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"Höchste Zeit, den Kurs zu ändern"

Über 100 Sozialwissenschaftler:innen fordern in einer Erklärung, die Bundesregierung müsse ihre "bedingungslose" Unterstützung des israelischen Militäreinsatzes in Gaza beenden. Währenddessen verklagt Nicaragua Deutschland und die Universität zu Köln sagt die Gastprofessur der US-Philosophin Nancy Fraser ab – weil sie einen Boykottaufruf gegen israelische Institutionen unterzeichnet hatte.

DASS ES SICH die Verfasser:innen mit ihrem Statement nicht leicht gemacht haben, spricht aus jeder Zeile. Eine Gruppe deutscher Sozialwissenschaftler:innen hat die Bundesregierung öffentlich zu einem Kurswechsel ihrer Israel-/Gaza-Politik aufgerufen. Deutschlands Reaktionen auf den Krieg entsprächen nicht seinen eigenen Prinzipien, heißt es in dem vor genau einer Woche online gestellten Text, der erst jetzt einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wird. "Die Strategie der bedingungslosen Unterstützung Israels ist gescheitert, und es ist höchste Zeit, den Kurs zu ändern."

 

Wer jedoch meint, es handle sich deshalb um einen antiisraelischen oder antisemitischen Aufruf, sollte die gesamte Stellungnahme lesen. Sie relativiert in keiner Weise die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die aus dem Gaza-Streifen heraus unter Führung der Hamas begangen wurden. Die Angriffe, Morde und Geiselnahmen, betonen die Verfasser:innen, seien "brutal" und "abscheulich", zusammen mit der Notwendigkeit, die Sicherheit israelischer Bürger zu gewährleisten, machten sie Israels Reaktion "und Deutschlands weitestgehend vorbehaltlose politische und militärische Unterstützung für diese Reaktion" möglicherweise erklärbar. Sie rechtfertigten sie jedoch nicht.

 

Die Zahl der
Unterschriften steigt

 

Stattdessen sei die Bundesrepublik in den vergangenen Monaten "zum Zeugen, wenn nicht sogar zum Mitschuldigen dessen geworden, was nach Einschätzung vieler auf Kriegsverbrechen gegen die palästinensische Bevölkerung in Gaza hinausläuft". Deutschland habe Maßnahmen ergriffen, die internationale Institutionen zu schwächen drohten. "Es hat eine Strategie unterstützt, die für seine erklärten Ziele kontraproduktiv erscheint. Und es hat dies in einem Umfeld getan, in dem kritische Stimmen zu dieser Strategie marginalisiert wurden."

 

Allein seit vergangenem Freitag ist die Zahl der Unterzeichner:innen des Statements, die allesamt als Sozialwissenschaftler:innen in Deutschland arbeiten oder aus Deutschland stammen, um mehr als die Hälfte auf über 140 gestiegen.

 

Parallel startete am Montag eine zweitägige Anhörung am Internationalen Gerichtshof, bei der Nicaragua Deutschland der Beihilfe zum Völkermord im Gazastreifen beschuldigt. Durch Waffenlieferungen an Israel ermögliche Deutschland einen Genozid und verstoße gegen internationales Recht, erklärten die Rechtsvertreter Nicaraguas in Den Haag, wie das ZDF berichtete. Die Bundesregierung widersprach den Vorwürfe "ganz klar und entschieden". Israel weist ebenfalls jeglichen Verstoß gegen die Völkermord-Konvention der Vereinten Nationen zurück und beruft sich auf sein Recht zur Selbstverteidigung nach dem Massaker am 7. Oktober.

 

Tatsächlich ist ein einstiger Putschist, Militärjunta-Führer und jetzt diktatorisch regierender Präsident wie Nicaraguas Staatschef Daniel Ortega, der oppositionelle Proteste mit Gewalt niederschlagen und politische Gegner verhaften ließ, als Menschenrechtsaktivist eine fast schon absurde Besetzung. Das sollte aber nicht dazu führen, andere differenzierte und sauber argumentierte Protestnoten inhaltlich nicht ernstzunehmen oder die dahinter stehenden, aus ihrem professionellen Selbstverständnis heraus unterzeichnenden Wissenschaftler:innen persönlich abzuwerten. Und zwar unabhängig davon, ob man ihnen inhaltlich zustimmt.

 

Zumal immer dann, wenn man denkt, ihr Statement habe doch einseitig antiisraelische blinde Flecken, die Widerlegung auf dem Fuß folgt. Ein Beispiel: Es werde oft argumentiert, steht weiter unten in dem Text, dass die hohe Zahl ziviler Opfer zwar bedauerlich, aber angesichts des Ziels, die Hamas zu zerstören, und der militärischen Optionen, die aufgrund der Taktik der Hamas zur Verfügung stünden, vertretbar sei. Doch: "Unabhängig von der rechtlichen und moralischen Gültigkeit dieses Arguments – oder seiner Relevanz für Maßnahmen, die eher gegen die Zivilbevölkerung gerichtet zu sein scheinen, wie die Blockade von humanitärer Hilfe – gibt es kaum Hinweise aus der sozialwissenschaftlichen Forschung, die darauf hindeuten, dass militärische Kampagnen dieser Art die Sicherheit Israels mittel- bis langfristig erhöhen werden." Im Gegenteil, diese Art von Angriffen auf die Zivilbevölkerung, ob gezielt oder als Kollateralschaden verstanden, könnten zu einer Verschärfung von Feindseligkeiten und zu weiterer Radikalisierung führen, warnen die Wissenschaftler:innen. 

 

Das "laute Schweigen" auch der Universität
sei unerträglich, sagt die Mitinitiatorin

 

Mitinitiatorin und Nummer eins auf der Unterschriftsliste ist die Volkswirtin Christine Binzel, Professorin für Wirtschaft und Gesellschaft des Nahen Ostens an der Universität Erlangen-Nürnberg. Sie spricht von einem "lauten Schweigen vieler gesellschaftlicher Akteure, einschließlich der Universitäten", das angesichts wahrscheinlicher Verstöße Israels gegen das Völkerrecht, etwa, wie Binzel sagt, dem Einsatz von Hunger als Kriegswaffe, "unerträglich sei" – "gerade weil Deutschland die israelische Regierung nicht nur politisch, sondern in erheblichem Maße auch militärisch unterstützt hat". Hinzu komme die Dehumanisierung von Palästinenser:innen in vielen Medien und die Verengung der Debatte in Deutschland. "Als Wissenschaftler*innen sind wir zudem entsetzt über die Zerstörung eines großen Teils der zivilen Infrastruktur, einschließlich vieler Schulen und Universitäten, die von offizieller deutscher Seite nicht verurteilt wurde."

 

Was Binzel und die anderen Unterzeichner:innen konkret erwarten, steht ganz am Ende ihrer Erklärung: Es sei höchste Zeit, dass die Bundesregierung sich vehement für die universelle Anwendung des Völkerrechts und den Schutz der Menschenrechte einsetze, "auch wenn dies bedeuten sollte, das Verhalten der aktuellen israelischen Regierung zu verurteilen und zu sanktionieren". Die Bundesregierung solle entschlossen Maßnahmen zum Schutz der Bürgerinnen und Bürger in Gaza ergreifen und "für diejenigen auf beiden Seiten eintreten, die sich bisher für Frieden, Gleichheit und Würde eingesetzt haben und dies weiterhin tun".

 

In Deutschlands Hochschulszene hatte in den vergangenen Tagen allerdings vor allem die Mitteilung der Universität zu Köln Aufsehen verursacht, die geplante Albertus-Magnus-Gastprofessur der bekannten US-Philosophin Nancy Fraser wieder abzusagen. "Es passt einfach nicht zusammen", zitiert die ZEIT den Kölner Universitätspräsidenten Joybrato Mukherjee, "dass wir eine Person ehren, die dazu aufruft, unsere Verbindungen zu boykottieren." Gemeint sind die Verbindungen zu Israel und Hintergrund ist ein Offener Brief aus dem November 2023, den neben 406 anderen Wissenschaftler:innen aus Nordamerika, Lateinamerika und Europa auch Fraser unterzeichnet hatte – was aber der Universität zu Köln offenbar erst kürzlich auffiel.

 

Die Verfasser:innen der Erklärung mit dem Titel "Philosophy for Palestine" schlugen damals einen völlig anderen Ton an als jetzt die deutschen Sozialwissenschaftler:innen, bekundeten Palästina ihre Solidarität und stellten das Massaker in den Zusammenhang mit "dem Kampf gegen Apartheid und Okkupation". Schließlich riefen sie zu einem akademischen und kulturellen Boykott israelischer Institutionen auf – der Widerspruch, der laut Mukherjee die Gastprofessur unmöglich machte. Für Diskussionsveranstaltungen, betonte die Universität, sei Fraser hingegen willkommen. Die Philosophin selbst sprach am Montag im Interview mit der Frankfurter Rundschau von einem "philosemitischen McCarthyismus"und sagte, ihre Ausladung von der Professur werde der deutschen Wissenschaft "erheblichen Schaden zufügen". Sie behalte sich rechtliche Schritte vor.

 

Unterschiede in Tonalität
und Mehrdimensionalität

 

Legt man indes die Stellungnahme der Sozialwissenschaftler:innen von Ende März und den von Fraser im November mitgezeichneten Boykott-Aufruf nebeneinander, werden die Unterschiede in Tonalität und Mehrdimensionalität offensichtlich. 

 

Nach der Ausladung Frasers gefragt, hält die Volkswirtin Binzel diese für "kontraproduktiv", weil sie ein Beispiel sei für "die Verengung der Diskussion in Deutschland, die auch israelkritische jüdische Stimmen trifft, und die wir in unserer Erklärung ebenfalls ansprechen". Diese Verengung vermeide eine ernsthafte inhaltliche Auseinandersetzung und erschwere letztendlich den wichtigen Kampf gegen Antisemitismus und auch den wichtigen Kampf gegen Rechtsextremismus.  Auch schade sie erheblich der deutschen Wissenschaft. 



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Kommentare: 7
  • #1

    Martin (Dienstag, 09 April 2024 12:59)

    Hamas wird im Statement nicht als Terrororganisation bezeichnet, kein Wort über die Verwendung von zivilen Infrastrukturen durch die Hamas als Terrorstützpunkte, keines darüber, dass die Hamas Humanitäre Hilfe kapert.

    Wo sind eigentlich die Erklärungen dieser WissenschaftlerInnen, die Verbrechen gegen Muslime in Syrien oder China verurteilen? Gibt's keine? Achso. Scheint wohl nur relevant zu sein, wenn Israel beschuldigt wird.

    Auch interessant, dass viele dieser WissenschaftlerInnen an der FU Berlin arbeiten; von einer Positionierung gegen antisemitische Gewaltakte an deren Uni hat man von den UnterschreiberInnen aber komischerweise nichts gehört.

    Antilopengang stabiler als 140 SozialwissenschaftlerInnen...

  • #2

    Sebastian Horndasch (Dienstag, 09 April 2024 15:37)

    Ein kluger und wichtiger Appell, man muss sagen: Endlich! Denn die Erklärung "Philosophy for Palestine" empfand ich als wahnsinnig undifferenziert.

  • #3

    HG (Dienstag, 09 April 2024 22:35)

    Danke für diesen fundierten Beitrag, Herr Wiarda. Der Kommentar von Martin ist leider ein einziges "whatbout-ism".

  • #4

    JG (Mittwoch, 10 April 2024 09:59)

    Wenn Martin recherchiert hätte, wüsste er, dass es ein Vielfaches an Statements, offenen Briefen und Stellungnahmen aus der Wissenschaft zu den Verbrechen in Syrien und China gibt. Wenn er recherchiert hätte, wüsste er, dass sich die gesamte FU und viele der Unterzeichnenden ganz klar auch in anderen Statements gegen Antisemitismus positioniert haben. Und wenn er auch nur einen Hauch von Ahnung von der Situation in Gaza oder dem humanitären Völkerrecht hätte, wüsste er, dass die Verwendung von ziviler Infrastruktur durch militante Gruppen keine carte blanche für Kriegsverbrechen ist - und würde vlt. auch realisieren, dass die Relativierung israelischer Kriegsverbrechen (und von Kritik an denselben) durch Verweis auf Kriegsverbrechen durch die Hamas implizit eine Gleichsetzung beider Akteure bedeutet. Diese ist natürlich absurd: Es gibt gute Gründe, warum Israel mit anderen Maßstäben gemessen wird als die Hamas - letztere ist deswegen ja auch international geächtet, sanktioniert und als Terrororganisation eingestuft.

  • #5

    Peter (Mittwoch, 10 April 2024 18:56)

    > "Sie relativiert in keiner Weise die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die aus dem Gaza-Streifen heraus unter Führung der Hamas begangen wurden. Die Angriffe, Morde und Geiselnahmen, betonen die Verfasser:innen, seien "brutal" und "abscheulich", [...]"

    Na ja, im Statement heißt es u.a. "Die Hamas hat abscheuliche Angriffe auf Zivilisten verübt und hält weiterhin zivile Geiseln, darunter auch Kinder, fest. Diese und andere Handlungen verstoßen gegen das humanitäre Völkerrecht."
    Die Betonung setzt man hierbei auf Zivilisten. Es wurden aber auch Soldat*innen vergewaltigt, ermordet, entführt. Dies wird damit extra ausgeschlossen. Man könnte es also so lesen, als wäre der Angriff, sofern er sich nur gegen Militär und Polizei, Sicherheitsdienst etc. gerichtet hätte, legitim gewesen. Ich glaube schon, dass man es sich hier ein wenig zu leicht gemacht hat.

  • #6

    JC (Donnerstag, 11 April 2024 08:19)

    Nicht gerade wissenschaftlich: Die zitierten Zahlen (z.B. 100.000 Menschen tot oder verletzt) stammen von der Terrororganisation HAMAS, was aber nicht erwähnt wird (WHO klingt ja auch seriöser).

    Die meisten Wissenschaftler im Aufruf haben auch 0 Expertise zum Nahostkonflikt; von dem her frage ich mich was das soll.

  • #7

    Laubeiter (Montag, 15 April 2024 08:48)

    Für mich liest sich das hier referierte Papier eher belehrend gegenüber den Regierungen in D und Israel, als wüssten die WissenschaftlerInnen es besser. Von der Asymmetrie von Konflikten zwischen Staaten und Terroristen findet sich im Papier nichts, stattdessen meinen die AutorInnen dies zu wissen "Israel hat das Grauen in Gaza einkalkuliert; es folgt notwendigerweise aus der von Deutschland unterstützten Strategie der israelischen Regierung." Das sind für mich zwei unbewiesene schwere Vorwürfe. Israel will seine Geiseln befreien; wie es diese Geiselbefreiung kalkuliert, wissen das die AutorInnen? Deutschland unterstützt Israel; das Deutschland die Strategie zur Geiselbefreiung Israels kenne, von der die AutorInnen meinen, sie zu kennen, finde ich abwegig. Beispiel 2, in dem die AutorInnen meinen, sie wüssten es besser "Das wichtige Ziel, Antisemitismus zu bekämpfen, wird in einer Weise verfolgt, die verkennt, was Antisemitismus tatsächlich ist, und wie er wirksam bekämpft werden kann." Für mich ist es zu billig, Regierungen in D und Israel vorzuwerfen, sie bräuchten Beratung über Antisemitismus.