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"Ein bisschen mehr Aktivismus"

Die Chance ist da, unsere Wissenschaft Richtung Offenheit, Transparenz und Diversität umzubauen. Wir sollten sie jetzt nutzen. Ein Gastbeitrag von Doreen Siegfried und Klaus Tochtermann.

Das Open-Science-Magazin auf der Website des ZBW (Bildschirmfoto).

DEN BEGRIFF haben inzwischen viele schon einmal gehört. Open Science. Anfangs nur von einzelnen Akteur:innengruppen der Wissenschaftscommunity gepusht, fordern mittlerweile auch die Europäische Kommission und nationale Forschungsfördereinrichtungen Open Science als "New Normal" der Wissenschaft ein.

 

Aber was genau soll das eigentlich sein – Open Science? Ist sie wirklich abgesehen schöner Reden schon mehr als ein Nischenphänomen? Und wie korrespondiert Open Science mit einer anderen, viel beachteten – und diskutierten – Reformanstrengung in der Wissenschaft: der Etablierung einer neuen Logik der Forschungsbewertung? 

 

Wofür genau steht
eigentlich "Open Science"?

 

Open Science umfasst Vorgehensweisen, Methoden und Werkzeuge, mit denen der Forschungsprozess unter Nutzung der Chancen der Digitalisierung geöffnet wird. Zentrale Prinzipien von Open Science sind Transparenz, Reproduzierbarkeit, Wiederverwendbarkeit und offene Kommunikation. Der Ansatz beschränkt sich nicht allein auf die Publikation von Forschungsergebnissen, er erstreckt sich vielmehr auf die Offenlegung des gesamten wissenschaftlichen Prozesses – einschließlich Forschungsdaten, Forschungssoftware, angewandten Methoden und verwendeten Werkzeugen.

 

Der Gedanke basiert auf der Prämisse, dass wissenschaftliche Erkenntnisse als globales Gemeingut betrachtet werden sollten, um maximalen gesellschaftlichen Nutzen zu generieren.

 

Ist Open Science auf dem Weg, zum Prinzip für

gute wissenschaftliche Praxis zu werden?

 

Die wachsende Bedeutung von Open Science spiegelt sich in der verstärkten Aufforderung zu mehr Transparenz und Nachvollziehbarkeit in der wissenschaftlichen Praxis etwa durch die Europäische Kommission und nationale Forschungsfördereinrichtungen wider.

 

Allerdings ist der Grad der Annahme in verschiedenen Disziplinen unterschiedlich. In vielen Fällen ist Open Science noch ein marginales Phänomen, aber der Trend bewegt sich in Richtung eines neuen Standards für gute wissenschaftliche Praxis.

 

Neue Forschungsbewertung
als Katalysator

 

Im Januar 2022 wurde die Initiative "Coalition on the Advancement of Research Assessment (CoARA)" gestartet. Diese Initiative der Europäischen Kommission und der EU-Mitgliedsstaaten zählt zu den 20 Schlüsselinitiativen der neuesten Agenda zur Weiterentwicklung des Europäischen Forschungsraums, die im vergangenen Jahr verabschiedet wurde. Sie zielt darauf ab, den Forschungsbewertungsprozess durch ein spezielles Abkommen, das Agreement On Reforming Research Assessment, zu reformieren, welches auf zehn grundlegenden Verpflichtungen beruht.

 

Zu diesen Verpflichtungen gehört beispielsweise, mehr auf Qualität als auf quantitative Indikatoren (wie Zitationshäufigkeit) zu setzen und Beiträge anzuerkennen, die das Wissen und die (potenziellen) Auswirkungen der Forschung voranbringen. Das CoARA-Abkommen wurde in Zusammenarbeit mit europäischen Wissenschaftler:innen, nationalen Förderorganisationen wie der DFG und europäischen Dachverbänden wie Science Europe und der European University Association erstellt. Im Zuge des Entstehungsprozesses wurden vier Workshops organisiert, die jeweils zwischen 300 und 400 Teilnehmer:innen aus der Wissenschaftsgemeinschaft versammelten.

 

Wer treibt hier 

eigentlich wen?

 

Die aktuell laufende Reform der Forschungsbewertung und die ebenfalls wissenschaftsgetriebene Open-Science-Bewegung haben ähnliche Ziele: Sie zielen auf eine Kultur der Offenheit, Transparenz und Diversität. Forschungsbewertung ist ein Critical Incentive Driver für Wissenschaftler:innen und kann die Open-Science-Bewegung erheblich beeinflussen. Daher sollten beide Initiativen gemeinsam gedacht und aktiv verfolgt werden, um Synergien zu nutzen. 

 

Es gibt unterschiedliche Meinungen darüber, welche Initiative die andere antreibt. Manche sehen die Open-Science-Bewegung als Impulsgeber für Reformen im Bereich der Forschungsbewertung, während andere argumentieren, dass ohne eine grundlegende Reform der Forschungsbewertung Open Science nicht den gewünschten Umfang erreichen kann. Letztlich sind beide Bewegungen stark miteinander verflochten und wirken synergetisch.

 

Implikationen für die
Nachwuchsforschenden

 

Die Transformation in Richtung einer diverseren Forschungsbewertung und Open Science birgt das Potenzial, die Karrierewege für Nachwuchsforschende grundlegend zu verändern. Es sind nicht nur die konkreten Outputs, die zur Diskussion stehen, sondern auch die Mechanismen und Kriterien, die zur Bewertung und Gewichtung dieser Outputs herangezogen werden. In dieser Umbruchphase sind junge Forschende konfrontiert mit einer komplexen Entscheidungsfrage: Investieren sie weiter in traditionelle Publikationswege – oder diversifizieren sie ihren wissenschaftlichen Output, etwa durch die Publikation von Forschungsdaten, Forschungssoftware, Policy-Empfehlungen oder erfolgreichem Wissenstransfer?

 

Dieser Paradigmenwechsel stellt das etablierte Verständnis von wissenschaftlicher "Qualität" und "Exzellenz" grundlegend in Frage, was bei einigen Forschenden zu einer kritischen Haltung gegenüber den Reformen führt. Auf institutioneller Ebene obliegt es den etablierten Senior Scientists, einen Übergang zu orchestrieren, der die Karrierepfade junger Forschender nicht kompromittiert und First Mover diesem Bereich nicht benachteiligt. Wissenschaftspolitische Entscheidungsträger, sprich: die Wissenschaftsgovernance, innerhalb der Reforminitiativen spielen dabei ebenfalls eine kritische Rolle.

 

Darüber hinaus muss gewährleistet werden, dass sowohl etablierte als auch aufstrebende Wissenschaftler:innen adäquat in den Reformprozessen repräsentiert sind. Sie müssen gemeinsam neue Messmethoden für neue Forschungsbewertungen entwickeln und sich insbesondere über die Wichtungen der diversen Forschungsbewertungs-Indikatoren unterhalten. Im Zentrum aller Diskussionen steht der kollektive Wunsch, dass die Kriterien für die Forschungsbewertung mit den Attributen und Werten korrespondieren, die sowohl die akademische Gemeinschaft als auch Gesellschaft, Politik und Wirtschaft von Forschenden erwarten und schätzen.

 

Der Kulturwandel: Ein notwendiger Pfeiler

für Open Science und Forschungsbewertung

 

Open Science und die Reform der Forschungsbewertung verfolgen ein gemeinsames Ziel: den Aufbau einer wissenschaftlichen Kultur, die auf Offenheit, Transparenz und Diversität fußt. Sowohl die EU als auch nationale Förderprogramme definieren Open Science als unabdingbaren "modus operandi" für moderne Forschung. Mit dem Ergebnis, dass Wissenschaftler:innen aller Disziplinen zumindest theoretisch mit den Prinzipien von Open Science vertraut sein sollten.

 

Die eigentliche Frage aber lautet: Werden diese Prinzipien auch in der täglichen Forschungsarbeit umgesetzt? An dieser Stelle rückt der Kulturwandel in den Fokus. Es ist unerlässlich, sich der Grenzen traditioneller Messgrößen bewusst zu werden und die Notwendigkeit einer Veränderung zu erkennen. Eine diverser aufgestellte Bewertung würde bislang weniger beachtete Beiträge zur Wissenschaft besser einschließen: vom Teilen von Daten oder Code über die Qualität der Lehre und den Wissenstransfer bis hin zur Wissenschaftskommunikation und der Nachwuchsförderung. Das Ergebnis wäre ein ganzheitlicheres Bild des wissenschaftlichen Fortschritts.  

 

Es ist daher unabdingbar, einen Konsens darüber zu erreichen, welche wissenschaftlichen Beiträge als relevant gelten und welche Bewertungskriterien dafür herangezogen werden sollten. Wichtig ist zudem, in der Diskussion zu klären, wie und von wem diese vielen Bewertungskriterien überprüft werden. Hier, so einige Kritikerstimmen, könnte ein zusätzlicher und kaum zu bewältigender Aufwand in Begutachtungsprozessen entstehen.

 

Die Idee eines "one size fits all" ist in diesem Zusammenhang nicht anwendbar. Erst wenn die neu definierten Bewertungskriterien in Entscheidungen von Tenure Committees und anderen Evaluierungsgremien einfließen, wird der Kulturwandel tatsächlich Realität. Bis dahin besteht die Herausforderung darin, den bestehenden Enthusiasmus und Optimismus, aber auch die Bedenken, in greifbare Lösungen umzuwandeln.

 

Wie in der Open-Science-Bewegung ist auch hier der Prozess genauso wichtig wie das Endziel. Es geht nicht nur darum, eine endgültige Kriterienliste zu erstellen, sondern vielmehr darum, eine Richtung einzuschlagen, die mit den wissenschaftlichen Werten im Einklang steht. Wie eine junge Forscherin treffend bemerkte: "Der Ball rollt langsam in Bezug auf die Forschungsbewertung. Was Open Science dazu beitragen kann, ist ein bisschen mehr Aktivismus!"

 

Klaus Tochtermann ist Direktor der ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft und Vorstandsmitglied der European Open Science Cloud Association. Doreen Siegfried ist Kommunikationsmanagerin und arbeitet als Abteilungsleitung Marketing & Public Relations an der ZBW.


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