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"ChatGPT war der Gamechanger"

In Rekordzeit verändert KI den Schulunterricht, aber wer behält den Überblick? Ein Gespräch über wahre Durchbrüche, zweifelhafte Narrative – und Lehrerkollegien, die auf sich allein gestellt sind.

Herr Chammon, Herr Seitz, hätten Sie sich im Sommer 2022 vorstellen können, welche Fortschritte die Künstliche Intelligenz (KI) innerhalb eines Jahres machen würde?

 

Jacob Chammon: Das Thema war natürlich auch im Sommer 2022 schon da, aber irgendwie abstrakt. ChatGPT hat es auf einen Schlag greifbar gemacht. Was uns, glaube ich, dann alle überrascht hat, war das Tempo, mit der KI-Anwendungen auch in den Schulen Einzug gehalten haben. Wie überaus positiv die Lehrkräfte reagiert – und wie begeistert sich die Schüler die neue Technik angeeignet haben. ChatGPT war der Gamechanger, eindeutig.  

Jacob Chammon ist Geschäftsführer der Telekom-Stiftung. Am heutigen Mittwoch veröffentlicht die Stiftung eine neue Studie zu "Schule und KI", erarbeitet vom Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz und dem mmb-Institut. Die Studie soll "ein praxisorientierter Leitfaden" sein für den Umgang mit den neuen Technologien. Foto: Norbert Ittermann, Deutsche Telekom Stiftung.



 

Jürgen Seitz: Das konnte keiner vorhersehen, selbst die Entwickler von ChatGPT nicht. Vorher bestanden hohe Einstiegshürden in die Nutzung von Künstlicher Intelligenz, gerade in Europa, ausgelöst schon durch Datenschutz-Vorgaben, die selbst Forschungsprojekte fast zu einem Ding der Unmöglichkeit machten. Und dann war da plötzlich ein Tool, ein neuartiges Modell der KI-Sprachverarbeitung, das keine Eingabe persönlicher Daten erforderte, das einfach zur Verfügung stand, noch dazu gratis. Darum liegt für mich der eigentliche Durchbruch von ChatGPT in der erstmals massenhaften Verbreitung einer KI-Anwendung. Ein vermeintliches Nischenangebot entwickelte sich zum am schnellsten wachsenden Technologieprodukt der Welt. 

 

Womit die Erforschung von KI-Anwendungen im Schulalltag erst jetzt wirklich Sinn ergibt, Herr Seitz?

Jürgen Seitz forscht und lehrt zu Marketing, Medien und Digitaler Wirtschaft an der Hochschule der Medien Stuttgart. Mit Kollegen hat er im Rahmen des Forschungsprojekts AI Education (AIEDN) die Nutzung eines neuartigen KI-Assistenten im Schulunterricht getestet. Der gerade veröffentlichte Forschungsbericht fragt: "KI als Tutor der Zukunft? Foto: Serdar Dogan.


Seitz: Bis vergangenes Jahr haben wir hauptsächlich dazu geforscht, wie KI zum Gegenstand von Schulbildung werden kann. Was müssen Schülerinnen und Schüler wissen, um die Bedeutung dieser neuen Technologien einschätzen und verstehen zu können? Wie führen wir sie an KI-Anwendungen heran? Das hat sich komplett gedreht. Eine Umfrage unter unseren Studierenden hat ergeben, dass 100 Prozent von ihnen ChatGPT nutzen, hier müssen wir niemanden mehr an KI-Technologien heranführen. Auch die breite Öffentlichkeit ist nun einfacher zu begeistern. Schon das Ausprobieren von ChatGPT kann bei vielen Menschen diese Faszination wecken 


und vertiefen. Dieses Momentum ist ein großes Geschenk, plötzlich fordern Schüler, Studierende und Lehrkräfte die Nutzung ein, und wir können im Unterrichtsalltag erforschen, was wie gut funktioniert und was nicht.  

 

Die Telekom-Stiftung veröffentlicht heute einen Leitfaden zu "Schule und KI". Warum braucht es den, Herr Chammon?

 

Chammon: Tatsächlich ist es unsere zweite Publikation zu dem Thema. 2021 haben wir schon eine Studie bei denselben Partnern in Auftrag gegeben, dem Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI) und dem mmb Institut – Gesellschaft für Medien- und Kompetenzforschung. Wir hatten aber jetzt das dringende Gefühl, dass es ein Update braucht. Es geht um die Klärung ganz grundsätzlicher Fragen: Was für Formen von KI gibt es eigentlich? Das ist ein so schwammiger Sammelbegriff, dass wir immer aufpassen müssen, worüber wir gerade reden. Welchen Nutzen haben die unterschiedlichen Anwendungen? Wo liegen die Herausforderungen, die Gefahren? Was sind die Systeme und Technologien, deren Einsatz in den Schulen Sinn ergeben könnte? Wir halten es für total wichtig, dass Lehrkräfte und Schulleitungen hier den Überblick behalten. Oder ihn überhaupt erst bekommen. Immer anhand von konkreten Anwendungsbeispielen für den Unterricht und für die Schulverwaltung. Die Wahrheit ist doch: Momentan sind die Schulkollegien wieder mal auf sich allein gestellt. Es gibt bislang keinen bundesweiten rechtssicheren Rahmen. Den müsste die Politik stecken. 

 

Seitz: Genau an der Stelle setzt auch unser Forschungsprojekt an. Wir wollen herausfinden, wo die Potenziale von KI im Unterricht liegen. Es existiert dieses starke Narrativ, dass der Einsatz generativer KI-Anwendungen zu einem Kompetenzverlust bei den Lernenden führt. Die Lehrkräfte beschweren sich, dass ihre Schüler und Studierenden plötzlich Texte vorlegen, die frei sind von jedem Rechtschreibfehler. Weil diese Texte nicht mehr von ihnen selbst stammen, sondern von einer KI. Genau wie plötzlich angeblich überall die perfekten Mathelösungen auftauchen.

 

Nach dem Motto: Die Anwendung von Künstlicher Intelligenz macht nicht schlauer, sondern dümmer?

 

Seitz: Wofür es keine empirische, dafür aber viel anekdotische Evidenz gibt. Darum haben wir uns mit dem Unternehmen thingsTHINKING und dem Mathe-Youtuber Daniel Jung zusammengetan und den KI-Lernassistenten AIEDN kreiert, der Schüler bei der Lösung von Matheaufgaben unterstützt. Indem es anhand einer semantischen Suche sämtliche Videotutorials von Daniel Jung analysiert und den Schülern die jeweils passende Stelle präsentiert. Und nicht nur präsentiert, sondern die wesentlichen Lerninhalte aus dem Video zusammenfasst und ergänzende Lerninhalte empfiehlt. Die Schüler stellen der KI also per Texteingabe eine Frage, beschreiben das Problem, das sie haben, und die KI bietet ihnen genau die Hilfestellung an, die sie brauchen. Es gibt keine Einstiegshürde, das Tool stellen wir Schülern und Lehrern im Netz kostenlos zur Verfügung.

 

Und das funktioniert? 

 

Seitz: Technisch ja. Aber wir wollten ja wissen: Haben die Schüler langfristig etwas davon? Wir sind also an mehrere Schulen gegangen, Gymnasien und Realschulen, und haben die teilnehmenden 275 Schüler unterschiedlicher Altersstufen in zwei Gruppen eingeteilt. Die eine Gruppe durfte die Youtube-Videos von Daniel Jung nutzen, aber ohne KI, musste sie also selbst durchschauen. Die andere Gruppe hatte die Unterstützung durch den KI-Lernassistenten. 

 

"Es darf auf keinen Fall der Eindruck entstehen,

wir nähmen durch den Einsatz von KI

den Menschen aus dem Loop."

 

Das ist aber ja nun wenig überraschend, wenn die Schüler mit KI-Unterstützung die Matheaufgaben besser lösen. 

 

Seitz: Genau! Entscheidend war aber, dass wir nach zwei Wochen nochmal in die gleichen Schulen gegangen sind zu den gleichen Schülern und ihnen erneut Aufgaben gestellt haben. Diesmal mussten alle sie ohne Hilfsmittel lösen. Und siehe da: Wir konnten einen anhaltend positiven Lerneffekt bei den Schülern nachweisen, die vorher die KI-Unterstützung hatten. Gerade in der aktuellen Debatte finde ich das ein sehr schönes Ergebnis. Weil es zeigt, dass KI nicht nur ein Effizienztreiber ist, also das Bearbeiten von Problemen beschleunigt, sondern auch beim Lernen selbst helfen kann. 

 

Chammon: Das halte ich in dieser Erprobungsphase, in der wir uns gerade befinden, für besonders wichtig: dass wir Evidenz schaffen in der Zusammenarbeit zwischen der Schulpraxis und der Wissenschaft. Allerdings: So spannend das Ergebnis von Herrn Seitz ist, so erwartbar ist, dass es für Kinder und Jugendliche motivierender ist, eine Lern- oder Prüfungssituation mithilfe einer Technologie zu bewältigen als allein mit einem Buch. Die Frage, die sich mir stellt: Wie schaffen wir es, beim Einsatz neuer Technologien die Lehrkräfte mitzudenken, ihre Rolle und Professionalität? Es darf auf keinen Fall der Eindruck entstehen, wir nähmen durch den Einsatz von KI den Menschen aus dem Loop, als bräuchte es die Lehrkräfte nicht mehr. Im Gegenteil: Die Lehrkräfte müssen die Hoheit über die Didaktik behalten. Der Einsatz von KI in der Schule wird langfristig nur erfolgreich sein, wenn die Lehrkräfte sie als Partner sehen. In die Richtung zielt unser Leitfaden ab.

 

Seitz: In der Hinsicht kann ich Ihnen auch Positives berichten. Uns ist bei unserem Untersuchungsdesign nämlich ein Fehler unterlaufen: Die Matheaufgaben, die wir für die unteren Altersstufen ausgewählt hatten, waren zu schwer. Mit dem Ergebnis, dass der Lerneffekt durch die KI in diesen Klassen deutlich geringer ausfiel – einfach, weil die Schüler überfordert waren. Wer hat das gemerkt und korrigiert? Die Lehrkräfte. Sie waren in der Hinsicht viel besser als wir mit unserem System. Zugegeben, das war damals nur ein innerhalb von drei Monaten gebauter Prototyp, inzwischen funktioniert die Technologie besser. Aber das Beispiel zeigt, was passiert, wenn wir die Lehrkräfte, wie Sie sagen, aus dem Loop nehmen würden. An den Schulen, mit denen wir zusammengearbeitet haben, waren sie außerordentlich motiviert, zugewandt und kritisch. Sie wollen das Potenzial von KI nutzen und maximieren, sie machen Verbesserungsvorschläge, sie behaupten aber zugleich selbstbewusst ihre Rolle, sorgen für die didaktische Einbindung. 

 

"Es ist die Aufgabe der Wissenschaft, 

für die Lehrkräfte hilfreich zu sein."

 

Chammon: Darum ist es so wichtig, dass wir überall explizite Experimentierräume für neue Lerntechnologien schaffen. Wissenschaft und Praxis im Dialog, das ist auch der Claim der "Kompetenzzentren lernen:digital", die vergangene Woche gestartet sind. Solche Experimentierräume eröffnen einen klar definierten Rahmen, um Neues auszuprobieren, auf freiwilliger Basis, auch wenn manches scheitern wird. Und scheitern muss. Wenn die Lehrkräfte aber bei der Entwicklung neuer KI-Lerntechnologien mitgenommen werden, haben sie weniger Ängste. Und wenn Eltern das Gefühl haben, ihre Kinder helfen mit bei der Erprobung künftiger Unterrichtstechnologien, kommt gar nicht das Gerede von Versuchskaninchen auf. Dann sind Lehrkräfte und Schüler gleichermaßen Lernende, ein pädagogischer Doppeldecker sozusagen. 

 

Seitz: Es ist die Aufgabe der Wissenschaft, für die Lehrkräfte hilfreich zu sein. Wenn Studien mit Schulen durchgeführt werden und dabei am Ende nur ein Papier herauskommt, das drei Jahre später veröffentlicht wird, braucht man sich nicht zu wundern über die aufkommende Skepsis und die Fragen nach der Relevanz. Wir haben gegenüber den Schulen von Anfang an kommuniziert: Wir entwickeln mit eurer Hilfe ein Tool für die Praxis. Und am Ende könnt ihr es behalten und damit weiterarbeiten. Die Lehrkräfte wollen der Wissenschaft ja helfen, sie wollen einen Mehrwert für die Forschung. Vor allem aber wollen sie das Beste für ihre Schüler, das steht an erster Stelle, daran messen sie den Erfolg. Darum muss sich die Wissenschaft selbst radikal verändern, sich an den unmittelbaren Bedürfnissen in den Schulen orientieren, sonst wird sie nicht den Zugang bekommen, den sie gerade jetzt braucht.   

 

Was bedeutet das praktisch?

 

Seitz: Das bedeutet zum Beispiel, dass neue KI-Anwendungen einfach und selbsterklärend sein müssen. Das ist eine große Herausforderung. Sonst lassen sie sich aber nicht in den Schulbetrieb integrieren, und dann können sie noch so tolle Funktionen enthalten, dann werden sie nicht funktionieren. Weil die Lehrkräfte nicht jedes Mal die Zeit haben für aufwändige Schulungen. ChatGPT und Co haben das hervorragend vorgemacht. Wir sprechen also von wirklicher "Consumer Level Quality".

 

Chammon: Alles richtig. Und doch halte ich es für zentral, dass die Lehrkräfte die Anwendungen nicht nur sofort einsetzen können – sondern dass sie zugleich verstehen, welche Technologie dahintersteckt. Darum gehört zu den Handlungsempfehlungen, mit der wir als Stiftung den neuen Leitfaden begleiten, ein unbedingtes Plädoyer für eine kontinuierliche Fortbildung des gesamten Schulpersonals. Nicht nur der Lehrkräfte, sondern auch der Kolleginnen und Kollegen aus dem Ganztagsbereich und auf der Leitungsebene. Sie müssen nicht nur mit KI unterrichten können, sondern auch über KI. Das könnte auch ein Pflichtfach Informatik, das jetzt überall gefordert wird, nicht allein abdecken, das geht nur über die Breite aller Fächer und Fachkräfte. Aber natürlich können wir mit dem KI-Einsatz nicht warten, bis alle erstmal fortgebildet sind. Darum müssen wir den Lehrkräften jetzt den Mut zum Ausprobieren zusprechen. Damit sie ihre eigenen Erfahrungen machen. Und wie Herr Seitz sagt: Die Wissenschaft muss die Schulpraxis unterstützen in diesem disruptiven Veränderungsprozess.

 

Müssen wir an der Stelle auch über Geld reden?

 

Chammon: Unbedingt! Die Fortsetzung des Digitalpakts Schule muss kommen. Die Kommunen als Schulträger brauchen jetzt Planungssicherheit. Nur mit einer guten technologischen Infrastruktur kann das Lernen mit und über KI stattfinden. Mit einer Erklärfolie auf dem Overheadprojektor lernt man nichts über das Wesen von Künstlicher Intelligenz. Aber sehen Sie, ich bin von Haus aus Optimist, und auch wenn ich zugebe, dass ich angesichts der Haushaltskrise im Bund Anfang vergangener Woche erstmal geschockt war: Der Digitalpakt wird kommen. Bund und Länder sind sich seiner Bedeutung vollkommen bewusst. Das liegt auch an den vielen Wissenschaftler:innen und Praktiker:innen, die in den neuen "Kompetenzzentren lernen:digital" in 180 Teilprojekten zusammenwirken, viele davon zu KI-Anwendungen, und die eine unmissverständliche Botschaft Richtung Politik senden: Da muss mehr kommen. 

 

"Datenschützer von Bund und Ländern

müssen sich zusammensetzen und einen klaren Handlungsspielraum für die Schulen definieren."

 

Nur mehr Geld?

 

Chammon: Nein, auch ein klares Commitment zugunsten der Schulen. Ich habe es vorhin gesagt: Die Lehrkräfte und Schulleitungen werden beim Thema KI weitgehend alleingelassen. Die Datenschützer von Bund und Ländern müssen sich zusammensetzen und einen klaren Handlungsspielraum für die Schulen definieren. Einen einzigen, einheitlichen Rahmen und nicht 16 unterschiedliche. Und die Kultusministerien müssen den Lehrkräften Rechtssicherheit in ihrem Handeln schaffen. Das sage ich seit Jahren. Ich finde es irritierend, dass die Politik das nicht schon längst getan hat. 

 

Seitz: Und wenn jetzt auf europäischer Ebene der KI Act kommt, wird es noch kritischer, weil die Anforderungen, die er stellt, überhaupt nicht vom Ende, von den Anwendern her gedacht wurden. Wie soll denn eine Schule bewerten, welchem Risiko sie sich durch welche KI-Anwendung aussetzt? Am Ende besteht die Gefahr, dass es mit dem KI Act wie mit dem Datenschutz wird: Es gibt ganz viele Regeln, ganz viel Prozessverlangsamung, aber kaum einen realen Schutz. 

 

Chammon: Herzlich willkommen in Deutschland, kann ich da nur sagen. Wo die Bildungspolitik schulterzuckend sagt: Wir haben es probiert, aber der Datenschutz wollte nicht. Dieses Verantwortungsgeschiebe darf auf keinen Fall auch bei der KI passieren. Die Politik muss sich ihrer Verantwortung stellen. Die Schulen tun es ja auch. 


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