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"Vergleichen Sie das einmal mit den rigorosen Bestimmungen anderswo!"

Deutschland braucht mehr internationale Fachkräfte. Leisten die Hochschulen bereits, was sie können? Ein Interview mit Muriel Helbig und Andreas Zaby über politische Rahmenbedingungen, die öffentliche Willkommenskultur und die gesellschaftliche Verantwortung der HAWs.

Muriel Helbig ist seit 2014 Präsidentin der Technischen Hochschule Lübeck und ist seit 2020 Vizepräsidentin des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD). Andreas Zaby ist seit 2016 Präsident der HWR Berlin und ebenso lange Vorsitzender des HAW-Verbunds UAS7. Ende März verlässt er die HWR und wechselt zur Bundesagentur für Sprunginnovationen (SPRIND). Fotos: TH Lübeck/Oana Popa-Costea.

Frau Helbig, Herr Zaby, Deutschland zieht mehr internationale Studierende an denn je, die Zahl der Wissenschaftler aus dem Ausland liegt ebenfalls auf Rekordniveau. Die Hochschulen der Bundesrepublik sind also weltweit beliebt und offen wie nie?

 

Muriel Helbig: Natürlich bin ich als Vizepräsidentin des Deutschen Akademischen Austauschdiensts (DAAD) hocherfreut, dass Deutschland bei den Gastländern für internationale Studierende erstmals auf Platz drei liegt und mit Australien sogar ein englischsprachiges Land hinter sich gelassen hat. 

 

Andreas Zaby: Angesichts der herausragend guten rechtlichen und finanziellen Rahmenbedingungen für internationale Studierende ist es umgekehrt fast schon erstaunlich, dass nicht längst noch viel mehr zu uns kommen – und anschließend bei uns als Fachkräfte bleiben.

 

Wie meinen Sie das?

 

Zaby: Für Studierende aus Nicht-EU-Staaten gelten bei uns sehr liberale Regeln für den Arbeitsmarkt, und sie werden zum 1. März noch liberaler. Künftig dürfen internationale Studierende 140 Tage im Jahr arbeiten, was 50 Prozent Teilzeit entspricht, die Studierenden-Jobs an Hochschulen werden nicht einmal angerechnet. Und schon während sie einen Studienplatz suchen, dürfen sie sich für neun Monate in Deutschland aufhalten und bis zu 20 Stunden die Woche jobben. Nach dem Studienabschluss dürfen sie weitere 18 Monate in Deutschland bleiben, um sich um eine Festanstellung zu bewerben. Vergleichen Sie das einmal mit den rigorosen Bestimmungen in den USA oder anderswo! Und da haben wir noch gar nicht darüber gesprochen, dass bei uns keinerlei Studiengebühren anfallen, während Sie in Amerika, in Australien oder dem Vereinigten Königreich enorme Summen zahlen müssen. 

 

"Wir erliegen der Illusion,
dass unsere Hochschulen inzwischen
so kosmopolitisch seien, dass man überall mit Englisch durchkommen könne."

 

Vielleicht bieten die Hochschulen in diesen Ländern dafür den Studierenden mehr?

 

Zaby: Das Studium ist bei uns qualitativ auch sehr hochwertig. Doch wir vergessen manchmal, dass die Sprachbarriere immer noch eine große Rolle spielt. Wir erliegen der Illusion, dass unsere Hochschulen inzwischen so kosmopolitisch seien, dass man überall mit Englisch durchkommen könne. Tatsächlich aber ist es so, dass sie Ihren Alltag in Deutschland nur dann auf Dauer bewältigen, erfolgreich studieren und anschließend auf Jobsuche gehen, wenn Sie halbwegs Deutsch sprechen. 

 

Handelt es sich nur um eine Sprachbarriere, die verhindert, dass noch mehr junge hochqualifizierte Menschen nach Deutschland kommen? Bei Umfragen unter Expats landet die Bundesrepublik immer wieder auf den hinteren Plätzen. Besonders schlecht werden Willkommenskultur, Wohnen, digitale Infrastruktur, aber auch die Verwaltung bewertet.

 

Helbig: Wir müssen hier differenzieren. Die deutsche Wissenschaft, die deutschen Hochschulen haben einen enorm guten Ruf, und dass das Studium hier gebührenfrei ist, wollen viele, wenn sie es zum ersten Mal hören, gar nicht glauben. Außerdem gilt Deutschland als sicheres Land, ein Vorteil, den man nicht unterschätzen darf. Auch die fairen Arbeitsbedingungen und guten Löhne werden gelobt, da kommt ein ganzes Konglomerat an positiven Anziehungspunkten zusammen.

 

Aber?

 

Helbig: Es gibt einige Themen, die es uns schwer machen. Das Eine ist die Sprache. Das Andere ist, dass wir zwar rechtlich Vieles liberalisiert und sehr gute Voraussetzungen geschaffen haben, damit Menschen aus dem Ausland bei uns studieren können, dass wir bei der Umsetzung aber nicht überall hinterherkommen. Der Zeitraum der Visavergabe ist oftmals ein Thema, viele Ausländerbehörden sind personell unterbesetzt, und unsere Wirtschaftsstruktur besteht aus vielen kleinen und mittleren Unternehmen, die sich schwertun, internationale Studierende für Praktika zu betreuen oder später als Absolventen einzustellen. Erst recht, wenn sie nicht fließend Deutsch sprechen. Ich würde das aber nicht vorrangig als kulturelles Problem oder mangelnde Offenheit der Gesellschaft sehen.

 

Tatsächlich nicht? Studierende berichten online von frustrierenden und diskriminierenden Erfahrungen mit den Behörden, und dass in Deutschland Rechtsradikalismus und Antisemitismus im Aufstieg begriffen sind, wird international aufmerksam wahrgenommen. 

 

Zaby: Natürlich haben solche Entwicklungen Auswirkungen, das gilt in Frankreich und anderswo genauso, wenn dort rechtsextreme Parteien Wahlerfolge einfahren. Wir hören von deutschen Studierenden, die ins Ausland wollen, dass sie ihrerseits genau auf die politische Situation schauen. 

 

"Es frustriert mich sehr, dass bestimmte
Wahlergebnisse 
und politische Äußerungen
all die 
harte Arbeit, die wir leisten,
wieder kaputt machen." 

 

Helbig: Aber gerade in Deutschland mit unserer Geschichte haben wir die Aufgabe, jeden Tag für gesellschaftliche Offenheit einzutreten. Zudem, und jetzt rede ich als Präsidentin einer Technischen Hochschule: Es frustriert mich sehr, dass bestimmte Wahlergebnisse und politische Äußerungen all die harte Arbeit, die wir leisten, wieder kaputt machen. Da müssen wir uns dagegenstemmen. Die Hochschulen, Wirtschaftsverbände und viele andere tun das jetzt, und überall in Deutschland gehen die Menschen auf die Straße. Auch das, da bin ich mir sicher, wird im Ausland wahrgenommen.

 

Zaby: Wir müssen aber feststellen, dass wir im Vergleich zu klassischen Einwanderungsländern wie den USA oder Australien längst nicht so gut aufgestellt sind, wo die Einwanderung von Hochqualifizierten ganz klar priorisiert und gefördert wird. Unsere Konsulate und Ausländerbehörden müssen viel aktiver unterstützen, auch die Hochschulen müssen noch offener werden, ich möchte uns da gar nicht ausnehmen. Allerdings ist die Motivationslage einer amerikanischen Hochschulleitung schon deshalb eine andere, weil dort jeder Student und jede Studentin aus dem Ausland 30.000, 40.000 oder 50.000 Dollar pro Jahr bringt.

 

Bei der Tagung der Hochschulen für Angewandte Wissenschaften (HAW) in der Hochschulrektorenkonferenz haben Sie neulich zusammen in einem Workshop die These aufgestellt, dass HAWs besonders gut geeignet seien, um mehr internationale Fachkräfte nach Deutschland zu holen. Außer dass Sie beide eine HAW leiten, was macht Sie da so sicher? In Wirklichkeit gehen die allermeisten Studierenden aus dem Ausland an Universitäten. 

 

Helbig: Der Abstand ist nicht groß. An den HAWs sind es neun Prozent internationale Studierende mit Abschlussabsicht, an den Universitäten knapp 13 Prozent. 

 

Zaby: Und die Lücke schließt sich weiter. Der Fachkräftemangel ist in MINT-Berufen am größten. Gleichzeitig wollen internationale Studierende besonders häufig MINT-Fächer studieren, und HAWs bieten abseits der Naturwissenschaften besonders viele solcher Studiengänge an, vor allem in den Ingenieurwissenschaften und in der Informatik. Das können wir nutzen, indem wir noch deutlicher machen: An HAWs brechen weniger Menschen ihr Studium ab als an Universitäten, und gerade bei internationalen Studierenden sind die viel zu hohen Abbruchquoten ein drängendes Problem.

 

Ist die Abbrecherquote unter den internationalen Studierenden wirklich nachweislich geringer an den HAWs?

 

Zaby: Diese Daten liegen mir nicht vor. Ich denke aber, dass es eine valide Hypothese für eine empirische Untersuchung wäre, denn es gibt aus wissenschaftlichen Studien Hinweise darauf, dass einzelne Vorteile des typischen HAW-Studienmodells sich positiv auf den Studienerfolg bei deutschen und ausländischen Studierenden auswirken.  

 

Woran liegt das?

 

Zaby: Besonders internationale Studierende stehen immer in der Gefahr, in den Massen unterzugehen. Da hilft es, dass wir an den HAWs das Kleingruppen-Prinzip verfolgen und eine erhöhte Interaktion der Studierenden mit den Lehrenden ermöglichen. Hinzu kommt, dass HAWs in ihren Regionen oft sehr nah dran sind an den örtlichen Arbeitgebern, was den Übergang ihrer Absolventen in den Arbeitsmarkt erleichtert. Gerade duale Studiengänge sind sehr geeignet, mit den zwei Lernorten Hochschule und Betrieb vom ersten Tag an, diese können und sollten wir im Ausland stärker bewerben. Erste solche Initiativen der deutschen Wirtschaft und der Hochschulen gibt es bereits. 

 

"Die Schnittstelle zum Arbeitsmarkt
müssen wir gerade für internationale
Studierende weiter ausbauen."

 

Helbig: Unsere gesellschaftliche Verantwortung als Hochschulen besteht ja nicht nur darin, die Leute zu immatrikulieren, sondern ihnen dabei zu helfen, das für sie richtige Studium zu wählen und es dann auch zum Abschluss zu bringen. Und auch wenn sie ihr Abschlusszeugnis in der Hand halten, ist noch nicht Schluss. Die Schnittstelle zum Arbeitsmarkt, von der Andreas Zaby spricht, müssen wir gerade für internationale Studierende weiter ausbauen. 

 

Zaby: Dabei helfen uns zum Glück neue Programme des DAAD, indem sie die Karriereservices der Hochschulen speziell für internationale Studierende unterstützen, intensive Sprachtrainings finanzieren, solche Dinge, um sie für den Arbeitsmarkt fitzumachen.  

 

Helbig: Was mich sehr freut, ist die hohe Beteiligung an der DAAD "Campus-Initiative Internationale Fachkräfte", die offen ist für alle Hochschultypen. Ob Sie das neue Programm "FIT" – Förderung internationaler Talente zur Integration in Studium und Arbeitsmarkt nehmen oder "Profi plus“ – Akademische Anpassungsqualifizierung für den deutschen Arbeitsmarkt" – bei beiden Ausschreibungen haben die HAWs überproportional häufig mitgemacht. Und dann gibt es noch das Programm "HAW.International", das beispielsweise Auslandsaufenthalte von HAW-Studierenden finanziert und Hochschulen beim Ausbau ihrer Kooperationen mit ausländischen Partnern unterstützt, genau zugeschnitten auf die typische Praxisorientierung an HAWs. Dadurch werden die HAW insgesamt verändert, ihre Atmosphäre wird internationaler.

 

Sie sprechen von der gesellschaftlichen Verantwortung der Hochschulen, vom Wohlergehen der Studierenden und dem Schließen der Fachkräftelücke. Hand aufs Herz: Ganz so selbstlos ist das alles nicht, oder? Dass viele Hochschulen verschärft auf internationale Studierende schielen, liegt auch daran, dass die inländischen Studienanfänger weniger werden.

 

Zaby: Ich glaube schon, dass die Hochschulleitungen aus Überzeugung handeln. Das Hochschulbarometer von Stifterverband und Heinz-Nixdorf-Stiftung zeigt, dass überwältigende 99 Prozent der Rektorate und Präsidien über alle Hochschultypen hinweg sagen, dass sie die Bekämpfung des Fachkräftemangels als ihre Aufgabe ansehen. Als HAWs hören wir ja jeden Tag aus den KMUs, wie groß deren Not ist. Der limitierende Faktor fürs Wirtschaftswachstum sind die Menschen. Es gibt zu wenige, ob in der Industrie, in der Verwaltung oder in der Pflege. Auch wenn wir als Hochschule eine Professur ausschreiben, bekommen wir mitunter kaum noch Bewerbungen. Was ich aber nicht sehen kann: dass die Hochschulen jetzt einfach anfangen, blind ihre Studiengänge in den MINT-Fächern mit Menschen aus Nicht-EU-Ländern aufzufüllen. Sondern sie bemühen sich, ihre Studienangebote attraktiver zu gestalten, damit sich mehr junge Leute für sie entscheiden. Aus dem Inland und aus dem Ausland. 

 

Helbig: Alles Andere wäre überhaupt nicht zu verantworten. Das sind Individuen, junge und kompetente Menschen, über die wir hier sprechen. Wenn sie sich entscheiden, nach Deutschland zu kommen und nach dem Studium zu bleiben, ist das wunderbar. Sie sind eine Bereicherung für unseren Campus und für unsere Gesellschaft – und kein Mittel zum Zweck. 

 

Zugleich ist ihr Bleiben bei uns ein Verlust für ihre Heimatländer. Eine Frage, die in Zeiten des Fachkräftemangels kaum noch gestellt wird: Haben wir überhaupt das Recht, anderen Staaten ihre jungen Talente wegzufischen?

 

Zaby: Das ist eine uralte Frage. Wir sollten ihre Antwort nicht moralisieren, sondern eine utilitaristische Perspektive einnehmen: Wir machen Angebote zur Bildungsmigration, über die wir hier reden. Wir freuen uns, wenn sie von Studienanfängern aus dem Ausland angenommen werden und wenn diese nach ihrem Abschluss bleiben. Umgekehrt entscheiden sich viele Menschen auch zu einer Rückkehr, vielleicht nicht sofort, aber nach ein paar Jahren Berufserfahrung. Diese nehmen sie mit und werden zu wertvollen Brückenbauern zwischen Deutschland und ihren Heimatländern. 

 

Helbig: Es gibt Regionen und Länder auf der Welt, da haben selbst sehr gut Qualifizierte – beispielsweise aus den Bereichen Medizin oder Ingenieurswissenschaften – keine Aussicht auf einen Arbeitsplatz. Deren Regierungen sagen uns oftmals: Wir sind froh, wenn unsere jungen Leute für zehn oder 20 Jahre bei euch arbeiten können, und dann können wir sie wieder gut in unseren Arbeitsmarkt integrieren. 

 

"Die Menschen müssen sich bei uns
innerhalb und außerhalb ihres Studiums
wohl, angenommen und integriert fühlen."

 

Zaby: Bitter finde ich, wenn junge Menschen zu uns kommen, ihr gesamtes Studium bei uns absolvieren und dann in die USA gehen und dort einen Job annehmen. Das sollten wir als Lerngelegenheit verstehen, womit wir wieder am Anfang sind: Die Menschen müssen sich bei uns innerhalb und außerhalb ihres Studiums wohl, angenommen und integriert fühlen. 

 

Was wünschen Sie sich von der Politik?

 

Zaby: Die Integration von internationalen Studierenden ist eine Daueraufgabe. Wenn wir die Bildungsmigration stärken wollen als Weg, um den Fachkräftemangel zu lindern, dann können die Unterstützungsprogramme für die Hochschulen, so gut sie sind, nicht befristet sein. Sonst entstehen daraus in den Welcome Offices und Karriereservices keine nachhaltigen Strukturen. Zumal die neuen DAAD-Programme nicht so gut finanziert wurden seitens der Politik, wie die Hochschulen das gebraucht hätten – was schon die große Zahl der Förderanträge zeigt.

 

Helbig: Für einen gewichtigen Hinderungsgrund halte ich das studentische Wohnen. In Lübeck haben wir jetzt zum ersten Mal erlebt, dass Studierende aus dem Ausland, die bereits immatrikuliert waren, wieder gehen, weil sie keinen Platz zum Wohnen finden. Hier haben Hochschulen in anderen Ländern einen großen Wettbewerbsvorteil, wenn sie den Studienplatz gleich zusammen mit einem Wohnheimplatz anbieten können. Wenn wir Vergleichbares hätten, wäre das ein Game Changer. 

 

Zaby: In Berlin haben wir die geringste Wohnheimquote aller Bundesländer und einen Riesenzustrom ausländischer Studierender. Selbst die 5000 Wohnheimplätze, die der ehemalige Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit einst versprach, sind noch nicht gebaut worden, und ich sehe keine Besserung, wenn der eigentlich auf unserem Campus vorgesehene Wohnheimbau gerade aus dem Landesinvestitionsplan gestrichen wurde. Dafür entstehen umso mehr privatfinanzierte und entsprechend teure Studentenapartments. 

 

Helbig: Wir dürfen auch innerhalb der Hochschulen bestimmte Diskussionen nicht länger scheuen. Jetzt spreche ich wieder als TH-Präsidentin. Wir haben an den Hochschulen viele englischsprachige Studiengänge eingeführt, das ist gut so. Aber wenn wir es mit der Integration und der Begleitung in den Arbeitsmarkt ernst meinen, müssen wir das Erlernen der deutschen Sprache in den Curricula verbindlicher machen. Da drücken wir uns derzeit an vielen Stellen drumherum.  



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Kommentare: 1
  • #1

    Tobias Denskus (Freitag, 23 Februar 2024 09:44)

    Nach 10 Jahren an einer schwedischen Uni, die von HAW zu Uni hochgestuft wurde kenne ich diese Diskussionen quasi im Wortlaut-das ist also sicherlich kein deutsches Problem, sondern sehr repräsentativ fuer EU/Europa.