherrschende Kontext von Machtmissbrauch in der Wissenschaft ist. Der vorgeschlagene "Wechsel hin zu einer stärkeren Trennung von Betreuungs-, Mitarbeits- und Prüfungsverhältnissen" ist richtig, aber alles Andere als neu. Es mutet nachgerade zynisch an, wenn die "Wuppertaler Erklärung" empfiehlt, zu Beginn einer Betreuung auf "die besondere Selektivität der Wissenschaft", "die Möglichkeit des Scheiterns" und "die Chancen, die auch… in Ausstiegsoptionen aus der Wissenschaft liegen" hinzuweisen.

 

Wer soll hier vor wem
geschützt werden?

 

Einmal abgesehen davon, dass die Bewertung "Scheitern" eine Frage des Standpunktes innerhalb oder außerhalb des akademischen Systems ist, stellt sich uns die Frage, was vor diesem Hintergrund unter Grundsatz 2 mit der "Kommunikation von Erwartungen" gemeint war? Wer sich den Erwartungen der Betreuer:innen nicht beugt, muss mit der "Möglichkeit des Scheiterns" oder vielmehr noch des gescheitert Werdens kalkulieren? 

 

Mit den Grundsätzen 8 bis 11 werden zahlreiche im Juristischen angesiedelte Aspekte angesprochen, darunter die Unschuldsvermutung, gleiche Rechte und Pflichten aller Beteiligten, Anspruch auf rechtliches Gehör, Recht auf Stellungnahme oder Akteneinsicht, alles grundlegende Eckpfeiler unseres Gesellschaftssystems generell. Weshalb sie also in der Erklärung so prominent erwähnen?  

 

Hier wird besonders deutlich, dass es, wie beim Angebot des DHV, vornehmlich um den Schutz der angeschuldigten Personen geht, während jenen, die anklagen, die Rolle als "mutmaßliches Opfer" zugewiesen wird. Richtet sich die gesamte Wuppertaler Erklärung am Ende vielmehr an einer besonderen Kategorie des "mutmaßlichen Opfers" aus, nämlich jener Führungskraft, die aufgrund eines zum Beispiel durch Regelbrüche und Verfahrensabweichungen von der Organisationsleitung instrumentalisierten Vorwurfs von Fehlverhalten selbst gleichzeitig zu mutmaßliche:r Täter:in und mutmaßlichem Opfer in einer Person wird? Für wen soll dann das in Grundsatz 11 geforderte "in dubio pro reo" Gültigkeit haben? Soll das Verfahren zugunsten der angeschuldigten Führungskraft oder zugunsten der angeschuldigten Organisationsleitung enden, die sich selbst (mutmaßlich) des Machtmissbrauchs schuldig gemacht hat? 

 

Die Wuppertaler Erklärung ist nach unserer Einschätzung leider nicht bloß ein völlig überflüssiges Papier, das in typischer Hochglanzmanier Kernpunkte der Problematik ausklammert oder verschleiert. Viel schlimmer ist, dass ihr Duktus einer Täter-Opfer-Umkehr den Weg bereitet und so das ohnehin schon reichlich beschädigte Vertrauen in akademische Leitungs- und Selbstverwaltungsstrukturen weiter untergräbt. Solange nicht alle Aspekte von Machtmissbrauch in der Wissenschaft offen thematisiert werden, wird es nie gelingen, eine Governancestruktur aufzubauen, die von allen an Hochschulen und Forschungseinrichtungen vertretenen Gruppen als vertrauenswürdig angesehen werden kann. 

 

Heinz G. Fehrenbach, Sophia Hohmann und Jana Lasser sind der Vorstand des Vereins "Netzwerk gegen Machtmissbrauch in der Wissenschaft".


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Kommentare: 9
  • #1

    Carola Jungwirth (Donnerstag, 20 April 2023 20:02)

    Wir bedauern sehr, dass Heinz G. Fehrenbach und seine Koautorinnen nun in demselben Spirit die „Wuppertaler Erklärung“ ablehnen, mit der er auch schon seine Teilnahme an der wissenschaftlichen Tagung „Governance in Wissenschaftsorganisationen: Konstruktiver Umgang mit Konflikten und Vorwürfen“ abgesagt hat. Auch die ausdrückliche Einladung zur Kommentierung einer Entwurfsversion der Erklärung wurde nicht angenommen. Wir hätten uns über eine konstruktive Diskussion gefreut. Auf der Konferenz wurde beispielsweise diskutiert, warum es wichtig ist, rechtsstaatliche Prinzipien zu betonen. Wir werden weiterhin dafür werben und dazu einladen, auf wissenschaftlichen Konferenzen und darüber hinaus direkt miteinander ins Gespräch zu kommen. Auch Themen, die uns selbst betreffen, sollten Gegenstand wissenschaftlicher Diskurse sein – möglichst mehr als öffentlicher Skandalisierungsstrategien.

    Wir sind uns bewusst, dass die "Wuppertaler Erklärung zu guter Governance in Wissenschaftsorganisationen" in der Community kontrovers diskutiert werden kann. Wir halten es für wichtig, mit Konflikten und Vorwürfen konstruktiv umzugehen. Den Vorwurf der Verfasser:innen des Beitrags von Fehrenbach, Hohmann und Lasser, dass der „Duktus (der Wuppertaler Erklärung, Anm. d.V.) einer Täter-Opfer-Umkehr den Weg bereitet und so das ohnehin schon reichlich beschädigte Vertrauen in akademische Leitungs- und Selbstverwaltungsstrukturen weiter untergräbt“, halten wir für falsch und weisen ihn entschieden zurück. Er widerspricht dem auch zweiten Satz des Fazits in besagtem Beitrag: „Solange nicht alle Aspekte von Machtmissbrauch in der Wissenschaft offen thematisiert werden, wird es nie gelingen, eine Governancestruktur aufzubauen, die von allen an Hochschulen und Forschungseinrichtungen vertretenen Gruppen als vertrauenswürdig angesehen werden kann.“ Dieser Einschätzung schließen wir uns an und weisen darauf hin, dass Aspekte des Machtmissbrauchs leider auf allen Ebenen der Wissenschaftsstrukturen zu finden sind. Auch das war Gegenstand der Konferenz.

    Wir schätzen das Engagement von Heinz G. Fehrenbach, Sophia Hohmann und Jana Lasser sehr und freuen uns jederzeit auf einen konstruktiven Diskurs.

  • #2

    Tina Salomon (Freitag, 21 April 2023 08:43)

    Ich bin nicht Mitglied des Netzwerks gegen Machtmissbrauch, sondern Betroffene - und werde vermutlich nie an der Diskussion beteiligt werden. Ich schließe mich der Einschätzung des Netzwerks an: Die "Wuppertaler Erklärung" ist sehr unausgewogen. Es handelt sich um die professorale Perspektive auf das Problem, die mögliche Anschuldigungen gegen Professor*innen und Verfahrensmängel in der Verantwortung der Hochschulleitungen in den Mittelpunkt stellt. Der Vielfältigkeit der Problematik wird die Erklärung damit nicht gerecht: Die überwiegende Anzahl der Fälle ist im starken Hierarchiegefälle Professor*innen/Mitarbeitende angesiedelt und für keine der unterschiedlichen Erscheinungsformen ("Ehrenautorenschaften", professionelle Vergeltung nach der Aufdeckung wissenschaftlichen Fehlverhaltens, Diskriminierung, Mobbing/Bossing, ... ) ergeben sich aus der Erklärung Handlungsempfehlungen, die geeignet sind, weiteren Schaden von den bereits durch Machtmissbrauch geschädigten Mitarbeitenden abzuwenden. Die Forderungen an die Hochschulleitungen laufen darauf hinaus, die Aussagen von Betroffenen als Zeug*innen nicht mehr zu beachten und in Teilen verstößt die Erklärung sogar gegen das aktuell im Gesetzgebungsverfahren befindliche Hinweisgeberschutzgesetz (z.B. bzgl. der Zusicherung von Anonymität). Den Abschnitt zur Beratung zum "Scheitern" empfand ich als Schlag ins Gesicht: Damit wird den Täter*innen zugestanden, dass sie einseitig entscheiden, ob jemand "wissenschaftstauglich" ist - gerade dann wenn es zuvor Machtmissbrauch gegeben hat, wird diese Einschätzung kaum neutral und sachorientiert vorgenommen werden. Das ist tatsächlich in meinem Fall passiert: Mein "Doktorvater" legte mir den Ausstieg aus der Wissenschaft nahe und verweigerte jede Unterstützung für eine wissenschaftliche Laufbahn vollkommen unabhängig von meiner Eignung für diese Laufbahn, sondern aufgrund einer möglichen Korruptionsstraftat in meiner Verantwortung. Die wissenschaftlichen Mitarbeitenden waren bei der Konferenz klar unterrepräsentiert und vor diesem Hintergrund begrüße ich, dass Heinz Fehrenbach als Professor die Teilnahme abgelehnt hat, denn die Einseitigkeit der Erklärung wird durch den Ausschluss von Perspektiven, speziell von der Perspektive marginalisierter Menschen, verschärft.

  • #3

    Tina Salomon (Freitag, 21 April 2023 08:49)

    Aaaargh. *In SEINER Verantwortung.

    Könnten Sie das bitte korrigieren?

    Danke.

  • #4

    Sophia Hohmann (Freitag, 21 April 2023 10:49)

    Hallo Tina Salomon! Danke für diese wichtige Ergänzung. Ich finde auch, dass in der gesamten Debatte die Perspektive von Betroffenen, die strukturell bedingt weniger Macht im System besitzen, zu kurz kommt. Wir bemühen uns bei MaWi darum, diese Perspektive zu stärken und verschiedene soziale Identitäten bei der Diskussion des Themas zu berücksichtigen.

    Den Punkt mit dem Scheitern habe auch ich vor diesem Hintergrund als besonders belastend empfunden. Zunächst, weil nicht jeder Ausstieg aus der Wissenschaft ein Scheitern ist. An anderer Stelle wird auch von der besonderen Selektivität des Wissenschaftssystems gesprochen – hier werden aber nicht strukturelle u. a. geschlechterspezifische oder rassistische Diskriminierungen benannt – gemeint ist wohl, dass das Wissenschaftssystem streng meritokratisch ist. Dass das nicht so ist, ist inzwischen breit bekannt und auch empirisch gut belegt. Zuletzt erscheint Scheitern so auch als ein mögliches kausales Ende von Machtmissbrauch.


    Ich möchte noch einen weiteren Punkt ergänzen, ich spreche hier für mich und nicht für Heinz Fehrenbach und/oder Jana Lasser. Die größte Gruppe an Universitäten – Studierende – war überhaupt nicht vertreten. Das ist aus meiner Sicht ein riesiges Problem. Denn auch Studierende und studentische Beschäftigte sind von Machtmissbrauch betroffen.

  • #5

    David J. Green (Freitag, 21 April 2023 12:30)

    Es gibt zwei verschiedene Machtmissbrauch-Probleme im Hochschulwesen:
    1) Ganz allgemein eröffnet die besondere, hochspezialisierte Natur des Wissenschaftsbetriebs – oft ist die vorgesetzte Person die einzige überhaupt, die meine Leistungen ausreichend einschätzen kann – viele Möglichkeiten zum Machtmissbrauch, und auch in der Wissenschaft sind wir nur Menschen.
    2) Erdrückend auffällig ist, wie oft es eine Frau und/oder eine ausländische Person trifft, wenn Fehlverhaltensvorwürfe doch zu öffentlich bekannt gewordenen Konsequenzen führen.
    Bei MaWi geht es um 1), und tatsächlich ist dort die Anzahl der Betroffenen viel größer, zumal die dringend reformbedürftige deutsche Wissenschaftskarrierestruktur besonders viele Gelegenheiten zum Fehlverhalten anbietet.
    Das bedeutet aber noch lange nicht, dass 2) zum hinnehmbaren Kollateralschaden wird – wobei es für 2) mehrere mögliche Erklärungen gibt: verleiht unser System weißen deutschen Männern Immunität? [Könnte man denken, anhand eines gewissen aktuellen Skandals.] Verleiten die Zwänge unseres Wissenschaftssystems Mitglieder unterrepräsentierter Gruppen vielleicht dazu, zu viel Druck nach unten weiterzugeben, wenn sie selber bestehen wollen? Oder sind wir vielleicht bei Vorwürfen gegen Frauen und Ausländischen eher bereit, uns überzeugen zu lassen, dass Vorwürfe berechtigt sind?
    Für mich war auf Anhieb klar, dass es in Wuppertal vorwiegend um 2) gehen würde, und insbesondere um eine (konstatierte) leichtere Akzeptanz von Fehlverhaltensvorwürfen, sofern diese Mitglieder unterrepräsentierter Gruppen betreffen. Dass dies dann zu Forderungen führen konnte, die aus Sicht von MaWi nach Täterschutz riechen könnten, lag auf der Hand – und trotzdem macht es solche Forderungen nicht von vorne herein verwerflich.

  • #6

    Tina Salomon (Freitag, 21 April 2023 18:53)

    @David J. Green: Da ich mich so eingehend mit der Thematik auseinandersetzen musste, habe ich natürlich auch die Fälle beachtet, die Sie in die zweite Kategorie einordnen. Und muss leider widersprechen: Es gab eine Reihe von Fällen (deutlich < 20), aber quantitativ ist das sicher nicht der Schwerpunkt, deswegen wirkt die Aufmerksamkeit die diese Fälle mit einer zweitägigen Konferenz und der Erklärung bekommen haben, angesichts der Vielzahl der Fälle, die das Netzwerk und andere Stellen (der Instagram-Account von #MeTooScience, die AG Macht und Gender, der WissMob und mittlerweile auch die Presseberichterstattung) anführen, disproportional.

    Und so eindeutig, wie Sie es darstellen, sind die Fälle nicht. Die cause célèbre war der Fall an der ETH Zürich 2018. Bei der Konferenz war eine Fürsprecherin der Professorin, die genau den Vorwurf, den Sie erheben, auch formuliert hat. Mittlerweile liegt aber ein Urteil in diesem Fall vor, das es ermöglicht, den Fall neu zu bewerten: Anders als die betroffene Professorin meint, gab es nach Auffassung des Gerichts keine durchgreifenden Verfahrensmängel, sondern die von der ETH beauftragte Anwaltskanzlei soll durch die Einvernahme einer großen Anzahl von Zeug*innen sogar besonders sorgfältig vorgegangen sein. Das Gericht kritisierte in erster Linie die lange Untätigkeit der Hochschule vor dem "großen Knall", weil es wohl schon jahrelang Beschwerden bei der Ombudsstelle gegeben hat.

    Im Fall der Direktorin am MPI für Astrophysik gab es E-Mails, die kruden Rassismus belegen, im Fall der MPG-Direktorin im Bereich Psychologie gab nach übereinstimmender Aussage von Zeug*innen die Benachteiligung schwangerer Mitarbeiterinnen. Bei der Konferenz war u.a. Ulrike Beisiegel anwesend - und damit die Uni-Präsidentin, in deren Verantwortung einer der beiden schwerwiegendsten Fälle von Machtmissbrauch in Form von strafrechtlich relevanter, sexueller Gewalt fiel.

    Die Forderung nach "Rechtsstaatlichkeit", "Beweisen" und "in dubio pro reo" kann als Vorwand missbraucht werden, um untätig bleiben zu können, weil so die Handlungsschwelle sehr hoch angesetzt werden kann. Das soll nicht heißen, dass das Rechtsstaatlichkeitsgebot nicht zu beachten wäre, sondern nur, dass im Auge behalten werden muss, dass die Geschädigten auch Rechte haben, die zu beachten sind. Wie die beiden betroffenen Kolleginnen, die den #MeTooScience-Instagram-Account betreiben, vor Kurzem bei Respect Science e.V. ganz richtig erklärt haben, geht es der Ahndung von sexualisierter Belästigung nicht um das "Strafen", sondern um den Schutz der Geschädigten vor weiteren Übergriffen - und dieser Punkt findet sich nur kleckerweise in der Erklärung, z.B. in dem eingeschoben Satz, dass Betreuerwechsel helfen könnten.

    @Sophia Hohmann: Keep up the good fight. ;)

  • #7

    Beate Kerpen (Samstag, 22 April 2023 10:40)

    Ich finde es bedrückend, dass die vielen Engagierten gegen Machtmissbrauch im Wissenschaftssystem sich hier aufspalten, statt miteinander zu reden. Es ist schade, dass das Netzwerk gegen Machtmissbrauch nicht an der Wuppertaler Konferenz teilgenommen hat, um eigene Kernanliegen oder Perspektiven in die Konferenz und Erklärung mit einzubringen!
    Wie mein Vorredner sehr gut schreibt, gibt es unterschiedliche Problematiken, die man nicht gegeneinander ausspielen sollte. Diese unterschiedlichen Problematiken und Opfergruppen differenziert zu beleuchten und nach strukturellen Zusammenhängen zu suchen, ist eine der entscheidenden Aufgaben. Das oft implizierte Fazit, dass man (bzw. frau) auf einer höheren Karrierestufe nicht Opfer von Machtmissbrauch und Mobbing sein könnte, darf nicht gezogen werden. Die Forschung, Daten und Erfahrung zeigen etwas anderes!
    In Wuppertal kamen sehr wohl diverse Nachwuchswissenschaftler*innen zu Wort (PhDNet, PostdocNet, eine ehemalige Doktorandin, die für eine Gruppe Betroffener sprach); andere Redner bezeichneten das Wissenschaftssystem als „Feudalsystem“. Ich teile daher als Besucherin der Konferenz nicht, dass es primär nicht um die Nachwuchswissenschaftler*innen ging.
    Es ging auf der Konferenz in Wuppertal aber AUCH um die mögliche Opferisierung von Leitungspersonal, was insbesondere dann gehäuft zu passieren scheint, wenn es sich um unterrepräsentierte Gruppenangehörige handelt. Dieses Thema zu beleuchten hat nichts mit einer Täter-Opfer-Umkehr zu tun, sondern damit, dass man sich der Komplexität der Thematik ernsthaft stellt. Die Aufklärung der Frage, warum weit überproportional häufiger Frauen bzw Mitglieder von Minderheitsgruppen öffentlich sanktioniert werden, und das nach bisweilen haarsträubend mangelhaften und intransparenten internen Verfahren, wird auch für Nachwuchswissenschaftlerinnen spätestens dann relevant, wenn sie selbst einmal zu weiblichen Führungskräften geworden sind und mit gender bias, glass ceiling, Sexismus und doppelten Standards zu tun haben.
    Das Vertrauen in die aktuellen Aufklärungs- und Sanktionierungsmechanismen im Wissenschaftssystem ist derzeit bei vielen scheinbar so begrenzt, dass sich Betroffene schon schwertun mit dem Grundsatz „in dubio pro reo“. Das ist bedenklich, da dieser und andere Grundsätze von Rechtsstaatlichkeit immer der kleinste gemeinsame Nenner bei allen weiteren Diskussionen über Umgang mit Fehlverhalten sein sollten. Das Problem ist ja nicht die Rechtsstaatlichkeit oder der Grundgedanke, dass Sanktionen nur bei nachgewiesenem Fehlverhalten erfolgen können. Rechtsstaatlichkeit schützt ja keine Täter oder Täterinnen! Echte Rechtstaatlichkeit schützt alle Seiten und bildet die legitimierende Grundlage für robuste Sanktionen. Es hilft am Ende doch auch Betroffenen nicht, wenn aufgrund intransparenter, mangelhafter interner Verfahren Schuldsprüche und Sanktionen kontrovers diskutiert werden (müssen).
    Ich glaube, wenn der Grundsatz „in dubio pro reo“ hier kritisch gesehen wird, dann wohl weniger, weil die Autor*innen wirklich von Rechtsstaatlichkeit abrücken wollen, sondern weil sie von der Erfahrung geleitet sind, dass in wissenschaftlichen Selbstverwaltungen Verfahren zum Umgang mit Fehlverhalten allzu oft zugunsten von Tätern ausgehen. Das Vertrauen in die bestehenden Aufklärungsmechanismen ist nicht da!
    Genau darum (!!) halte ich den Ansatz der Wuppertaler Konferenz für so wertvoll: am Ende und mit etwas emotionalem Abstand geht es doch um die zentrale Frage, wie sich Governance- und Compliancestandards etablieren und durchsetzen lassen, die auch wirklich funktionieren und vertrauenswürdig sind. Das hilft von Mobbing und Machtmissbrauch Betroffenen auf allen Karriereebenen!

  • #8

    Nase voll (Samstag, 22 April 2023 19:12)

    Hier geht nix voran. Fakt ist, dass die Machthaber in der Wissenschaft gar kein Interesse haben, Macht aufzugeben. Da wird nur kompliziert herumgeredet, dass es nicht auffällt und auch solch komische Einteilungen wie oben bei David J Green verschleiern das Problem nur weiter

  • #9

    tja (Samstag, 22 April 2023 22:54)

    Zitat: "Wir halten es für wichtig, mit Konflikten und Vorwürfen konstruktiv umzugehen."
    Und tatsächlich heißt das, Konflikte und Vorwürfe klammheimlich zu begraben.