Aus dem Olymp gefallen ‑ und doch gebraucht
Einst besetzten sie den Spitzenplatz im Wissenschaftssystem. Heute ringen die Geisteswissenschaften um ihre Rolle. Christoph Markschies spricht im Interview über geknicktes Selbstbewusstsein, neue Allianzen mit Naturwissenschaften – und Wege, wieder Gehör zu finden.
Christoph Markschies ist Professor für Antikes Christentum an der Humboldt-Universität zu Berlin und Präsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Foto: BBAW, Pablo Castagnola.
Herr Markschies, BBAW, Akademienunion, DFG und Hochschulrektorenkonferenz haben im vergangenen Jahr die Aktion "Wissenschaft und ich?!" gestartet. Dabei gehen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bundesweit auf Marktplätze, stellen sich den Fragen von Bürgerinnen und Bürgern und kommen mit ihnen ins Gespräch. Sie selbst waren mehrfach dabei. Wie läuft es denn so?
Vergangenen Samstag war die Aktion in Potsdam zu Gast, und die Gespräche haben nicht nur wieder viel Freude gemacht, sondern auch gezeigt, wie wichtig dieses Format ist. Glücklicherweise ist die Finanzierung jetzt auf sichere Beine gestellt: Wir haben die Unterstützung von mehreren Stiftungen. Damit ist die Fortsetzung auch in den kommenden Jahren gesichert – unabhängig von staatlichen Haushaltsmitteln.
Ende April wurden Sie für vier weitere Jahre als Präsident der Akademienunion wiedergewählt, dem Dachverband der deutschen Wissenschaftsakademien; im Oktober treten Sie ihre zweite Amtszeit als Präsident der BBAW an. Sie haben angekündigt, die Bedeutung der Geisteswissenschaft stärker in die Öffentlichkeit zu bringen. Welche Rolle spielen die Geisteswissenschaften denn da draußen bei Ihren Gesprächen auf den Marktplätzen?
Da die Fragen von Passanten den Ausschlag geben, geht es oft um das, was Menschen gerade Angst macht. Die Geisteswissenschaften kommen zum Beispiel ins Spiel, wenn es um Frieden und Krieg geht: Wie ist das mit der Ukraine und Russland? Viele Menschen fürchten, China werde uns völlig dominieren. Als Historiker kann ich antworten: Eigentlich war das Außergewöhnliche die Phase, in der Europa wirtschaftlich überlegen war. In solchen Momenten staunen die Leute, dass die Geschichte helfen kann, die Gegenwart zu verstehen. Aber klar: Im Zentrum der Gespräche stehen eher naturwissenschaftliche und medizinische Fragen – beispielsweise, ob der Fortschritt ganz bestimmte Krankheiten heilbar macht.
Weil viele Menschen, wenn sie "Wissenschaft" hören, darunter vor allem die Natur- und Lebenswissenschaften verstehen?
Nein, das glaube ich nicht. Einen solchen pessimistischen Eindruck äußern eher nur in ihrem Selbstbewusstsein geknickte Geisteswissenschaftler. Ich erlebe auf den Marktplätzen zwei Gruppen: Die einen trauen der Wissenschaft generell nicht zu, ihre Probleme zu lösen – egal ob Natur-, Technik- oder Geistes- und Sozialwissenschaften. Die anderen sind fasziniert, nehmen alles auf, was ihnen begegnet. Natürlich hat es ein Mediziner leichter, Faszination zu wecken: Da heilt man auch schlimmste Krankheiten. Aber Geistes- und Sozialwissenschaften kümmern sich schließlich auch um drängende Probleme und finden ihre Aufmerksamkeit.
"Die Geisteswissenschaften sind vom hohen Turm der unangefochtenen
Spitzenstellung im Wissenschaftssystem heruntergefallen."
Sie reden aber selbst vom geknickten Selbstbewusstsein von Geisteswissenschaftlern.
Bei manchem Geisteswissenschaftler wohlgemerkt! Die Geisteswissenschaften sind vom hohen Turm der unangefochtenen Spitzenstellung im Wissenschaftssystem heruntergefallen. Noch im 19. Jahrhundert bekamen Naturwissenschaftler eigentlich erst Anerkennung, nachdem sie, etwas pointiert gesagt, angefangen hatten zu philosophieren – Helmholtz, Virchow und andere. Heute ist es fast umgekehrt: Als Philosoph gilt man vielen als interessant, wenn man sich beispielsweise auch mit Quantenphysik beschäftigt hat, als Geisteswissenschaftler, wenn man mit der Neurologie oder Humanbiologie im Gespräch ist. Dieser längst erfolgte Sturz aus dem Olymp hat bei manchen immer noch Spuren hinterlassen.
Wenn Sie vom Olymp reden, meinen Sie die mittelalterliche Universität?
In letzter Konsequenz ja. Die Theologie, mein eigenes Fach, ist dafür ein gutes Beispiel. Sie war auch noch lange in der Neuzeit eine der vier klassischen Fakultäten, neben Jura, Medizin – und der Philosophischen Fakultät, zu der lange auch die Naturwissenschaften zählten. Für mich ist es aber eher ein Zeichen lebendiger Wissenschaft, wenn der Olymp immer mal wieder neu besetzt wird.
Wobei die Medizin ihren Platz darin bis heute bewahrt hat. Während die Theologie, einer der universitären Grundpfeiler bis weit in die Neuzeit hinein, heute für viele anachronistisch wirkt: kaum Studierende, aber die Professuren abgesichert durch Kirchenverträge, konfrontiert mit dem Vorwurf eines überkommenen Luxus. Was macht das mit dem Vertreter eines solchen Fachs?
Die Theologie ist ein Sonderfall, weil sie als einziges Fach im deutschen Universitätskosmos durch besagte Verträge mit dem Staat abgesichert ist. Das führte dazu, dass man dort lange mehrheitlich nicht die Notwendigkeit von Reformen sah – obwohl es längst mehr oder weniger attraktive Konkurrenzangebote für die Funktionen der Theologie an der Universität gibt. In der Vergangenheit war es die Theologie, die alle anderen Wissenschaften zur präzisen Definition ihrer Begriffe und zur Reflexion über Vorletztes und Nicht-Vorletztes angehalten hat. Heute leisten das auch Philosophie, Wissenschaftstheorie, Wissenschaftssoziologie und andere Fächer.
Die Naturwissenschaften sind institutionell aus der Philosophischen Fakultät hervorgegangen, immer weiter hinein in die Spezialisierung. Kehren sie irgendwann wieder zu ihr zurück?
An Rückkehr glaube ich nicht. Aber an Grenzen der Ausdifferenzierung. Die werden in einer Art Wellenbewegung der deutschen Universität erkennbar – und nicht nur der deutschen. Das betrifft sowohl die institutionelle wie die fachliche Profilierung. Mal baut man sehr große Fakultäten auf, dann werden sie zerschlagen in kleine Fachbereiche und hochspezialisierte Institute – und irgendwann entstehen wieder Großfakultäten. Ein Zyklus, der vermutlich nie zu einem endgültigen Ziel führt, sondern wie eine Welle immer hin und her geht – so ähnlich, wie man früher den Konjunkturzyklus gesehen hat. Und so ist es auch in den Disziplinen: Eine Zeitlang klagt man über die perniziöse Spezialisierung und beschwört die Einheit der Wissenschaft – dann verliert man über der Spezialisierung vollkommen den Zusammenhang in der Wissenschaft, bis es wieder in die andere Richtung umschlägt. Grob vereinfacht kann man von zwei großen Dynamiken sprechen: Die eine besteht aus Entwicklungen mit einem klaren Richtungspfeil – ein Fach verliert seine Spitzenstellung im Olymp und bekommt sie aller Voraussicht nach auch nicht mehr zurück. Die andere sind Wellentäler und Berge, die immer wieder kommen und gehen.
Wie entscheidet sich eigentlich, welche Wissenschaften gerade den Olymp besetzen?
Zunächst einmal: Dass es eine Rangordnung unter den Wissenschaften gibt, ist unbestreitbar. Am Anfang des 21. Jahrhunderts waren es die Life Sciences, die ganz oben standen. Inzwischen sehe ich aber auch die Technikwissenschaften stärker auf dem Olymp – gerade in Verbindung mit Fragen von Gesundheitstechnik und Global Health. Als Platzanweiser dient nicht zuletzt das Geld. Wo Geld hingeht, da entsteht Aufmerksamkeit und Reputation. Ich finde das aber nicht schlimm. Schlimm wäre es nur, wenn für alle Ewigkeit nur eine einzige Disziplin den Platz an der Spitze einnehmen wollte. Peter Strohschneider hat für die Exzellenzinitiative einmal das Bundesliga-Bild verwendet: Jeder Verein kann theoretisch mal an der Spitze sein, aber jeder könnte auch wieder absteigen. Am Ende geht es um die Qualität der Forschung.
"In einem gut geordneten wissenschaftlichen Kosmos ist ohnehin
jede Wissenschaft für eine andere die Hilfswissenschaft."
Apropos Exzellenzstrategie: Aus den Geisteswissenschaften heraus wird besonders misstrauisch verfolgt, ob man bei der Verteilung der Cluster zu kurz kommt oder nicht. Und wenn man sich Programme wie die neue Hightech-Agenda anschaut, drängt sich der Verdacht auf, die Geistes- und Sozialwissenschaftler seien zwar mit an Bord, aber häufig mehr als Vermittler, als Schmieröl zwischen harter Naturwissenschaft und Öffentlichkeit. Ist das ihre künftige Rolle: als Hilfswissenschaften?
Ich lebe, seitdem ich in der Wissenschaft tätig bin, ganz gut damit, dass mein Fachgebiet, die Geschichte des antiken Christentums, vom großen Basler Theologen Karl Barth als Hilfswissenschaft bezeichnet wurde. Das hat in der Generation meiner akademischen Lehrer noch fast traumatische Wirkungen gehabt. Wobei Barth mein Fach immerhin als unentbehrliche Hilfswissenschaft bezeichnet hat. Außerdem: In einem gut geordneten wissenschaftlichen Kosmos ist ohnehin jede Wissenschaft für eine andere eine Hilfswissenschaft. Für mich als Historiker ist die Neurologie eine Hilfswissenschaft, damit ich besser verstehe, was Handeln heißt und wie Entscheidungen zustande kommen. Ich studiere viele Disziplinen im Kern als Hilfswissenschaften für meine eigene. Und wäre ich Medizinethiker, dann wäre die Ethik eben eine Hilfswissenschaft der Medizin – das würde mich nicht im Geringsten aufregen. Mich beunruhigt auch nicht, dass es an Universitäten Bedeutungs- und Verteilungskämpfe gibt, in denen die eine Disziplin der anderen sagt: Du bist bloß Hilfswissenschaft. Das gehört dazu.
Nur dass längst nicht alle Geisteswissenschaftler mit dem von Ihnen beschriebenen Statusverlust so gut zurechtzukommen scheinen wie Sie. Was tun?
Alle Erfahrung lehrt: Wer sich nicht geschätzt fühlt, gewinnt durch bloßes Reklamieren keine Anerkennung. In Spardiskussionen habe ich nie erlebt, dass die Chemiker riefen: "Chemie ist wichtig." Es waren stets die Biologen und Physiker, die diesen Satz sagten. Also darf ich als evangelischer Kirchenhistoriker nicht einfach betonen: "Kirchengeschichte ist wichtig." Ich brauche andere – etwa die Mittelaltergeschichte –, die erklären: Ohne Christentumsgeschichte lässt sich das Mittelalter nicht verstehen. Dass andere mein Fach für eine Hilfswissenschaft halten, ist also kein Drama, sondern eine Chance. Zugleich schleppen wir immer noch das Erbe der Geringschätzung unserer Großväter und Urgroßväter für die Naturwissenschaften mit uns herum. Ich selbst bin groß geworden in einer Geistes- und Ideengeschichte, die weder Politik- noch Naturgeschichte kannte. Doch wenn ich Bonifatius verstehen will, muss ich wissen, wo damals Wald war – sonst erschließt sich nicht, warum seine epochenmachende Tat das Fällen einer Eiche in Hessen war. Sie wurde stets als religiöse Machtdemonstration gedeutet, lange nicht als Antwort auf die Frage: Warum gerade eine Eiche? Die Chance durchlässigerer Disziplinengrenzen haben wir bisher zu wenig genutzt. Nehmen Sie die Inschrifteneditionen: Wir verwandeln dreidimensionale Stein- und Marmorstücke in unseren Editionen in lesbare Texte – aus guten Gründen. Aber damit geht der materielle und naturräumliche Kontext verloren. Kulturelles Erbe darf nicht nur als Text oder Idee im luftleeren Raum erscheinen. Darum wünsche ich mir, dass aus der Erfahrung von Demütigung – wir sind aus dem Olymp gefallen – produktive Energie erwächst: Was können wir von den Disziplinen lernen, die heute an der Spitze stehen?
Ihre Botschaft an die geknickten Geisteswissenschaftler lautet also: Habt euch nicht so?
Das würde sehr arrogant klingen, wenn vom Gendarmenmarkt aus ein hoffentlich mit der Gabe der Heiterkeit gesegneter Geisteswissenschaftler sagen würde: "Leute, regt euch nicht so auf." Nein. Zumal ich selbst den Kummer kenne, wenn beispielsweise ein Exzellenzcluster nicht fortgesetzt wird. Das Berliner Antike-Cluster Topoi ist, wie einige andere geisteswissenschaftliche Anträge, nicht in die zweite Verlängerung gekommen. Es ist also nicht so, dass ich hier stehe und als vom Glück Verwöhnter an Pechvögel Ratschläge verteile. Mir geht es darum, zu fragen: Wie kann man eine schwierige Situation produktiv nutzen, statt zu klagen? Ich selbst habe versucht, genau das zu tun. Etwa indem ich gefragt habe, ob wir uns nicht stärker mit biokulturellem Erbe beschäftigen sollten – wie es das Dahlemer Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte schon früh mit Blick auf Technik getan hat. Die besondere Bedeutung Europas liegt historisch in seinen Erfindungen, in der Industrialisierung, der Technik, den Dampfmaschinen. Wer die Geschichte Europas beschreiben will, muss über Technik reden. In Preußen gab es im 18. Jahrhundert eine riesige Waldarmut – heute haben wir wieder mehr Wald als damals. Damals aber führte die Holzkrise zu strengen Regularien und wirkte produktiv auf die Energieforschung. Das sind Dimensionen, die Geisteswissenschaften aufdecken können. Und sobald man sie entdeckt, braucht man sofort die anderen Wissenschaften – und kann hoffen, dass auch sie uns stärker brauchen.
"Die Exzellenzstrategie ist ein Kooperationsmodell. Erfolg in den
Geisteswissenschaften hat, wer den Tellerrand überschreitet."
Aber was heißt das praktisch?
Ich würde drei Punkte nennen. Erstens: Die Exzellenzstrategie ist ein Kooperationsmodell. Erfolg in den Geisteswissenschaften hat, wer den Tellerrand überschreitet – wie das Hamburger Cluster zu Schriftartefakten, das die Materialität von Texten einbezogen und damit andere Wissenschaften gewonnen hat. Zweitens: Wir leben in einer Welt multipler Krisen. Um zu verstehen, warum in Frankreich Koalitionen im Parlament kaum gelingen, beim Protest auf der Straße aber ganz leicht entstehen, braucht man französische Geschichte. Solche Informationen liefern nur die Geisteswissenschaften. Und drittens: Wir müssen stärker die biokulturellen Dimensionen der Wirklichkeit wahrnehmen. Inschriften sind nicht nur Texte, sie sind auch Stein, füllen Raum, leiden unter Wetter. Wer kulturelles Erbe ernst nimmt, braucht Natur- und Technikwissenschaften – und macht sich selbst so auch unverzichtbar.
So dass Politik oder andere Disziplinen nicht mehr um die Erkenntnis herumkommen: Ohne Geisteswissenschaften geht es nicht. Nur sehe ich das bislang nur in der politischen Rhetorik, nicht in der Verteilung der Steuermittel.
Eine bemerkenswerte Phase in den Beziehungen der Wissenschaften zur Politik ist definitiv vorbei – als zwei Politikerinnen aus der physikalischen Chemie und aus der katholischen Theologie wissenschaftliche Beratung für die Bedürfnisse der Tagespolitik organisiert haben. Damals fragte die Kanzlerin die Nationalakademie: Was denkt ihr? Und das hatte dann seinen Einfluss in der Politik. Diese Phase endete spätestens mit dem Beginn der Ampelkoalition. Da standen dann die Mitglieder des Beraterkreises im Handy-Adressbuch des Chefs des Kanzleramts. Mal sehen, wie sich das in dieser Legislaturperiode entwickelt. Denn die Frage bleibt ja: Wie erreicht wissenschaftliche Forschung die Politik? Das ist nicht nur ein Problem der Geisteswissenschaften, sondern der wissenschaftlichen Politikberatung allgemein. Wir Geistes- und Sozialwissenschaftler schreiben gern große Monographien. Es gibt Politiker, die das tatsächlich lesen – Olaf Scholz beispielsweise, der mich einmal bei einer Trauerfeier auf ein Buch ansprach. Aber man muss realistisch fragen: Wie viel Zeit haben Politiker? Meist nur für ein Vorwort, ein Inhaltsverzeichnis – und der Referent muss den Rest auf einer Seite zusammenfassen.
Was sind für Sie Beispiele gelungener Politikberatung durch die Geisteswissenschaften?
Alle wirklich entscheidenden Politikberatungen durch Wissenschaft spielen sich nicht auf der großen öffentlichen Bühne ab. Nehmen Sie die Aussöhnung zwischen Deutschen und Polen: Die funktionierte auch deshalb so gut, weil die sozialdemokratische Generation, die die Verträge geschlossen hat, sehr genau informiert war. Willy Brandt, Helmut Schmidt – es gibt Fotos, wie sie mit Historikern wie Fritz Stern zusammensitzen. Diese ikonischen Bilder zeigen, wie wichtig historische Kenntnisse waren, auch wenn das aus Diskretionsgründen nie groß betont wurde. Ein neueres Beispiel ist die Ukraine. Einzelne Politiker haben sich beraten lassen und verstanden: Das ist nicht nur ein Staat, der nach westlichen Maßstäben Defizite hat, sondern einer, der erstaunliche Fortschritte in Richtung Europa gemacht hat. Auch das ist ein Erfolg geistes- und sozialwissenschaftlicher Expertise.
Ihre Plädoyers in allen Ehren, Herr Markschies: Wenn die finanzielle Lage der Geisteswissenschaften gerade besser aussähe, würden dann nicht noch viel mehr Geisteswissenschaftler sagen: Was interessiert mich die Welt da draußen?
Ich denke, dass ich überhaupt kein Einzelfall bin, wenn ich von meinem Fach begeistert bin und die fröhliche Gewissheit habe, dass es einem Staat und einer Gesellschaft signifikant schlechter geht, wenn sie über ihre Geschichte nicht zureichend orientiert sind. Es ist für uns von existenzieller Bedeutung, Mechanismen der Umwandlung von Demokratien in autoritäre Staatswesen gründlich zu studieren und dann zu erkennen. Natürlich: In Zeiten knapper Kassen verteidigen sich alle. Aber ich würde mich auch verteidigen, wenn viel Geld da wäre. Denn, nochmals gesagt: Es lebt sich besser in einer Gesellschaft mit entsprechenden historischen Kenntnissen.
Welche Rolle werden bei Ihren Bemühungen um eine aktivere gesellschaftlichere Rolle der Geisteswissenschaften die Akademien spielen, Herr Markschies?
Zunächst geht es darum, deutlich zu machen: Die Akademien sind traditionell Orte geisteswissenschaftlicher Forschung. Aber heutige Geisteswissenschaften können den Herausforderungen nur gerecht werden, wenn sie Natur- und Technikwissenschaften integrieren. Manche sagen, die Akademien sollten wieder stärker Naturwissenschaften betreiben. Nein – wir werden keinen Atlas der Fixsterne erstellen, das machen internationale Observatorien vorzüglich. Und wir werden auch nicht alte Inventarkorpora wie "Das Tierreich" oder "Das Pflanzenreich" fortsetzen, schon gar nicht "Flora von Papuasien und Mikronesien". Worum es uns geht, ist, als große geisteswissenschaftliche Forschungseinrichtung vorzuführen, wie eine solche Öffnung gelingt – hin zum biokulturellen Erbe, zum entangled cultural heritage. Also studieren wir nicht nur die Beziehungen zwischen Griechenland und Deutschland bei der Edition griechischer Inschriften, sondern die Verbindung von Inschrift mit Materialität, Natur, Umwelt. Da könnten wir ein Stück Schrittmacher einer methodischen Erneuerung der Geisteswissenschaften werden – immer gemeinsam mit Universitäten und anderen Forschungseinrichtungen. Und zweitens: Die Tradition dieser Akademie ist, dass Forschung Nutzen stiften soll. Das heißt nicht Verzweckung, nicht Ende der Grundlagenforschung. Aber die Frage, welchen Beitrag wir leisten und auf welche Fragen draußen unsere Forschung antwortet, empfinde ich nicht als ehrenrührig, sondern als selbstverständlich.
Ein Beispiel?
Wenn unser Gespräch zu Ende ist, gehe ich hinunter auf den Gendarmenmarkt. Da haben wir Berlinerinnen und Berliner zu einem Geburtstagsessen der Akademie eingeladen, die sonst nie zu uns kommen würden – Menschen zum Beispiel, die uns von verschiedenen Einrichtungen vorgeschlagen wurden, weil sie sich auf besondere Weise ehrenamtlich eingesetzt haben. Mit solchen Leuten möchte ich viel stärker ins Gespräch kommen. Da muss ich erst zuhören, bevor sie mir zuhören. Solche Marktplatzformate sind für mich eine vorzügliche Gelegenheit dazu, und ich will sie intensivieren. Natürlich will ich das nicht allein, das ist durch viele Mitglieder der Akademie mitgetragen. Wir haben über 400 Mitglieder, die damit auch in ihre Universitäten hineinwirken – nicht nur in Berlin und Brandenburg, sondern weit darüber hinaus. Das, was ich zum biokulturellen Erbe gesagt habe, prägt beispielsweise die Forschungsarbeit von Dagmar Schäfer, Direktorin am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte. Sie baut gerade in China ein entsprechendes neues Forschungszentrum auf. So verbreiten sich solche Ideen – nicht, weil ich allein ein Fenster aufmache und hinausrufe, sondern weil viele sie mit- und weitertragen.
Kommentare
#1 - Schönes Interview
Ein betont optimistisches, aber schönes Interview.
Etwas Salz zum Optimismus:
"Schlimm wäre es nur, wenn für alle Ewigkeit nur eine einzige Disziplin den Platz an der Spitze einnehmen wollte. Peter Strohschneider hat für die Exzellenzinitiative einmal das Bundesliga-Bild verwendet: Jeder Verein kann theoretisch mal an der Spitze sein, aber jeder könnte auch wieder absteigen."
Entscheidendes Wort ist THEORETISCH und deshalb ist das gerade kein treffendes Beispiel.
"Also darf ich als evangelischer Kirchenhistoriker nicht einfach betonen: "Kirchengeschichte ist wichtig." Ich brauche andere – etwa die Mittelaltergeschichte –, die erklären: Ohne Christentumsgeschichte lässt sich das Mittelalter nicht verstehen."
Ich habe vor wenigen Tagen einer Forschungsministerin zugehört, die genau dieses Argument zitiert und aufgespießt hat. Und deshalb will sie jede ("Hilfs")Wissenschaft auf einige Standorte konzentrieren, weil man dann arbeitsteilig zu günstigen Preisen operieren kann. Zu viele Hochschulen, zu viele Wissenschaftler im Bundesland, die " dasselbe " machen = zu teuer. Wer vor allem von anderen Wissenschaftlern gebraucht wird, wird aus dieser Sicht eher nicht gebraucht.
#2 - Welche Wissenschaft gehört an die Spitze ?
Sagen wir es mal so (sinngemäß nach Karl Marx): Eine Disziplin wird erst dann zur Wissenschaft, wenn sie sich der Mathematik bedient.
#2.1 - Rolle der Mathematik ...
Die KI von Wikipedia stützt diese Aussage von Ihnen (leider) nicht. Aber was weiß künstliche Intelligenz schon, wenn sie sich nicht auf natürlicher Intelligenz basiert.
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