Bildung mit Billionenwirkung
Im Januar machten drei Landesbildungsministerinnen einen vielbeachteten Aufschlag für messbare Bildungsziele. Eine neue ifo-Berechnung zeigt jetzt, welche ökonomischen Dimensionen die Umsetzung ihrer Vorschläge haben könnte.
Gewaltige Summen: In den nächsten 80 Jahren könnte die Wirtschaft laut ifo Zentrum für Bildungsökonomik um zusätzlich 20,9 Billionen Euro wachsen, wenn die Bildungsziele 2035 erreicht würden. Doch die Prognose ist voraussetzungsreich. Grafik: Wiarda-Blog auf Basis von ifo-Daten.
VOR FAST GENAU einem Jahr präsentierten drei Landesbildungsministerinnen in Berlin einen Vorschlag, der das Potenzial hatte, die föderale Bildungspolitik zu verändern. Unter der Überschrift "Bessere Bildung 2035" beschrieben sie messbare Bildungsziele, darunter 50 Prozent weniger Schulabbrecher.
Vor allem aber formulierten sie als Ambition, die bundesweite Zahl der Schülerinnen und Schüler, die nicht richtig schreiben, lesen und rechnen können und daher die sogenannten KMK-Mindeststandards verfehlen, um die Hälfte zu senken. Gleichzeitig sollten 20 Prozent mehr Schülerinnen und Schüler die anspruchsvolleren Regelstandards erreichen. Schließlich sollte die Zahl derjenigen, die das obere Ende der Kompetenzskala schaffen, um 30 Prozent erhöht werden.
Was technisch klang, würde nicht nur die Bildungspolitik von Bund und Ländern durch konkrete Zielmarken öffentlich stärker in die Verantwortung nehmen – und dadurch, so die Hoffnung, eine neue Handlungsdynamik auslösen. Der Vorstoß von Karin Prien (CDU), Stefanie Hubig (SPD) und Theresa Schopper (Grüne) hatte auch das Potenzial, mehr Bildungsgerechtigkeit mit mehr Leistungsorientierung zu verbinden.
Das ifo Zentrum für Bildungsökonomik hat nun im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung berechnet, welche ökonomischen Auswirkungen die Umsetzung der drei Bildungsziele zur Steigerung der Schülerkompetenzen in Deutsch und Mathematik bis 2035 hätte. Sie wären, sagen die Forscher, gewaltig: Innerhalb der nächsten 80 Jahre würde die deutsche Wirtschaftsleistung, gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP), demzufolge um rund 20,9 Billionen Euro zusätzlich wachsen.
Billionen und Aberbillionen
Ein gewaltiger Betrag, der erstmal nicht viel sagt. Im weiteren Verlauf der Studie wird jedoch erläutert, dass er etwa zehn Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung in diesem Zeitraum entspräche – bei stabilen Preisen wohlgemerkt. Dabei entsteht das zusätzliche Wachstum nicht gleichmäßig, sondern baut sich über die Jahre exponentiell auf. So wären in den 50 Jahren bis 2075 etwa 6,7 Billionen Euro zusätzliches BIP zu verzeichnen, in den folgenden 30 Jahren dann weitere 14,2 Billionen.
"Unsere Studie belegt: Bildung ist die nachhaltigste Wachstumsstrategie, die ein Land haben kann", sagt Ludger Wößmann, Leiter des ifo Zentrums und Mitautor der Studie. Wer in bessere Schulen investiere, investiere in Fachkräfte, in Innovation und in gesellschaftlichen Zusammenhalt. "Jeder Euro, der heute in bessere Bildung fließt, sichert den Aufwärtstrend von morgen."
Zehn Prozent mehr BIP allein dadurch, dass weniger Schülerinnen und Schüler an den Mindeststandards scheitern, mehr die Regelstandards erreichen und die Leistungsspitze größer wird? Ist das realistisch? Um das beurteilen zu können, muss man sich ansehen, wie die Forscher vorgegangen sind. Sie wählten ein langfristig angelegtes Rechenmodell. Ausgangspunkt sind internationale Bildungsstudien wie PISA, in denen sich Kompetenzgewinne in standardisierten Punkten ausdrücken lassen. Konkret, so die Autoren, würde das Erreichen der drei Bildungsziele, gemessen über den IQB-Bildungstrend, zusammen langfristig zu einem durchschnittlichen Leistungszuwachs von rund 32 PISA-Punkten in Deutsch und Mathematik führen – grob gerechnet entspreche das etwa einem zusätzlichen Schuljahr.
Diesen Kompetenzzuwachs übersetzen die Forscher, angelehnt an etablierte bildungsökonomische Wachstumsmodelle, in eine höhere Produktivität der künftigen Erwerbsbevölkerung. Entscheidend ist dabei: Bewertet werden nicht einzelne Reformen oder kurzfristige Effekte, sondern ein dauerhaft höheres Kompetenzniveau ganzer Schülerkohorten.
Warum die Effekte erst spät sichtbar werden
Weil besser ausgebildete Jahrgänge erst nach und nach in den Arbeitsmarkt einträten, entfalteten sich die Wachstumseffekte zeitverzögert und zunächst langsam, nähmen dann aber mit jedem neuen Jahrgang zu. Die ausgewiesenen Billionenbeträge sind deshalb keine kurzfristige Prognose, sondern das Ergebnis einer langfristigen Simulation über mehrere Jahrzehnte – gerechnet zu konstanten Preisen, ohne Konjunkturschwankungen und unter der Annahme, dass sich höhere gemessene Kompetenzen tatsächlich in höherer wirtschaftlicher Wertschöpfung niederschlagen. Und das laut Studie in ganz Deutschland, wobei besonders diejenigen Bundesländer profitieren könnten, in denen es bislang viele Risikoschüler gibt, etwa Stadtstaaten wie Berlin und Bremen.
Doch so eindrucksvoll die Billionenzahlen wirken: Die grundlegenden Annahmen der Bildungsökonomie sind nicht frei von Fragezeichen. Der Entwicklungsökonom Lant Pritchett, langjähriger Direktor der Blavatnik School of Government der University of Oxford, wies etwa darauf hin, dass Staaten ihre Bildung massiv ausweiten könnten, ohne dass daraus automatisch Wachstum entstehe. "Where has all the education gone?", fragte er Anfang der Nullerjahre in einem vielzitierten Journal-Artikel. Andere Wissenschaftler sind der Auffassung, dass nicht Bildung an sich Wachstum erzeuge, sondern erst ihr Zusammenspiel mit einer klugen Wirtschaftspolitik – also mit Institutionen, Arbeitsmärkten und Innovationsanreizen. Auf Nachfrage sage Wößmann, es gebe je nach Rahmenbedingungen Länder mit größeren und geringeren, aber jeweils positiven Effekten, weshalb man einen mittleren Wert angesetzt habe.
In jedem Fall gilt: Je mehr geschätzte Zahlenwerte einem ökonomischen Modell zugrunde liegen – hier etwa zur künftigen Potenzialwachstumsrate der deutschen Wirtschaft, Diskontierung oder zum zusätzliche Wachstumseffekt durch Bildung –, desto stärker prägen sie die Eurobeträge, die hinten rauskommen. Diese sollte man daher weniger als exakte Prognose verstehen, wohl aber als Beschreibung möglichen künftigen gesellschaftlichen Wohlstands, ermöglicht durch bessere Bildung. "Diese Zahlen sollten Ansporn sein, die Verbesserung der Bildungsleistungen entschlossen und mit hoher Priorität voranzutreiben", sagt Dirk Zorn, Director des Programms Bildung und Next Generation der Bertelsmann-Stiftung. In einer früheren Studie zusammen mit dem ifo-Zentrum, veröffentlicht kurz nach dem Dresdner Bildungsgipfel, habe man 2009 vor den Kosten unzureichender Bildung gewarnt. Diesmal wolle man das positiv wenden: "Bessere Bildung zahlt sich aus."
Politische Ambition, föderale Realität
Apropos Ansporn: Zweifellos hat die Bertelsmann-Stiftung die Studie deshalb gerade jetzt in Auftrag gegeben, um dem Ehrgeiz der föderalen Bildungspolitik Schub zu verleihen. Es gebe ein politisches Momentum, eine wachsende Entschlossenheit zwischen Bund und Ländern, sagt Dirk Zorn. Der Fokus müsse jetzt darauf liegen, "wie wir in die Umsetzung der Bildungsziele kommen".
Die Präsentation der drei Landesministerinnen im vergangenen Januar war bereits klug gesetzt. Wenige Wochen später waren Bundestagswahlen, und im schwarz-roten Koalitionsvertrag tauchte ein Satz auf, der aufhorchen ließ. "Unter Achtung der jeweiligen Zuständigkeiten", hieß es dort, "wollen wir gemeinsam mit den Ländern für die nächste Dekade relevante und messbare Bildungsziele vereinbaren und eine datengestützte Schulentwicklung sowie ein Bildungsverlaufsregister schaffen." Kein Zufall: Karin Prien und Stefanie Hubig hatten jeweils für ihre Partei die Bildungspolitik im Koalitionsvertrag maßgeblich mitverhandelt.
Allerdings bedeutete der Koalitionsvertrag für die Bildungsministerkonferenz der Länder zugleich einen Aderlass. Mit Hubig und Prien wechselten gleich zwei ihrer erfahrensten Mitglieder in die Bundespolitik: Hubig wurde Justizministerin, Prien übernahm das neu zusammengesetzte Ressort für Bildung, Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Kurz vor hatten schon die einflussreichen Ressortschefs von Hamburg (Ties Rabe, SPD) und Hessen (Alexander Lorz, CDU) aufgehört. Die BMK musste sich also neu sortieren.
Auf die Frage, wie sie als Bundesministerin die Länder auf mehr Verbindlichkeit einschwören wolle, sagte Prien kurz nach ihrem Amtsantritt im Interview hier im Wiarda-Blog, ihr Leitmotiv sei ein "kooperativer Föderalismus". Sie wolle einen gemeinsamen Verständigungsprozess anstoßen. "Ich bin überzeugt, dies gelingt nicht über eine lange Liste von Wunschvorhaben, sondern am besten über einige wenige, dafür aber klare, ambitionierte und messbare Ziele." In einem Gespräch mit der FAZ sagte Prien nun, eine nach dem letzten enttäuschenden IQB-Bildungstrend eingerichtete Bund-Länder-Arbeitsgruppe von Staatssekretären habe seit Oktober mehrfach getagt. Bei einer Klausurtagung im Januar sollten Arbeitspakete verabredet werden. "Wir werden am Donnerstag in der Bildungsministerkonferenz auch auf Ministerebene darüber sprechen." Es sei "schon jetzt ein substanzieller Fortschritt, dass wir vertraulich über die Ursachen und dann auch über die geeigneten Maßnahmen mit den Staatssekretären fast aller Länder sprechen, auf Schuldzuweisungen verzichten und miteinander agieren."
"Mehr Daten, weniger Zufall"
Auch in einzelnen Bundesländern gibt es Bewegung. Berlins Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU) stellte vergangene Woche eine neue Bildungsstrategie vor. Es gehe um "mehr Daten, weniger Zufall" und um ein Ende der Berliner "Projektitis". Der Weg: unter anderem eine regelmäßige verpflichtende Entwicklungsdiagnostik bereits in der Kita und in der Schule der schrittweise Aufbau durchgängiger digitaler Lernstandserhebungen.
Gleich zu Beginn der Pressekonferenz in einer Grundschule in Berlin-Hellersdorf sagte die Senatorin: "Unser ganz großes Ziel ist, dass es in den kommenden Jahren deutlich weniger Kinder im Land Berlin gibt, die die Mindeststandards nicht erreichen." Oder positiv gewendet: "dass deutlich mehr Kinder die Mindeststandards erreichen – und besser noch die Regelstandards." Das klang stark nach den Bildungszielen 2035.
Worum es dabei jenseits von Anteilen, Prozentwerten oder potenziellem Wirtschaftswachstum vor allem geht, brachte schließlich die Leiterin der gastgebenden Pusteblume-Grundschule, Ute Winterberg, auf den Punkt: "Passt die Schule nicht zu den Schülern, muss die Schule sich verändern." JMW.
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