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Die Hochschulen und der Nahost-Konflikt

An den US-Hochschulen kommt es zu massiven Ausschreitungen. Vergleichbare Gewalt gibt es in Deutschland bisher nicht, es wird aber protestiert. Die Unis wiegen sich nicht in Sicherheit. Von Jan-Martin Wiarda und Tilmann Warnecke.

ES WAR KEIN ZUFALL, dass die Demonstranten sich Anfang der Woche die Hamilton Hall für ihre Besetzungsaktion aussuchten: Ein Gebäude der New Yorker Columbia-Universität, das 1968 schon einmal Studierende eingenommen hatten, damals aus Protest gegen den Vietnam-Krieg.

 

Die Aktivisten nannten das Gebäude in Hind’s Hall um – nach einer Sechsjährigen aus Gaza-Stadt, die im Januar durch israelischen Beschuss ums Leben gekommen sein soll.

 

Manche Beobachter sahen angesichts der anhaltenden Unruhen an US-Hochschulen tatsächlich bereits Parallelen zur studentischen Anti-Kriegs-Bewegung vor mehr als einem halben Jahrhundert. Andere sahen vor allem die Bilder von Vermummten mit Palästinensertüchern, die Fenster einschlugen, sich mit Stühlen und Tischen verbarrikadierten.

 

Sie beobachteten die gewaltsamen Zusammenstöße propalästinensischer Protestierer und Gegendemonstranten in Los Angeles, sie hörten die antisemitischen Parolen und die Berichte jüdischer Studierender quer durch die USA, die sich nicht mehr sicher fühlen an ihrer Hochschule.

 

Bundesministerin

Stark-Watzinger mahnt

 

Und in Deutschland? Bundesforschungsministerin Bettina Stark-Watzinger warnte am Donnerstag mit Blick auf Columbia, die dortigen Geschehnisse müssten "auch uns eine Mahnung sein. Hetze gegen Jüdinnen und Juden müssen wir konsequent bekämpfen."

 

Im Vergleich zu den USA ist es an Deutschlands Hochschulen zwar aktuell ruhig: keine gewaltsamen Ausschreitungen, kaum einmal propalästinensische Menschenaufläufe wie am Freitag an der Berliner Humboldt-Universität. Allerdings sind hierzulande gerade erst die Semesterferien zu Ende gegangen.

 

Und der Überfall auf einen jüdischen Studenten der Freien Universität im Februar, bei dem dieser von einem muslimischen Mitstudenten schwer verletzt worden war, hatte die Öffentlichkeit weit über Berlin hinaus schockiert. 

 

Das Netzwerk Jüdische Hochschullehrende warnt daher in einem Offenen Brief, auch an den Hochschulen in Deutschland, Österreich und der Schweiz präge "ein rapide zunehmender und sich radikalisierender Antisemitismus das Klima".

 

Viele jüdische Studierende und Hochschullehrende seien seit dem Massaker der Terrororganisation Hamas vom 7. Oktober persönlich von antisemitischen Anfeindungen betroffen. >>


Offener Brief gegen Antisemitismus auf dem Campus

Die Hochschulleitungen in Deutschland müssen gegen wachsenden Antisemitismus konsequent durchgreifen: Das fordert ein offener Brief des Netzwerks Jüdischer Hochschullehrende. Präventiv gehe es um Aufklärung, Bildung und Schulung. Ebenso müsse gegen jegliche Formen von gewalttätigen Ausschreitungen durch Strafanzeigen, Disziplinarmaßnahmen und Ausübung des Hausrechts vorgegangen werden. Es brauche zudem kurz-, mittel- und langfristige Maßnahmen, um über Falschnachrichten und antisemitische Verschwörungserzählungen aufzuklären. Der Brief fordert Veranstaltungen über jüdisches und israelisches

Leben aus jüdischen Perspektiven. "Auch an den Hochschulen in Deutschland, Österreich und der Schweiz prägt ein rapide zunehmender und sich radikalisierender Antisemitismus das Klima", heißt es in dem Brief mit mehr als 300 Erstunterzeichnenden. Erinnert wird an antiisraelische Demonstrationen mit antisemitischen Parolen seit dem 7. Oktober an zahlreichen deutschen Hochschulen. Veranstaltungen von jüdischen Lehrenden würden gestört. "Zu ihrem Schutz verzichten viele Jüdinnen und Juden auf dem Campus – noch mehr als bereits vor dem 7. Oktober – auf sichtbare jüdische Symbole."



>> Noam Petri, Vizevorsitzende der Jüdischen Studierendenunion Deutschland (JSUD), sagt, die Situation in der Bundesrepublik sei "zum Glück tatsächlich eine andere" als in den USA. Aber er sagt auch: "Wir sollten uns deshalb nicht in Sicherheit wiegen."

 

In kleinerem Maßstab gebe es auch an Deutschlands Hochschulen viele antisemitische und antiisraelische Vorfälle, und wenn die Hochschulleitungen nicht entschlossen dagegenhielten, "könnten wir in wenigen Jahren da sein, wo die USA jetzt sind."

 

Petri hat für das Magazin Cicero vor einigen Wochen eine Vielzahl von Vorfällen recherchiert, die die desolate Lage an deutschen Universitäten zeigten. Darunter die Äußerung einer Düsseldorfer Asta-Referentin, man sei gegen das Hissen der israelischen Flagge, weil man "keine kriegsverbrecherischen Staaten" unterstützen werde. Gleichzeitig sei es jüdischen Studierenden in der Sitzung des Studierendenparlaments untersagt worden, Fotos israelischer Geiseln auf ihren Tischen liegen zu haben, da diese andere Studierende "triggern" könnten. 

 

Ebenfalls Teil von Petris langer Auflistung: Schmierereien und antiisraelische Parolen per Megafon, die Besetzung eines Uni-Hörsaals durch das "Unikomitee München für Palästina" oder auch eine studentische Vollversammlung an der Universität Kassel, die es nicht geschafft habe, die Hamas als Terrororganisation zu verurteilen. Nur propalästinensische Redner seien beim offiziellen Programm zugelassen gewesen. 

 

Petri sagt: "Was nützt es, wenn fast jede deutsche Hochschulleitung eine flammende Solidaritätserklärung mit Israel und gegen Antisemitismus beschließt, wenn im Alltag dann Indifferenz gegenüber solchen Vorfällen herrscht?" Verstärkt werden müsse vor allem auch der Kampf gegen die antisemitische Hetze in den sozialen Medien. Den gefährlichsten Einfluss auf junge Menschen habe in der Hinsicht TikTok.

 

In Deutschland weniger

polarisierte Meinungen

 

Auch für den Präsidenten der Hochschulrektorenkonferenz (HRK), Walter Rosenthal, gibt es an deutschen Hochschulen weder die Gewaltbereitschaft "noch vergleichbar polarisierte Meinungsverhältnisse wie in den USA". 

 

So hatte im Dezember eine repräsentative Wählerumfrage der Harvard-Universität gezeigt, dass 50 Prozent der Amerikaner zwischen 18 und 24 Jahren im Gaza-Konflikt für die Hamas seien. 60 Prozent gaben gar an, die Massaker vom 7. Oktober seien durch das Leid der Palästinenser gerechtfertigt.

 

Demgegenüber hatte eine Online-Studie der AG Hochschulforschung der Universität Konstanz im März ergeben, dass von den 2000 Studierenden bundesweit etwa zwölf Prozent den Angriff der Hamas für einen legitimen Befreiungskampf Palästinas gehalten hatten. Acht Prozent teilten antisemitische Einstellungen, in der Vergleichsgruppe der allgemeinen Bevölkerung seien es 18 Prozent gewesen.

 

Bei einigen der Vorfälle an deutschen Hochschulen müsse man genau hinschauen, sagt Rosenthal, ob sie wirklich von Studierenden ausgingen "oder von propalästinensischen Aktivisten, die professionell und medienwirksam Proteste organisieren." Es werde auch künftig nicht möglich sein und entspreche nicht der akademischen Kultur, an jedem Hochschuleingang Wachleute zu postieren.

 

Protestieren Studierende

oder professionelle Aktivisten?

 

Was der HRK-Präsident allerdings auch sagt: "Jeden einzelnen antisemitischen Vorfall müssen wir mit Nachdruck ahnden, wir müssen als Hochschulen das Ordnungsrecht wahrnehmen, wir müssen mit der Polizei zusammenarbeiten und Vergehen zur Anzeige bringen – in der klaren Erwartung, so mittelfristig auch eine präventive Wirkung zu erzielen und die Sicherheit jüdischer Hochschulangehöriger zu erhöhen."

 

Doch anders, als manche öffentliche Politikeräußerung dies impliziere, handelten die meisten Hochschulleitungen längst konsequent. Wieder besser werden müssten Schulen und Hochschulen allerdings darin, die Bekämpfung von Antisemitismus zum Gegenstand von Unterricht, Lehre und Forschung zu machen.

 

"Viele, die aktuell beispielsweise 'From the river to the sea' skandieren, wissen nicht einmal, um welchen Fluss und welches Meer es sich handelt und dass damit Israel das Existenzrecht abgesprochen wird."

 

Dass es an den Hochschulen vergleichsweise ruhig ist, könnte ebenso mit den vielen Veranstaltungen zu tun haben, die sie inzwischen rund um die Themen Nahost-Konflikt und Antisemitismus, aber auch Islamophobie aufgelegt haben. Die Auseinandersetzungen würden so auf eine akademische Ebene verlagert, ist aus einigen Unis zu hören. Mitunter werde sehr hart debattiert.

 

Befürchtet wird aber schon, dass mit der Eskalation in den USA auch die Proteste hierzulande wieder zunehmen. So spielen Unis bereits Szenarien durch, wie sie zum Beispiel auf Zeltcamps von Protestierenden auf dem Campus reagieren würden – auch wenn darüber noch niemand öffentlich sprechen will.

 

Dieser Artikel erschien zuerst im Tagesspiegel.

 

Nachtrag:

Am Dienstag räumte die Polizei ein propalästinensisches Protestcamp auf dem Gelände der Freien Universität Berlin. Dabei wurden mehrere Demonstranten vorübergehend festgenommen, die FU stellte ihren Betrieb ein. An der Universität Leipzig kam es zu einer kurzzeitigen Besetzung von Audimax und Innenhof des Hauptcampus, auch hier räumte die Polizei.

 

Laut Berliner Zeitung waren bei den Protesten in Berlin-Dahlem Parolen wie "Bullenschweine raus aus der Uni", "Fuck Israel" und "From the river to the sea" zu hören. "Diese Form des Protests ist nicht auf Dialog ausgerichtet", kommentierte FU-Präsident Günter M. Ziegler. Eine Besetzung ist auf dem Uni-Gelände sei nicht akzeptabel. "Wir stehen für einen wissenschaftlichen Dialog zur Verfügung – aber nicht auf diese Weise."

 

"Chapeau, FU-Präsident Günter Ziegler", schrieb die BMBF-Staatssekretärin Sabine Döring auf "X", während Kai Koddenbrock, Professor am Bard College Berlin, ebenfalls auf "X" kritisierte: "Die Kolleg*innen wissen schon, welcher Form autoritärer Staatlichkeit sie da den Hof machen, oder?" Döring antwortete: "Die Kolleginnen und Kollegen sitzen fest im Sattel der *Wissenschafts*freiheit. Sie dulden nur nicht auf dem Campus als einem Ort des rationalen Diskurses disruptiven Antisemitismus unter dem Deckmantel der *Meinungs*freiheit."

 

Unterdessen veröffentliche die ZEIT einen lesenswerten Artikel von Anna-Lena Scholz über den Fall von der Max-Planck-Gesellschaft entlassenen Gastwissenschaftler Ghassan Hage und eine Wissenschaft in Deutschland, die um eine Haltung zum Nahostkonflikt ringt. 



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