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Hilfe für heute statt Hype von morgen

Die KI-Methoden, um Schüler individuell zu fördern und
Lehrkräfte zu entlasten, existieren. Doch damit sie den Unterricht wirklich verändern können, muss die Politik die Kooperation von Wissenschaft, EdTech und Bildungspraxis systematisch unterstützen.
Ein Gastbeitrag von Detmar Meurers.

Detmar Meurers ist Professor für Computerlinguistik an der Universität Tübingen und leitet ab April die Arbeitsgruppe "Sprache und KI in der Bildung" am Leibniz-Institut für Wissensmedien (IWM).
 
Foto: IWM. 

KATHARINA GÜNTHER-WÜNSCH fasste es als KMK-Präsidentin Ende 2023 klar zusammen: "Die Ergebnisse der PISA-Studie 2022 sind besorgniserregend, sie bestätigen die Befunde der IGLU-Studie sowie der IQB-Bildungstrends 2021 und 2022. Eine zunehmend heterogene Schülerschaft stellt das Schulsystem und auch die Lehrkräfte vor enorme Herausforderungen. [....] Alle sind sich einig, dass es jetzt vor allem auf die Stärkung der Basiskompetenzen ankommt." 

 

Dass bei der Stärkung der Basiskompetenzen in einer heterogenen Schülerschaft digitale Systeme eine wichtige Rolle spielen können, liegt nach dem Strategiepapier "Bildung in der Digitalen Welt" nahe, in dem die KMK bereits 2017 festhielt: "Digitale Medien halten ein großes Potential zur Gestaltung neuer Lehr- und Lernprozesse bereit, wenn wir allein an die Möglichkeiten zur individuellen Förderung von Schülerinnen und Schülern denken."

 

Allerdings standen dann bei der Digitalisierung der Bildung in den vergangenen sechs Jahren vor allem die Hardwareausstattung und Internetverbindung von Schulen im Fokus sowie die medienpädagogische Vorbereitung auf eine zunehmend digitale Welt. Dieser Beitrag soll ein Weckruf sein, neben Visionen von Digitalität tatsächlich gezielt digitale Methoden zu entwickeln und systematisch zu nutzen, die konkret die eingangs identifizierten Herausforderungen der schulischen Bildung angehen. Hierfür bieten insbesondere adaptive intelligente Systeme in der Schulpraxis effektive Möglichkeiten zur individuellen Förderung der Lernenden und Unterstützung der Lehrkräfte. 

 

Heterogenität
ernst nehmen

 

Lernende unterscheiden sich substanziell nicht nur in ihrem fachlichen Wissen und ihren Kompetenzen, sondern auch in ihren bildungssprachlichen Fähigkeiten, kognitiven Eigenschaften, Interessen und Motivation und ihrem soziokulturellen Hintergrund. Um das Potenzial digitaler Medien zur adaptiven individuellen Förderung von Basiskompetenzen realisieren zu können, benötigt es das Zusammenspiel von Lehr-Lernforschung, Fachdidaktik und KI-Methoden (i) zur Modellierung der individuellen Lernenden und der curricularen Ziele und (ii) zur Erstellung und Auswahl von vielfältig parametrisierten Aufgaben für adaptive Lernpfade. Außerdem kommt es (iii) auf die automatische Verarbeitung von Sprache  an zur Analyse sprachlicher Komplexität und dem Generieren von Feedback.

 

Entgegen dem medialen Hype um KI als unspezifisches Wundermittel werden KI-Methoden hier also gezielt genutzt. Dabei können traditionelle und generative KI-Methoden integriert, weiterentwickelt und evaluiert werden, um adaptive individuelle Lernpfade im realen komplexen Schulkontext zu ermöglichen. Denn dieser ist von verschiedensten Lernvoraussetzungen, pädagogischen Möglichkeiten und expliziten curricularen Lernzielen geprägt.

 

Feedback und Lernpfade
im realen Schulkontext

 

Die Wirkung von individuellem Feedback während der Aufgabenbearbeitung haben wir anhand des von uns entwickelten Intelligenten Tutorsystems (ITS) FeedBook untersucht, das Übungen für die 7. Klasse Englisch mit KI-generiertem Feedback anbietet. Die Abbildung illustriert eine Rückmeldung des Systems zur Formulierung von Vergleichen, die erklärt, wie die relevanten Formen zu bilden sind. 

Solche Rückmeldungen müssen nicht pro Aufgabe hinterlegt werden, sondern ergeben sich dank der KI-Methoden aus den allgemeinen Regularitäten der Sprache und dem pädagogischen Modell. Ob solches Feedback während der Aufgabenbearbeitung auch im regulären Schulkontext wirkt, haben wir in der ersten randomisierten Feldstudie mit einem ITS in deutschen Schulen untersucht. Das System wurde von allen genutzt, jedoch erhielten die in zwei Gruppen unterteilten Lernenden zu unterschiedlichen sprachlichen Mitteln – etwa zum Einsatz von Nebensätzen, Vergleichen oder Konditionalsätzen – spezifisches Feedback vom System. Der Lernerfolg bei den sprachlichen Mitteln, zu denen sie Feedback erhielten, war in den ansonsten wie üblich unterrichten Klassen um 63 Prozent höher. 

 

Solche adaptiven Systeme können also Lehrkräfte von Routineaufgaben entlasten und der Heterogenität durch die adaptive individuelle Vorbereitung so begegnen, dass die Lernenden besser am gemeinsamen Unterricht teilhaben können – wie bei einem Orchester, bei dem jede und jeder individuell entsprechend den Fähigkeiten geübt hat, sodass bei den Proben und im Konzert der Fokus auf dem Zusammenspiel liegen kann. Die effektive Integration des individuellen Übens und des gemeinsamen Unterrichts haben wir in einer weiteren Feldstudie mit der "Interact4School" genannten Weiterentwicklung unseres ITS-Systems FeedBook untersucht und konnten zeigen, dass eine explizite Motivation des Übens als Vorbereitung für kommunikative Aufgaben in der Klasse den Lernerfolg weiter stärkt. 

 

Weniger unter Druck, zufriedener
mit der eigenen Leistung

 

Um die Idee von adaptiven Lernpfaden konkret zu machen, sehen wir uns eine Umsetzung im deutschen Schulkontext an, die wir gemeinsam mit der Universität Lüneburg und dem IÖB Oldenburg in dem von der Joachim Herz Stiftung geförderten ALEE-Projekt entwickelt und in einer gerade abgeschlossenen randomisierten Feldstudie in zehn Schulen in drei Bundesländern im regulären Unterricht untersucht haben. Hierfür haben wir systematisch Lernaufgaben unterschiedlicher fachlicher, sprachlicher, kognitiver Komplexität für das in den Bildungsplänen verankerte Thema "Markt und Preisbildung" entwickelt und in einer digitalen Plattform bereitgestellt. Die Hälfte jeder Klasse erhielt Aufgaben nach einer festen Liste, wie sie üblicherweise von Lehrkräften festgelegt wird; die Aufgaben für die andere Klassenhälfte wurden vom System individuell adaptiv ausgewählt. Die Abbildung links zeigt die Lösungswahrscheinlichkeiten für den Standardpfad und rechts zwei individuelle Pfade durch die vielfältig parametrisierte Aufgabenlandschaft.

Trotz der sehr unterschiedlich langen Lernpfade empfand die adaptive Gruppe das Lernen einer ersten Auswertung zufolge als interessanter, die Lernenden fühlen sich weniger unter Druck, waren mit der eigenen Leistung zufriedener und kamen weiter im Lernstoff. Ein solcher Ansatz kann also gerade die zentrale Herausforderung adressieren, für eine heterogene Gruppe die grundlegenden Kenntnisse sicherzustellen, auf denen dann die gemeinsame Arbeit in der Klasse aufbauen kann. 

 

Zusammenfassend kann die gezielte Entwicklung und der systematische Einsatz adaptiver digitaler Werkzeuge konkrete Lösungen bieten für die Stärkung grundlegender Kompetenzen einer zunehmend heterogenen Schülerschaft. Für eine erfolgreiche Implementierung und kontinuierliche Verbesserung sollte die Politik Ansätze unterstützen, die die Verbindung zwischen Wissenschaft, Unternehmen und Bildungspraxis stärken. Zugleich sollte sie eine Finanzierung adaptiver Bildungsmedien sicherstellen und die Nutzung von Bildungsdaten für adaptive Lernförderung und dadurch eine verbesserte Bildungsgerechtigkeit ermöglichen.

 

Der Gastbeitrag von Detmar Meurers basiert auf dem ebenfalls von ihm verfassten Text "KI-Methoden für konkrete Herausforderungen in der Bildung“, der heute in der Reihe "Analysen & Argumente" der Konrad-Adenauer-Stiftung erscheint.



In eigener Sache: Es geht so nicht mehr

Dieser Blog hat sich zu einer einschlägigen Adresse der Berichterstattung über die bundesweite Bildungs- und Wissenschaftspolitik entwickelt. Doch wirtschaftlich steht die Idee seiner freien Zugänglichkeit vor dem Scheitern. 


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