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Die Reform wirkt noch

Studierende brauchen wieder etwas länger bis zum Abschluss. Trotzdem bleiben durchschnittliche Studiendauer und Alter der Hochschulabsolventen meilenweit unterhalb der Vor-Bologna-Zeiten.

Hörsaal der Universität Heidelberg. Foto: Tyr-asd, CC BY 4.0, via Wikimedia Commons.

WAS WAR DAS für eine Aufregung vor 15, 20 Jahren, als in Deutschland ein Diplom- und Magister-Studiengang nach dem anderen durch Bachelor und Master abgelöst wurde. Schmalspur! Verschulung! Ökonomisierung! Ein bisschen narzisstische Kränkung dürfte hier und da auch dabei gewesen sein, schließlich gab die Bundesrepublik mit dem Übergang zu den international gängigen gestuften Abschlüssen einen mitteleuropäischen Sonderweg auf. 

 

Tatsächlich war der Wandel weitreichend: Bis zur sogenannten Bologna-Reform war es vor allem in den Geisteswissenschaften üblich, den Studenten im Namen der wissenschaftlichen Freiheit kaum Vorschriften bei der Gestaltung ihres Studiums zu machen und sie im Extremfall bis zum Examen mit abschlussrelevanten Prüfungen zu verschonen. Während die Bachelor- und Masterprogramme häufig sehr detaillierte Curricula haben und es von Anfang an Kreditpunkte und Bewertungen gibt, die sich auf die Abschlussnote auswirken. 

 

Die Aufregung von damals, statt Inhalten und Reflexion gehe es jetzt um die stupide Jagd nach Credits, liegt den meisten Studierenden von heute fern. Sie kennen es halt nicht anders, mögen manche Altvordere mitleidig sagen. Vielleicht haben viele aber auch einfach andere Probleme. Die Finanzierung ihres Studiums zum Beispiel. 

 

Zur Einordnung der Reform aus heutiger Sicht hilft es, sich die Zeit davor in Erinnerung zu rufen. Vor zwei Jahrzehnten gab es weniger belastbares statistisches Material als heute, doch hatte der Wissenschaftsrat 2001 in einer wahren Fleißarbeit über 200 universitäre Studiengänge auf ihre tatsächliche Studiendauer ausgewertet. Ergebnis: In nur elf von 132 untersuchten Magister- und Diplom-Studiengängen schafften mehr als 30 Prozent der Studierenden den Abschluss in der offiziellen Regelstudienzeit, und selbst diese Zahl war noch ins Positive verzerrt. Denn sieben dieser elf Programme wurden an den – in der Regel anders strukturierten – künstlerischen Hochschulen angeboten. 

 

Mitte der 90er Jahre war der
durchschnittliche Uniabsolvent über 30

 

Umgekehrt betrug in 15 Studiengängen der Anteil der –  je nach Sichtweise selbstbestimmten oder orientierungslosen – Absolventen in der Regelstudienzeit: null Prozent. Und im Durchschnitt dauerte das Studium so lange, dass laut Statistischem Bundesamt 2002 der typische Uniabsolvent 28,9 Jahre zählte. Übrigens schon ein Fortschritt gegenüber 1996, da war er über 30. Fairerweise muss man sagen, dass der Vergleich zu heute etwas hinkt, weil die früher im Westen üblichen 13 Jahre bis zum Abi zwischenzeitlich zum Teil auf zwölf Jahre sanken und die Wehrpflicht ausgesetzt wurde. 

 

Doch kann das nur den kleineren Teil des riesigen Abstands zu heute erklären: 2022 lag das mittlere Alter beim Uni-Masterabschluss bei 26,1 Jahren. Und 31 Prozent schafften die Regelstudienzeit – über alle Programme und Hochschulformen hinweg allerdings. Ja, 2015 waren es sogar 37 Prozent, wie neulich die FAZ zu Recht anmerkte. Doch kann man den Anstieg der durchschnittlichen realen Studiendauer bis zum Erstabschluss zwischen 2015 und 2022 mit 0,3 auf 8,1 Semester als kaum mehr als homöopathisch bezeichnen. Und er dürfte vor allem damit zu tun haben, dass über die Jahre alle ein wenig entspannter geworden sind mit den einst neuen Studiengängen, auch dank mancher Lockerung nach studentischen Protesten, und Profs wie Studierende die sehr wohl vorhandenen Freiräume nutzen. Wie sich Corona und die Inflationskrise ausgewirkt haben, wird so richtig allerdings erst in den Statistiken der nächsten Jahre zu sehen sein. 

 

Unterdessen ließe sich lange und komplex über die Frage streiten, inwieweit es Bologna überhaupt erst möglich machte oder begünstigt hat, dass heute rund eine Million junge Menschen mehr studieren als 2002. Fest steht: Ein anderes explizites Ziel der Reform, die nachhaltige Senkung der Studienabbrecherquoten, hat sich kaum erfüllt. Im Uni-Bachelor gab es laut Deutschem Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) zwischen 2016 und 2020 sogar einen Anstieg von 32 auf 35 Prozent, während es an HAWs von 25 auf 20 Prozent herunterging. Immerhin: Wer heute im Master abbricht, hat schon einen ersten Abschluss. Wer früher das Diplom oder die Magisterprüfungen nicht schaffte, stand noch nach neun, zehn oder mehr Semestern ohne jeden akademischen Grad da.

 

Heilsames Mehr
an Orientierung

 

Umgekehrt hatten 2016 nur noch 23,2 Prozent der fortgeschrittenen Studierenden einen studienbezogenen Auslandsaufenthalt hinter sich, 2,3 Prozentpunkte weniger als ihre Vorgänger 2012, was DZHW-Forscher als eine "Auswirkung des noch neu eingeführten gestuften Bachelor-Master-Studiums und dessen stärker strukturierten Studien- und Prüfungssystems" bezeichnen. Für den noch stärkeren Rückgang 2020 auf nur noch 18,9 Prozent, sagen die Forscher, sei dann aber wohl die Pandemie verantwortlich gewesen.

 

Zurück zur Studiendauer. Trotz ihres leichten Anstiegs waren 2022 immer noch fast Dreiviertel (73,7 Prozent) der Studierenden innerhalb von ein bis zwei Semestern über der Regelstudienzeit fertig. Das ist weiter ein großartiger Wert. Zumindest wer das Studium als Zwischenstation sieht auf dem Weg in ein selbstbestimmtes und unabhängiges Leben, dürfte – genau wie die oftmals als Finanziers fungierenden Eltern – froh sein über diese Entwicklung dank Bologna. Vielleicht ist es Zeit, den Vorwurf der Verschulung von einst ins Positive zu wenden: Vielen Studierenden hat das Mehr an Orientierung offenbar gutgetan.   

 

Dieser Kommentar erschien heute zuerst in meiner Kolumne "Wiarda will's wissen" im Tagesspiegel.



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Kommentare: 6
  • #1

    René Krempkow (Montag, 08 April 2024 11:53)

    Danke für diesen wieder einmal wohltuend sachlichen Beitrag, der sich positiv abhebt von z.T. immer noch anzutreffenden Bologna-Bashings - oder als gegenteiliges Extrem - Studienverkürzungsfanatismen!
    Ergänzend zu den genannten Fakten möchte ich darauf hinweisen, dass es neben den zitierten Studiendauer-Statistiken auch ein paar Analysen zu Einflussfaktoren auf die Studiendauer gibt, die mit Daten von über 22 000 befragten Bachelorabsolvent*innen erfolgten und als bundesweit repräsentativ gelten können.

    Diese Analysen können z.B. empirisch belegen, wie sehr ein De-Facto-Teilzeitstudium - das oft wie oben erwähnt zur Finanzierung des Studiums notwendig und weit über wenigen offiziellen Teilzeitmöglichkeiten hinaus verbreitet ist - Effekte auf die Studiendauer hat. Ähnlich, wenngleich nicht ganz so stark, gilt dies auch für eine Elternschaft während des Studiums.
    Dies betrifft erwartungsgemäß alle Fächergruppen und liefert damit empirische Argumente für eine angemessenere Studienfinanzierung (BAFöG!), aber auch für eine besser auf entspr. Bedarfe angepasste Studienorganisation der Hochschulen. (Zugleich gibt es aber Belege für außerhalb der Verantwortung der Hochschulen liegende, v.a. individuelle Faktoren, die - wenn der Anspruch an eine leistungsgerechte Hochschulfinanzierung aufrechterhalten werden soll - auch Berücksichtigung finden müssten, s. dazu z. B. auch https://www.researchgate.net/publication/281284595.)

    Weitere vermutete Einflussfaktoren auf die Studiendauer wie Auslandsaufenthalte hatten nur in MINT-Fächern deutliche Effekte, während dies in anderen Fächergruppen kaum mit Studienzeitverlängerungen einherging. Hier wäre von Interesse, woran genau das liegt.

    Unter anderem zu diesem Zweck wurden exemplaisch für sechs einzelne Fächer mit je über 500 befragten Bachelorabsolvent*innen noch spezifischere Analyen durchgeführt. Deren Ergebnisse zeigen, dass für diese Fächer auch eine im Ausland erworbene Studienberechtigung, die Karriereorientierung der einzelnen Absolvent*innen, die didaktische Qualität der Lehre, das Verfassen von wiss. Texten und die Vor-bereitung auf den Beruf, der Zugang zu erforderlichen Lehrveranstaltungen, die fachliche Qualität der Lehre, sowie die Ausstattung der Lehr- und Lernräume signifikant mit der Studiendauer in Zusammenhang stehen (Weitere Info: https://www.researchgate.net/publication/357592900). Dies eröffnet den Fächern entspr. Handlungsoptionen - sofern sie diese nutzen wollen. Solche Analysen sind übrigens auch für einzelne Hochschulen möglich, wie wiederum exemplarisch anhand der Ergebnisse zu drei Hochschulen gezeigt werden kann und was weitere Effekte und Handlungsoptionen aufzeigt - z.B. bzgl. sozialer Herkunft (https://www.researchgate.net/publication/339954041).

    Natürlich sollte eine Studienzeitverkürzung hierbei nicht als alleiniges Ziel von Studiengangsentwicklung betrachtet werden. Es besteht jedoch Konsens, dass denen, die es möchten, ein Abschluss des Studiums möglichst innerhalb der Regelstudienzeit offenstehen sollte. Hierfür sollten die Hochschulen das in ihrer Macht stehende tun.

  • #2

    McFischer (Montag, 08 April 2024 12:26)

    Nicht vergessen werden sollte, über die messbaren Kennzahlen hinaus, der Schub für die Anerkennung von Lehren und Lernen an den Universitäten (bei FHs eh schon früher). Vor 20-30 Jahren war es an den Unis, insbesondere in den Geistes- und Sozialwissenschaften, den entsprechenden Lehrenden, Dekanaten etc. leidlich egal, wie ein Studiengang eigentlich auszusehen hatte, was Studierende mit dem Abschluss können sollten (die dann sog. "Intended Learning Outcomes"), ob es hinterher Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt gibt usw.
    Hier ging es darum, dass die Hochschule auch Verantwortung für Studium und Studierende übernimmt. Dass überhaupt jemand sich für zuständig erklärt, was wie gelehrt und gelernt werden soll.
    Ein großer, nicht zu unterschätzender Fortschritt!

  • #3

    Hanna (Dienstag, 09 April 2024 20:47)

    Vielem stimme ich zu. Jedoch:
    Heute kann man als Student meist nur den komplett vorstrukturierten Studiengang aussuchen, früher konnte man in einem gewissen Umfang Lehrveranstaltungen aus dem gesamten Lehrangebot der Universität wählen. Wer Philosophie studierte, konnte nach Interesse ein mathematisches Seminar zu Gödels Unvollständigkeitssatz oder ein Biologieseminar zur Tierkognition belegen.
    Die heutige Universität bildet vor allem für den Arbeitsmarkt aus. Was ausstirbt, sind die Freigeister und die Universalbildung. Auch die hätte unsere Gesellschaft dringend nötig, da sich aus den inter-transdisziplinären Schnittstellen Innovation ergibt. Die heutigen Unis befördern aber eher das vorstrukturierte und dadurch auch in gewisser Weise bevormundende Silo-Denken. Die Studierenden werden heute wie Schüler:innen behandelt, die das Curriculum durchlaufen müssen, aber das eigene Bildungsprogramm kaum mitbestimmen können. Dadurch nimmt man ihnen die Gelegenheit, an der Universität zu Persönlichkeiten zu reifen und sich abseits der vorgedachten Pfade zu spezialisieren.

  • #4

    Aus einer Berliner Uni (Dienstag, 09 April 2024 22:25)

    @Hanna: Das stimmt so nicht (überall). Laut BerlHG z.B. müssen "individuelle Gestaltungsmöglichkeiten des Studiums und frei zu wählende Studienanteile auch zu überfachlichem Kompetenzerwerb für Studierende in der Regel zu einem Viertel, mindestens aber zu einem Fünftel berücksichtigt werden,"

    Also sind in jedem Bachelor ca. 45LP wahlfrei. Verglichen mit dem alten Vordiplom eines MINT Studiengangs, in dem alles vorgeschrieben war, hat sich da nicht viel verändert. Was tatsächlich leider weggefallen ist, ist das Nebenfach (worüber 95% aller Studierenden, die ich je gefragt habe, sehr glücklich waren).

  • #5

    McFischer (Mittwoch, 10 April 2024 16:37)

    @Hanna (ebenfalls): Bei allem Verständnis für einen Wunsch, dass ein Studium ein Lebensabschnitt mit Freiheiten in der Bildung ist - die Argumente hier sind mir zu flach.
    "Die Studierenden werden heute wie Schüler:innen behandelt, die das Curriculum durchlaufen müssen, aber das eigene Bildungsprogramm kaum mitbestimmen können." Solche und andere Aussagen stimmen überhaupt nicht. (1.) Gelten und galten solche Ideale immer schon für nur ganz bestimmte Disziplinen. Eine Medizinerin, ein Agrarwissenschaftler, eine Biochemikerin, ein BWLer usw haben auch prä-Bologna immer schon ein weitgehend strukturiertes Curriculum gehabt. (2.) Es steht auch jedem*r Studierenden heute frei, eine Vorlesung aus einer anderen Disziplin zu besuchen. Bei Seminaren ist das vermutlich auch oft noch möglich, wenn Plätze frei sind. Es ist dann halt on-top. Andererseits konnten Sie noch nie an einer Laborübung in Anorganischer Chemie einfach mal so teilnehmen, weil es bestimmte Voraussetzungen braucht (inkl. Sicherheitseinweisung). (3.) Vielleicht war es immer nur eine kleine Minderheit, die ein frei flottierendes Studium nach Ihrem Ideal wollte (ich zähle mich durchaus dazu...). Vielen Studierenden wäre aber vermutlich ein strukturiertes Studium weit angenehmer gewesen. (4.) Die Ausbildung für den Arbeitsmarkt... was hat sich hier durch Bologna geändert? Ich sehe das nicht - mit Ausnahme, dass es jetzt auch Aufgabe der Hochschule ist, sich auch über den Verbleib der Studierenden nach dem Studium einmal Gedanken zu machen. Das ist m.E. kein Nachteil, sondern ein Vorteil. Aber sind Studiengänge in z.B. Geschichte heute wirklich zu besseren Berufsausbildungsängen "verkommen"? Ich glaube das nicht.
    Wie gesagt: grundsätzliche Sympathie, aber aus meiner Sicht nicht sehr realistisch oder wünschenswert.

  • #6

    aus einer Hochschuldidaktik (Freitag, 12 April 2024 10:21)

    Mit der Einführung von BA und MA haben wir eigentlich ein Berufsbildungssystem eingeführt, in einem Land, das ein sehr gut ausgebautes Berufsbildungssystem hat. Diese beiden Systeme müssen nun irgendwie ihren Platz finden und sich neu orientieren. Die Zahl der Studierenden ist meiner Meinung nach zu hoch, der Fokus auf die Senkung der Abbrecherquoten auch. Der ökonomische Faktor, der hinter der Rekrutierung von Studierenden und der Einhaltung der Regelstudienzeit steht, ist zu groß geworden.

    Die Folge: Viele Studierende, denen es guttäte, nach der Schule erst einmal etwas anderes zu machen, eine Ausbildung als "soziales Jahr" zu absolvieren und nicht (bewusst oder unbewusst) direkt in die Universität gedrängt zu werden, denen es guttäte, mehr Zeit zu haben, um für sich selbst zu klären, was oder wohin sie wollen.

    Es herrscht immer noch (oder mehr denn je?) der Tenor vor, man müsse nur schnell und früh fertig werden. Die Studierenden von heute werden wahrscheinlich viel länger arbeiten (und leben) als noch vor 10 Jahren. Da ist es nur vernünftig, sich für die Ausbildung und die Vorbereitung auf das Berufsleben Zeit zu nehmen.

    Die Fokussierung auf das Studium (statt auf die Ausbildung) und das "alles schnell in einem Rutsch" widerspricht m.E. dem, was Bildung ausmacht.