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Der Und-Trotzdem-Reformgeist

Das Deutsche Schulbarometer ist eine repräsentative Befragung der deutschen Lehrerschaft. Die heute veröffentlichten Antworten stecken voller Problembeschreibungen – und erstaunlicher Mutmacher.

Bild: Screenshot von der Website des Deutschen Schulportals.

DIE SCHLECHTE NACHRICHT: Deutschlands Lehrkräfte beobachten eine Zunahme der Kinderarmut quer durch alle Bevölkerungsschichten, sie berichten von Konzentrationsproblemen unter ihren Schülern, von aggressivem Verhalten und von Ängsten. Gute Nachrichten gibt es auch: Die Aggressionen bei den Schülern nehmen insgesamt ab, der Schulabsentismus ebenfalls. Und zwei Drittel der deutschen Pädagogen sind laut deutschem Schulbarometer bereit, zugunsten ihrer Schüler ihre Stundenzahl aufzustocken. Im Gegenzug verlangen sie Reformen an ihren Schulen.

 

1.032 Lehrkräfte an allgemein- und berufsbildenden Schulen in Deutschland hat das Meinungsinstitut "Forsa" im Auftrag der Robert-Bosch-Stiftung befragt, das seit 2019 regelmäßig erhobene "Deutsche Schulbarometer" liefert so ein repräsentatives Stimmungsbild der deutschen Lehrerschaft. Die jetzt auf dem Deutschen Schulportal veröffentlichten Daten stammen aus dem Juni.

 

Die wichtigsten Ergebnisse

 

- Mehr Kinderarmut: 37 Prozent der Lehrkräfte antworten, dass ihre Schüler:innen häufiger als im vergangenen Schuljahr 2021/22 mit unzureichendem Schulmaterial im Unterricht auftauchen. An Schulen mit sozial schwierigem Umfeld sagen das sogar 64 Prozent. 33 Prozent berichten, dass sie Sorgen ihrer Schüler:innen um die finanzielle Situation ihrer Familien wahrnehmen. 30 Prozent haben Schüler:innen, die häufiger ohne Frühstück zur Schule kommen. Die Liste ähnlich gelagerter Beispiele reicht von Jugendlichen, die seltener außerschulische Lernorte wie Musikschule oder Sportvereine besuchen, bis hin zu mehr Schüler:innen, die nicht an Klassenfahrten teilnehmen. Und an sogenannten Brennpunkt-Schulen stellt sich die von den Lehrkräften wahrgenommene Problemlage stets als noch deutlich dramatischer dar.

 

- Licht und Schatten:Wie schon im Vorjahr sagen vier von fünf Lehrkräften, dass ihr Schüler Probleme haben, sich zu konzentrieren, 79 Prozent der Lehrkräfte erleben einen übermäßigen Online-Gebrauch. Rückgänge im Vergleich zum Vorjahr gibt es immerhin bei den Motivationsproblemen (von 80 Prozent runter auf 70), deutlich seltener berichten die Lehrkräfte von aggressivem Verhalten (27 statt 42 Prozent) und von Schulabsentismus (15 statt 36 Prozent). Weil zumindest an dieser Stelle der Nachhall der Corona-Krise nachgelassen hat? Weil die Schulen sich besser auf diese Herausforderungen eingestellt haben?

 

- Apropos darauf einstellen: Zwei Drittel der Lehrerinnen und zwei Drittel der Männer können sich laut Umfrage vorstellen, ihr Stundendeputat aufzustocken. Allerdings nur unter bestimmten Umständen, dazu gleich mehr. Auch zeigen sich die Lehrkräfte offen, neue Lerntechnologien zugunsten ihrer Schüler einzusetzen: 77 Prozent befürworten die Nutzung von adaptiven Lern-Apps; 54 Prozent sehen eine digitale Unterstützung als Schritt hin zu inklusiverem Unterricht. Gleichzeitig beklagt jede zwei Lehrkraft, dass zu wenig qualitativ hochwertige Inhalte verfügbar seien und der Fortbildungsbedarf so hoch sei, dass dies die Entwicklung bremse. Erfreulich, in Zeiten des Digitalpakts allerdings immer noch zu wenig: 59 Prozent der Lehrkräfte bezeichnen die Internetverbindung ihrer Schule inzwischen als ausreichend stark – im Vergleich zu 36 Prozent 2020.

 

- Was helfen würde: Derzeit arbeiten laut Umfrage 46 Prozent der Frauen in Teilzeit und 21 Prozent der Männer. Als Voraussetzung für eine Aufstockung nennen 73 Prozent, dass es einen Wechsel weg vom Deputats- hin zum Arbeitszeitmodell geben müsse, in dem auch nicht unterrichtliche Tätigkeiten erfasst würden. Tatsächlich wird derzeit eine Arbeitszeiterfassung auch für Lehrkräfte diskutiert, die Kultusministerkonferenz lehnt sie allerdings ab – mit dem Argument, die derzeitige Flexibilität mache die Attraktivität des Lehrerberufs mit aus. Die meisten vom Schulbarometer Befragten scheinen dies jedoch anders zu sehen. 69 Prozent fordern zudem weniger Dokumentation und fachfremde Aufgaben. Ebenfalls 69 Prozent sagen, sie würden mehr unterrichten, wenn sie das ohne Überstunden schaffen würden. 

 

- Die Schulen allein können es nicht lösen: Die Umfrage zeigt, dass der Weg zu weniger Teilzeit auch über die Lösung eines gesamtgesellschaftlichen Betreuungsproblems führt. 44 Prozent der Lehrerinnen sagen, Voraussetzung für eine Aufstockung seien weniger Care-Aufgaben in der eigenen Familie, 26 Prozent halten es für notwendig, dass sich zunächst die Betreuungssituation ihrer eigenen Kinder verbessert. 

 

- Was die Lehrkräfte sich noch zu ihrer Entlastung wünschen: den Einsatz von externen Vertretungslehrern mit Fachexpertise bei kurz- und langfristigen Arbeitsausfällen (das sagen 82 Prozent), was allerdings in Zeiten des Lehrkräftemangels in vielen Regionen auf absehbare Zeit kaum realisierbar scheint. Außerdem unter anderem die Bereitstellung von mehr Lernräumen (75 Prozent) und von qualitativ höherwertigen Lehrmaterialien (72 Prozent) für einen differenzierten Unterricht, gut die Hälfte wünschen sich mehr Entscheidungsfreiheit bei Leistungsbewertungen (59 Prozent) und Umsetzung des Lehrplans (56 Prozent) sowie den Zugang zu offenen und frei verfügbaren Bildungsmaterialien (OER, 52 Prozent). 

 

Von Aufstecken keine Spur

 

In der Gesamtschau bezeichnen 34 Prozent der Lehrkräfte das Verhalten ihrer Schüler als ihre größte berufliche Herausforderung, 31 Prozent nennen die eigene Arbeitsbelastung und den Zeitmangel. Mit weitem Abstand folgen der allgemeine Lehrkräftemangel, die Bildungspolitik, die Bürokratie und die Eltern ihrer Schüler. 

 

Auffällig ist, dass an Schulen in sozial benachteiligter Lage deutlich mehr Lehrkräfte die schlechte technische Ausstattung kritisieren als im Durchschnitt (61versus 50 Prozent), dasselbe gilt für die technische Ausstattung der Schüler zu Hause (70 versus 50 Prozent). An Förderschulen wird der Investitionsstau dem Schulbarometer zufolge am höchsten eingeschätzt. 

 

Die Probleme in den Schulen, wie die Lehrkräfte sie erleben, sind also groß. Aber von Aufstecken kaum eine Spur. Im Gegenteil: Aus vielen Ergebnissen des Deutschen Schulbarometers spricht ein erstaunlicher Und-Trotzdem-Reformgeist, der zuversichtlich stimmt. Verheizen lassen wollen sich die Pädagogen nicht. Aber für ihre Schülerinnen und Schüler sind sie bereit, ziemlich weit zu gehen. Von neuen Arbeitszeitmodellen über digitale Lehrmittel bis hin zu mehr passenden Fortbildungen: Die Politik muss ihnen nur den Weg bereiten. 



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