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Wissenschaftsfreiheit als Freiheit von Kritik?

Welchen Begriff von Wissenschaftsfreiheit unser Netzwerk wirklich hat, warum wir Kritik jeglicher Art und Richtung unterstützen, aber zugleich die akademische Verbannung von Kritikern wie Kritisierten entschieden ablehnen. Eine Replik von Dieter Schönecker.

Dieter Schönecker ist Professor für Praktische Philosophie an der Universität Siegen und Gründungsmitglied des Netzwerks Wissenschaftsfreiheit. Foto: privat. 

IN SEINEM BEITRAG für den Wiarda-Blog versteigt Karsten Schubert sich zu der These, das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit (NW) vertrete einen negativen Freiheitsbegriff als "die Freiheit von der Kritik durch andere wissenschaftliche Ansätze"; Freiheit bestehe für das NW darin, "frei zu sein von der Einmischung durch kritische Forschung", sie sei die "Freiheit von politischer Einmischung".

 

Das ist eine geradezu irrwitzige Unterstellung, die nicht dadurch besser wird, dass man sie schon oft genug gelesen hat. Denn Kritik ist für die Wissenschaft eine conditio sine qua non. In jeder Wissenschaft werden Hypothesen, Thesen und Theorien entwickelt, um Dinge zu erklären oder zu verstehen. Sie werden nicht nur ständig kritisiert, sie müssen auch kritisiert werden dürfen; niemand bestreitet das, selbstverständlich auch nicht das NW.

 

Kritik ist aber etwas anderes als akademische Verbannung (etwa durch Niederbrüllen, Deplatforming und so weiter), die Karsten Schubert in seinem Beitrag zu Recht ablehnt. Wer kritisiert, lässt sich auf die wissenschaftliche Position des anderen ein, nimmt sie ernst und versucht, ihre Fehler aufzuweisen. Wer cancelt, lässt die Position des anderen von vorneherein nicht zu, verbannt sie aus dem Diskurs und verletzt damit nicht nur wissenschaftliche Standards, sondern das Menschenrecht freier Menschen auf freie Erkenntnis.

 

Nun haben das NW und auch einzelne Akteure aus seinem Kreis sich kritisch etwa gegenüber den Gender Studies und dem Postkolonialismus geäußert. Aus der grundsätzlichen Notwendigkeit zur und dem Recht auf Kritik folgt, dass Kritik an diesen Disziplinen legitim ist, und zwar auch dann, wenn sie falsch ist, solange sie nur wissenschaftlich ist und an der Sache orientiert. Aber das steht natürlich nicht im Widerspruch dazu, das Recht etwa der Gender Studies auf Wissenschaftsfreiheit zugleich zu verteidigen, wie etwa hier.

 

Kritik verliert nicht ihre Legitimität,
weil die AfD sie instrumentalisiert

 

Dass Kritik an den Gender Studies von bestimmten politischen Akteuren instrumentalisiert werden kann, trifft zu, ändert aber natürlich nichts an deren Legitimität. Das Recht darauf, die Gender Studies zu kritisieren, und gegebenenfalls die sachliche Richtigkeit solcher Kritik gehen ja nicht dadurch verloren, dass die AfD die gleiche Kritik äußert oder sie instrumentalisiert. 

 

Schubert hat ganz Recht, dass die Abwehr von staatlichen Angriffen zentral ist für die Wissenschaftsfreiheit, und mehr noch: Diese Abwehr ist der eigentliche Sinn und Zweck von Artikel 5, Absatz 3 des Grundgesetzes. So ist etwa der Versuch, den Begriff "Antisemitismus" für die Hochschulen verbindlich zu definieren, ein klarer Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit (eine dagegen gerichtete Petition habe ich, obwohl die israelfeindliche Haltung ihrer Initiatoren mir zuwider ist, unterschrieben).

 

Es gibt nicht den geringsten Grund zu denken, das NW unterstütze in irgendeiner Form staatliche Eingriffe in die Wissenschaftsfreiheit. Und man kann, ohne dazu im Widerspruch zu geraten, wie Susanne Schröter das Genderverbot Bayerns begrüßen, und zwar dann, wenn man umgekehrt den mehr oder weniger indirekten Zwang zum Gendern an Universitäten, in Zeitschriften oder DFG-Anträgen für einen Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit hält (ganz abgesehen davon, dass die zugrundeliegenden linguistischen Annahmen für das Gendern höchst fragwürdig sind).

 

Man kann übrigens auch die Vorgehensweise des Kölner Rektors gegen Nancy Fraser für legitim und jedenfalls nicht für einen Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit halten. Die Frage ist hier wie  immer, wann bzw. ob ein solcher Eingriff überhaupt vorliegt, und im Fall Fraser lag er meines Erachtens nicht vor, da der Rektor selbst der Einladende war und er zugleich betont hat, dass Fraser trotz der Rücknahme der Ehrung Vorträge in Köln halten dürfe.

 

Das Netzwerk tut weder unpolitisch noch hat
es einen unpolitischen Wissenschaftsbegriff

 

Dass NW vertritt zudem, anders als von Karsten Schubert behauptet, keinen unpolitischen Begriff von Wissenschaft und Wissenschaftsfreiheit, ganz im Gegenteil. Abgesehen davon, dass der vom NW stark gemachte juristische Begriff von Wissenschaftsfreiheit sogar nach Schuberts eigener Definition ein politischer Begriff ist, steht doch völlig außer Frage, dass zumindest sehr viele Wissenschaften politisch sind; wie sollten die Jurisprudenz, die Politische Philosophie, die Sozialwissenschaften usw. denn unpolitisch sein?

 

Das NW kritisiert aber Versuche, einzelne politische oder politisch relevante Positionen, die aus bestimmten Wissenschaften erwachsen und die verfassungs- und strafrechtlich unbedenklich sind (und oft genug sogar die Standardmeinung einer Wissenschaft darstellen, wie etwa die Position, dass es biologisch gesehen nur zwei Geschlechter gibt), rechtswidrig und gewalttätig aus dem Diskurs zu verdrängen und eine Orthodoxie an den Universitäten zu etablieren. Und dass das NW selbst nicht als unpolitischer Akteur auftritt, sondern im Gegenteil dafür gegründet wurde, sich politisch zu engagieren, ist doch völlig klar (das NW ist im Lobbyregister des Bundestags eingetragen). 

 

Auch Schuberts These, es ginge dem NW um die "Wissenschaftsfreiheit für konservative Professor_innen", ist mehrfach widerlegt (abgesehen davon, dass das NW sich auch für Mittelbau-Menschen einsetzt und als Mitglieder hat). Im deutschsprachigen Raum, auf den sich das NW beschränkt, geht die akademische Cancel Culture zwar de facto ganz überwiegend von links aus – aber das liegt einfach daran, dass die Linke im akademischen Milieu dominiert. Es ist daher kein Zufall, dass die vom NW kritisierten Fälle überwiegend in linker Cancel Culture gegründet sind.

 

Keineswegs "blind
gegenüber Machtstrukturen"

 

Aber nicht nur wurde etwa auch Orbans illiberale Politik kritisiert, es wurde betont (was Schubert ebenfalls weiß), dass von rechten Akteuren eine Gefahr für die Wissenschaftsfreiheit ausgeht oder ausgehen würde, wenn sie denn nur parlamentarisch oder universitär hinreichend viel Macht hätten; das NW hat auch Maisha-Maureen Auma, Professorin für Diversity Studies, gegen AfD-Angriffe verteidigt. 

 

Schließlich ist das NW keineswegs "blind gegenüber Machtstrukturen". Die Kritik an sexistischen, rassistischen oder transfeindlichen Akteuren und Strukturen ist von großer Wichtigkeit. Aber erstens schlägt solche Kritik oft um in Cancel Culture, und das ist wiederum kritikwürdig. Und zweitens ist es eben eine zentrale Frage in der Debatte, wann genau eine Position oder Handlung überhaupt rassistisch usw. ist, und es ist wiederum legitim, bestimmte Theorien und ihre Vertreter dafür zu kritisieren, einen überzogenen oder auch unhaltbaren Begriff etwa von "Rassismus" zu propagieren.

 

Um noch einmal die vorherigen Beispiele zu bemühen: Wer schon die Kritik an Israel für antisemitisch hält oder die These, dass es biologisch gesehen nur zwei Geschlechter gibt, für transfeindlich, muss akzeptieren, dass andere die dafür zugrunde gelegten Definitionen ablehnen; und jedenfalls folgt aus solchen tatsächlich umstrittenen Definitionen nicht das Recht, andere Menschen zu canceln.

 

Schubert sagt selbst, dass "disruptive Mittel", wie er das nennt, also die diversen Formen akademischer Verbannung, im Rahmen seines Ansatzes nicht legitimiert werden können (dass Protest, der nicht disruptiv ist, legitim ist und auch fruchtbar sein kann, bestreitet ja niemand). Da wäre es doch schön, wenn Schubert über seinen linken Schatten springen könnte und sich auch einmal für die Wissenschaftsfreiheit von Menschen einsetzte, die er für rechts hält.

 

Eine ausführlichere Erwiderung Dieter Schöneckers auf Karsten Schubert findet sich in seinem Beitrag für den Philosophie-Blog praefaktisch. Dabei bezieht sich Schönecker auf einen Artikel Schuberts für die Zeitschrift für Praktische Philosophie, in dem dieser seine Überlegungen zu "Zwei Begriffen der Wissenschaftsfreiheit" bereits in längerer Form dargestellt hatte. 



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Dieser Blog hat sich zu einer einschlägigen Adresse der Berichterstattung über die bundesweite Bildungs- und Wissenschaftspolitik entwickelt. Bitte helfen Sie mit, damit er für alle offen bleibt.


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Kommentare: 6
  • #1

    Josef König (Freitag, 19 April 2024 16:46)

    Moin,

    es ist bemerkenswert, dass dieser Beitrag, dem ich zustimme, keine kritische Diskussion bislang erfahren hat, wohingegen der Beitrag, gegen den er hier die Stimme erhebt, eine Fülle vor allem positiver Zuschriften erhalten hat. Auch durch Schweigen lässt sich widersprechen …

  • #2

    na ja (Samstag, 20 April 2024 10:12)

    Ein ausgezeichneter Beitrag, der sich u.a. durch unaufgeregte, argumentative Klarheit auszeichnet. Wie angenehm, in der Debatte einmal einen Text zu lesen, der auf Argumenten, statt moralischen Empörungstiraden aufgebaut ist. Das könnte ein Grund sein, warum keine Erwiderung der Unterstützer der Gegenseite kommt. Es hieße ja jetzt, sich sachlich mit Argumenten auseinanderzusetzen.

  • #3

    Gerhard Aurich (Sonntag, 21 April 2024 14:00)

    ad#1: Ich widerspreche der Schlussfolgerung nicht.

  • #4

    Olaf Bartz (Sonntag, 21 April 2024 20:55)

    Ich finde es großartig, dass in diesem Blog bei kontroversen Themen Meinungen der verschiedenen Seiten zu Wort kommen. Dafür vielen Dank, lieber Herr Wiarda!

  • #5

    Jan-Martin Wiarda (Montag, 22 April 2024 08:29)

    Liebe Leserinnen und Leser,

    aus gegebenen Anlass der Hinweis, dass ich mir gern auch Teile des Wochenendes mit der Familie gönne und es deshalb gelegentlich bis Montagfrüh dauern kann, bevor Kommentare freigeschaltet werden. Dies bedeutet keineswegs, dass ich bestimmte Beiträge aufgrund mir angeblich nicht genehmer Meinungen nicht zulasse.

    Wer meinen Blog verfolgt, weiß, dass ich es üblicherweise öffentlich mache, wenn ich Kommentare nicht freischalten kann und die Gründe nenne: In den meisten Fällen handelt es sich dann um persönliche Angriffe und Verunglimpfungen, die ich in meinem Blog nicht haben möchte. Gibt es einen inhaltlichen Kern, suche ich darüber hinaus den Kontakt zu den Urhebern und gebe ihnen die Gelegenheit, die Ad-Hominem-Stellen zu entfernen, um den Kommentar dann doch zu veröffentlichen. Dies geht natürlich nur, wenn verunglimpfende Kritik nicht auch noch anonym vorgetragen wird.

    So halte ich es denn auch mit dem Beitrag, auf den ich mich hier beziehe, weshalb ich auf ihn reagiere, ihn aber nicht freischalte.

    Beste Grüße
    Ihr Jan-Martin Wiarda

  • #6

    Jan-Martin Wiarda (Dienstag, 23 April 2024 08:21)

    Sehr geehrte/r Contrarian,

    vielen Dank für Ihren Kommentar, den ich vorerst nicht freischalten kann. Bitte kontaktieren Sie mich für eine Rückfrage.

    Mit bestem Dank und Gruß
    Ihr Jan-Martin Wiarda