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"Knackpunkt ist die hohe Dosis"

Ein Viertel der Schüler lernt nicht richtig lesen. "Tutoring for All" will deshalb eine neue Methode der Leseförderung in Deutschland etablieren. Kann das funktionieren? Ein Interview mit dem Sozialunternehmer Ekkehard Thümler und der Erziehungswissenschaftlerin Ingrid Gogolin.

Ekkehard Thümler ist Senior Fellow am Centre for Social Investment (CSI) der Universität Heidelberg. Er arbeitete in verschiedenen Funktionen unter anderem für Joachim-Herz-Stiftung und die Bertelsmann-Stiftung. 2020 gründete er das gemeinnützige Startup "Tutoring for All". Ingrid Gogolin war über viele Jahre Professorin am Arbeitsbereich "Interkulturell und International Vergleichende Erziehungswissenschaft" der Universität Hamburg und forscht dort als Seniorprofessorin weiter. Fotos: Gerrit Meier/Scholzfoto.

Herr Thümler, 26 Prozent der deutschen Neuntklässler können schriftliche Texte nicht sinnerfassend verstehen, hat die jüngste PISA-Studie ergeben. 

 

Ekkehard Thümler: Und das Problem fängt in der Grundschule an. Jedes vierte Kind lernt nur sehr schlecht lesen. Wenn wir das ändern wollen, brauchen die Lehrkräfte Unterstützung und die Schulen neue Methoden. 

 

Mit Mitstreitern haben Sie "Tutoring for All" gegründet, was ist das? 

 

Thümler: Ein Sozialunternehmen, das die individuelle Förderung von Kindern in ganz kleinen Gruppen durch Tutorinnen und Tutoren fördern will. Außerhalb des regulären Unterrichts und mit Hilfe einer digitalen Tutoring-Plattform. 

 

Dahinter steht das sogenannte "High Impact Tutoring". Klingt nach Marketing.

 

Thümler: Das ist eine Methode aus den USA, die laut Forschung besonders hohe Effekte hat, vor allem bei der Stärkung sozial benachteiligter Kinder und deren Basiskompetenzen. In den USA und Großbritannien wird Tutoring deshalb auch mit großen nationalen Programmen gefördert. In Deutschland nennen wir unser Angebot "Lesen mit dem Turbo-Team". Knackpunkt ist die hohe Dosis. Tutoring mindestens dreimal die Woche, durchgeführt von geschulten Tutorinnen und Tutoren. Reale Menschen, die digitale Hilfsmittel einsetzen, auf der Grundlage eines wissenschaftlichen Konzepts. Aber das Persönliche, die menschliche Beziehung zwischen Kind und Tutor, steht im Vordergrund. Das ist der Unterschied zu rein virtuellen Tools, die deutlich weniger bringen. Hinzu kommt, dass es beim High Impact Tutoring ein Monitoring gibt, um zu prüfen, ob die gewünschten Effekte auch tatsächlich eintreten. 

 

"Wir konzentrieren uns auf einen Ansatz,
der relativ leicht umzusetzen ist und relativ schnell einen hohen Wirkungsgrad erzielt."

 

Ihr Glaube an die Methode muss groß sein. Immerhin haben Sie dafür die sichere Welt einer Bildungsstiftung verlassen, um in die Selbstständigkeit zu gehen. 

 

Thümler: Eigentlich hatten wir mehr vor. Wir wollten ein umfangreiches Schulentwicklungsprogramm nach Deutschland holen, "Success for All", bei dem das Tutoring nur ein Ausschnitt gewesen wäre. Aber dann kam Corona. Und uns wurde klar, dass für so große Projekte mit jahrelangem Vorlauf jetzt weder die Zeit noch das Geld da ist. Darum konzentrieren wir uns auf einen Ansatz, der relativ leicht umzusetzen ist und relativ schnell einen hohen Wirkungsgrad erzielt.

 

Was heißt "relativ schnell"?

 

Thümler: Mit dem Turbo-Team waren wir Ende 2023 an 22 Schulen bundesweit, im Januar kommen fünf weitere Standorte dazu. Das bedeutet, wir haben bislang etwa 1000 Kinder mit der Förderung erreicht. Dafür arbeiten wir meistens mit Organisationen und Vereinen zusammen, die ohnehin schon an den Schulen sindund oft auch eigene Tutorinnen und Tutoren mitbringen. In selteneren Fällen führen  Schulen unser Programms auch eigenständig durch. 

 

Frau Gogolin, Sie sind Senior-Professorin am Arbeitsbereich "Interkulturell und International Vergleichende Erziehungswissenschaft" der Universität Hamburg und begleiten "Tutoring for All" wissenschaftlich. Warum?

 

Ingrid Gogolin: Ekkehard Thümler und ich kennen uns seit etlichen Jahren. Wir haben gemeinsam versucht, "Success for All" aus den USA nach Deutschland zu bringen, nach meiner Überzeugung eines der besten Schulentwicklungskonzepte weltweit. Die wissenschaftliche Studienlage ist da sehr eindeutig: Konzepte, die verschiedene Akteure von innerhalb und außerhalb der Schule unter einer gemeinsamen Strategie vereinen, auf dieser Grundlage systematisch Maßnahmen ergreifen und deren Wirkung regelmäßig messen, haben durchgehend positive Effekte auf die Schülerleistungen. Und weil, wie Ekkehard eben erwähnte, nach Corona das ganz große Rad nicht mehr zu drehen war, haben wir gesagt: Fangen wir mit dem Tutoring an, also mit einem Element von "Success for All". Dieses Tutoring findet in enger Abstimmung mit den Lehrkräften und dem allgemeinen Unterricht statt. Einen wichtigen Erfolgsaspekt möchte ich hinzufügen: Es handelt sich nicht um allgemeine Leseförderung, sondern um das gezielte Arbeiten an individuellen Schwächen, die vorher bei einem Kind diagnostiziert worden sind. Wenn diese Schwächen beseitigt sind, endet auch die Förderung. Dadurch ist es möglich, sehr genau die Effekte zu messen.    

 

Das haben Sie getan.

 

Gogolin: Ja, in Form einer Pilotevaluation. Ich weiß, dass Ekkehard den Begriff nicht mag und mich zu vorsichtig findet mit meinen Aussagen. Aber als Wissenschaftlerin muss ich genau sein. Es handelt sich immer noch um eine relativ kleine Anzahl von Kindern, und für die Kontrollgruppe haben wir keine Zufallszuweisung der Kinder hinbekommen. Trotzdem, und das kann ich als Wissenschaftlerin wieder ohne Einschränkung sagen, sind wir von den Ergebnissen einigermaßen überrascht gewesen.

 

Sie haben zu Beginn und nach Abschluss des Turbo-Tutorings bei den Kindern vier Kompetenzbereiche untersucht: ihre basale Lesefertigkeit, ihr Wortverständnis, ihr Satzverständnis und ihr Textverständnis. Und Sie haben die Ergebnisse mit Schülern verglichen, die nicht an dem Programm teilgenommen haben.

 

Gogolin: Und damit man die Ergebnisse vergleichen kann, haben wir den Einfluss von Geschlecht, Klassenstufe, Erstsprache und sozioökonomischem Status der Familie statistisch kontrolliert. Unabhängig von der Lesekompetenz vor Beginn der Förderung zeigte sich in allen vier Bereichen ein Vorteil für die Kinder, die beim Tutoring dabei waren. Beim Satzverständnis und beim Textverständnis fiel der Unterschied so groß aus, dass er statistisch signifikant, also kein Zufallsergebnis ist. 

 

"Auch andere Leseförderprogramme haben überzeugende Geschichten von sich zu erzählen. Doch stellen sich nur die wenigsten einer wissenschaftlichen Evaluation."

 

Warum war das bei der basalen Lesefähigkeit und dem Wortverständnis anders?

 

Gogolin: Weil sich auch die Kinder der Kontrollgruppe in anderen an den Schulen bereits praktizierten Formen der Leseförderung befanden. Auch dies war also eine gute Förderung. Der Turbo-Team-Ansatz bringt aber zusätzlich auf der Ebene der komplexeren Leseleistungen erstaunliche Effekte, also genau da, wo die Stolperstellen liegen, die das Tutoring gezielt bearbeitet. Wichtig ist, dass dies in der Kombination eines digitalen Systems mit Tutorinnen und Tutoren passiert, die das Programm in ihrer Arbeit mit den Kindern zum Leben bringen. Darum bin ich optimistisch, dass wir bei einer größer angelegten Evaluation zu vergleichbaren Ergebnissen kämen. Dann müssten wir die Kinder allerdings auch über einen längeren Zeitraum verfolgen, um herauszufinden, ob der Lerneffekt von Dauer ist. 

 

Ist Ihnen das zu pessimistisch Herr Thümler?

 

Thümler: Ich würde nie mit einer Wissenschaftlerin schimpfen, weil sie wissenschaftlich vorgeht. Und Ingrid hat ja Recht: Auch andere Leseförderprogramme haben überzeugende Geschichten von sich zu erzählen. Doch stellen sich nur die wenigsten einer wissenschaftlichen Evaluation. 

 

Gogolin: Ich kenne keinen einzigen anderen Anbieter einer onlinebasierten Leseförderung, der das schon im Prozess der Entwicklung getan hat. 

 

Thümler: Das enthält ja auch ein immenses wirtschaftliches Risiko, wenn Sie gerade ein Unternehmen gegründet haben und als Person in Vorleistung gegangen sind. Was wäre passiert, wenn die wissenschaftliche Untersuchung nun belegt hätte, dass die Methode nicht funktioniert? 

 

Gogolin: Aber wir haben das Risiko offenen Auges auf uns genommen und sehen nun, dass die Richtung, in die das Programm geht, stimmt. Der Vorteil ist, dass die Ergebnisse unserer Prüfung sofort wieder in die Weiterentwicklung der Plattform einfließen können. 

 

Wie geht es jetzt weiter, Herr Thümler?

 

Thümler: Motiviert von der Evaluation wollen wir jetzt an weitere Schulen gehen und so viele Schülerinnen und Schüler erreichen, dass wir uns einer noch anspruchsvolleren wissenschaftlichen Studie stellen können. Unsere Botschaft lautet: Wir bringen ein fertiges Produkt mit, verknüpft mit dem Angebot, die vorhandenen Tutoren und Lehrkräfte zu schulen. Wir wollen es den Schulen so einfach wie möglich machen. 

 

"Wirtschaftlich ist das eine Wette,
das ist klar."

 

Das klingt, als wären die meisten Schulen sehr vorsichtig und zurückhaltend. Was kostet denn die Teilnahme?

 

Thümler: 2.500 Euro pro Schule und Jahr, unabhängig von der Zahl der teilnehmenden Schülerinnen und Schüler und Tutorinnen und Tutoren. Dafür können sie alle die digitale Plattform nutzen, sie bekommen die Schulungen und alle Unterstützung, die sie brauchen, um das Programm durchzuführen. Künftig wollen wir noch einen Schritt weitergehen und das Angebot machen, dass jemand von "Tutoring for All" vorbeikommt, wenn ein konkretes Anwendungsproblem zu lösen ist. 

 

Gogolin: Was eine große Rolle spielt, wie unsere Evaluation gezeigt hat: Es braucht nicht nur die einmalige Schulung von Tutorinnen und Tutoren, sondern ihre dauerhafte Begleitung. 

 

Und der ganze Aufwand für 2.500 Euro, Herr Thümler – das geht auf? 

 

Thümler: Die Kalkulation wird dann aufgehen, wenn wir eine ausreichend große Zahl von Schulen gewinnen können. Insofern ist es wirtschaftlich eine Wette, das ist klar.

 

Wo sind denn dann all die Schulen, die mitmachen wollen?

 

Thümler: Die meisten Schulen haben im Moment weder die Ressourcen noch die Kraft, sich erst auf einen jahrelangen Schulentwicklungsprozess einzulassen. Aber genau das ist das "Turbo-Team" nicht, die Schulen müssen sich zu nichts committen. Hinzu kommt: Viele Schulen haben bislang gar nicht das Budget für solche Extra-Aktivitäten, wenn sie es nicht durch Stiftungen oder andere Förderorganisationen finanziert bekommen. Das ändert sich hoffentlich durch das Startchancen-Programm von Bund und Ländern für Schulen in benachteiligten Lagen. "Lesen mit dem Turbo-Team" wird von diesem Programm ausdrücklich als empfehlenswerte Maßnahme genannt, das könnte eine große Chance auch für unser Vorhaben sein.

 

Gogolin: Es gibt auch eine emotionale Schwelle, die es zu überwinden gilt. Sehr viel Leseunterstützung, die es heute gibt, kommt von Ehrenamtlichen, die sich mit den Kindern unterhalten, ihnen etwas vorlesen. Das finde ich prima – aber: Jetzt kommen wir mit so einem systematischen Lernprozess, mit dialogischen, digital gestützten Verfahren und Monitoring-Tools. Das ist vielen Ehrenamtlichen fremd. Aber wir können hoffentlich klarmachen, dass wir die Angebote, die es gibt, nicht ersetzen wollen. Dass sie aber bei allem Bemühen noch nicht reichen, um den besonders gefährdeten Kindern ausreichend zu helfen. Wenn jetzt die Startchancen kommen und Ganztagsausbau an den Grundschulen voranschreitet, hoffen wir, dass diese systematische Perspektive stärker als bislang aufgegriffen wird. 



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Kommentare: 1
  • #1

    Hanna (Freitag, 09 Februar 2024 09:20)

    Im Artikel fehlt der Vergleich mit existierenden Lesefördermethoden. Es ist lobenswert, wenn kommerzielle Anbieter lernförderliche Software und effektive Tutoring-Programme entwickeln. - Aber: Wünschenswert wäre aus Gemeinwohlperspektive, wenn solche Programme als kostenloser OER-Content entwickelt würden. Hier rächt es sich, wenn in der Lehrkräftebildung aufgrund durchgängig hoher Lehrdeputate kaum Forschung und Entwicklung/Transfer möglich sind. Auch gibt es zu wenig Förderprogramme für die Entwicklung gemeinwohlorientierter Lernsoftware.

    Die Grundfrage ist aber: Weshalb werden die Schulen personell und finanziell nicht in die Lage versetzt, gute Leseförderung anzubieten? Die Lehrkräfte sind hierfür ausgebildet! Wirksame Leseförderung gibt es! Statt externe Tutor:innen für eine Kernaufgabe von Schule anzustellen, sollten Lernassistenzen angestellt werden, die die personell unterbesetzten Lehrkräfte darin unterstützen, die existierenden, wirksamen Leseförderungskonzepte und -methoden umzusetzen.