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Beispiellose Einschnitte

Das Wintersemester hat für Deutschlands Studierende eine dramatische Verschlechterung ihrer sozialen Lage mit sich gebracht, zeigen unsere Befragungsergebnisse. Deshalb sind die Bafög-Sparpläne der Bundesregierung grundfalsch. Ein Gastbeitrag von Clemens Weitz und Philipp Seegers.

DER SEIT WENIGEN TAGEN vorliegende Haushaltsentwurf der Bundesregierung sieht für das kommende Jahr substanzielle Einsparungen beim Bafög vor. Im Raum steht auf der studentischen Seite der Förderung ein Minus von über 400 Millionen Euro gegenüber diesem Jahr. Auch beim Schüler-Bafög dürften laut Vorlage viele Millionen wegfallen.

Freilich war absehbar, dass nach einer Reihe budgetärer Ausnahmejahre – geprägt von Not-, Sonder- und Extraausgaben – der Sparanspruch wieder tief ins Zentrum aller fiskalischen Planspiele rücken würde. Dennoch sei die Frage erlaubt, warum ausgerechnet bzw. auch bei Studierenden und Schüler*innen der Rotstift angesetzt wird. Noch dazu tiefrot, da die auf dem Tisch liegenden Zahlen den Topf de facto um über 20 Prozent kleiner machen würden. Zur Erinnerung: Vorgesehen waren laut Koalitionsvertrag eigentlich deutliche Verbesserungen, verbunden mit einer Bafög-Reform.


Die Studie und wer mitgemacht hat

Seit 2012 befragen" jobvalley" (die Studitemps GmbH) und das Department of Labour and Economics der Universität Maastricht halbjährlich Studierende aus ganz Deutschland. An der 23. Erhebung zur Studienreihe "Fachkraft 2030" nahmen 15.469 Personen teil, es handelt sich um eine bundesweite, repräsentative Stichprobe.

Für den in diesem Artikel auszugsweise dargestellten Fragenkomplex wurden die Teilnehmenden mit insgesamt 15 Ich-Aussagen zu Reaktionen auf die gestiegenen Verbraucherpreise konfrontiert. Eine Ergebnisdarstellung im pdf-Format mit weiteren Hinweisen zur Methodik findet sich unter diesem Link.



Zwar heißt es, dass bereits bestehende Förderungen von den Kürzungen keineswegs betroffen sein sollen. Immerhin. Und dennoch wohnt den Plänen der Regierung etwas Strukturgefährdendes inne, was vor allem beim Blick zurück ins Wintersemester 2022/23 deutlich wird. Ein Semester, um es klar auszusprechen, das für einen Gutteil aller Hochschülerinnen und Hochschüler wohl beispiellose Einschnitte mit sich gebracht hat.

Zu diesem Ergebnis kommt die jüngste Erhebung der repräsentativen Studie "Fachkraft 2030", die jobvalley zusammen mit der Universität Maastricht im April dieses Jahres durchgeführt hat. Bundesweit haben daran rund 16.000 Studierende teilgenommen. Um die problematische Richtung des vorliegenden Haushaltsentwurfs zu verdeutlichen, folgen einige ausgesuchte Ergebnisse.

200.000 Studienabbrüche und -unterbrechungen aus finanzieller Not

Im Rahmen der Befragung gaben für das Wintersemester 2022/23 bundesweit 7 Prozent der Teilnehmenden an, ihr Studium aus Kostengründen entweder komplett aufgegeben oder pausiert zu haben (Aussage: "Ich musste mein Studium aufgeben/pausieren"). Hochgerechnet auf die Gesamtzahl der Studierenden dürften damit über 200.000 Immatrikulierte von einer der beiden "Optionen" Gebrauch gemacht haben, über deren Nachteile für den deutschen Bildungs- und Wirtschaftsstandort man wohl kein Wort verlieren muss.

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Artikelbild: Beispiellose Einschnitte

Neben regionalen Unterschieden konnten in dieser Frage vor allem auf individueller Ebene teils erhebliche Disparitäten herausgearbeitet werden. So lag der Anteil der Studienabbrüche und -unterbrechungen bei Befragten mit Migrationshintergrund bei neun Prozent – also messbar über dem Durchschnitt. Ähnlich ist das Bild mit Blick auf die Dimension "Alter". Hier zeigte sich, dass in der Gruppe der mindestens 23-Jährigen rund acht Prozent der Befragten im Untersuchungszeitraum ihr Studium abgebrochen oder unterbrochen haben. Zum Vergleich: Bei den Jüngeren waren es aus Kostengründen "lediglich" vier Prozent.

Fast 20 Prozent der Studierenden mussten ihre Wohnung aufgeben

Die vorliegenden Ergebnisse zur Aussage "Ich musste meine Wohnsituation verändern (Auszug, Verkleinerung etc.)" legen nahe, dass bewusstes Energiesparen im Wintersemester für fast jeden fünften Befragten nicht ausreichte, um die eigenen vier Wände halten zu können. Konkret gaben 18 Prozent der Teilnehmenden an, ihre Wohnsituation ungewollt verändert zu haben. Dazu auch hier die absolute Zahl: Gemessen an der Gesamtheit der Studierenden in Deutschland entspricht diese Quote über 500.000 Hochschülerinnen und Hochschülern, wobei allerdings nicht explizit erfragt wurde, welchen Anteil an den kostenbedingten Umzügen – als vermeintlich "einfachste" Alternative – die Rückkehr ins Elternhaus hatte.

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Artikelbild: Beispiellose Einschnitte

Erhebliche Abweichungen liegen mit Bezug zur Wohnsituation auch in regionaler Hinsicht vor. So mussten laut eigener Aussage im vorangegangenen Semester in Sachsen-Anhalt und Brandenburg jeweils 25 Prozent (!) der Befragten ihren Wohnraum kostensparend anpassen (Auszug, Verkleinerung etc.) – deutliche Höchstwerte vor Stadtstaat Hamburg, wo die Quote bei 21 Prozent lag. Hinzu kommt: Fast jeder zweite Teilnehmende sah sich im Wintersemester 2022/23 aus finanziellen Gründen gezwungen, im Wohnbereich weniger Energie zu verbrauchen. So gaben bei der Aussage "Ich musste mich beim Heizen meines Zimmers/meiner Wohnung einschränken bzw. Strom sparen" exakt 49 Prozent der Hochschülerinnen und Hochschüler an, ihren Verbrauch entsprechend nach unten angepasst zu haben. Interessanterweise weichen hierzu die Angaben von weiblichen und männlichen Befragten deutlich voneinander ab. Denn während Hochschülerinnen in bundesweit 57 Prozent der Fälle angaben, den Energieverbrauch gesenkt zu haben, geschah dies auf Seite der Hochschüler deutlich seltener (41 Prozent).

Erhebliche Einschränkungen auch beim

Lebensmitteleinkauf


Welch gravierenden Einfluss die gestiegenen Verbraucherpreise im Wintersemester 2022/23 auch auf das alltägliche Konsumleben der Studierenden hatten, zeigt die Auswertung für die Aussage „Ich musste mich beim Lebensmittelkauf einschränken“. Sie wurde von 58 Prozent (!) aller Befragten bejaht. Ferner fällt dazu auf, dass die Quote in keinem der 16 Bundesländer unterhalb der 50-Prozent-Marke liegt, hoch bedenkliche Spitzenwerte konnten in Mecklenburg-Vorpommern (67 Prozent) und Thüringen (69 Prozent) gemessen werden.

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Artikelbild: Beispiellose Einschnitte

Auch in zwei weiteren Bereichen des studentischen Konsumlebens musste laut Umfrage deutlich Verzicht geübt werden. Und zwar beim Einkauf von Kleidung sowie beim Essengehen und -bestellen. Was letztgenanntes Thema betrifft, lag die studentische Verzichts-Quote ebenfalls (und erwartungsgemäß) auf hohem Niveau. So stimmten insgesamt 64 Prozent der Befragten der Aussage "Ich musste mich beim Essengehen/-bestellen einschränken" zu. Auf weiblicher Seite waren es sogar 69 Prozent, während die Quote auf männlicher Seite bei 58 Prozent lag.

Was den Aspekt Kleidung betrifft, gab weit mehr als jeder zweite Befragte an, im Untersuchungszeitraum weniger als geplant / gewünscht erworben zu haben. Konkret: Die Aussage "Ich musste mich beim Einkaufen von Kleidung einschränken" wurde von fast 60 Prozent der Studierenden bejaht, wobei auch hier die Quote auf weiblicher Seite recht deutlich über der Quote der männlichen Befragten lag.

Freizeitaktivitäten aus Kostengründen deutlich

runtergefahren

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Artikelbild: Beispiellose Einschnitte

Dass die allgemein gestiegenen Verbraucherkosten im studentischen Leben auch abseits von Studium und alltäglichem Bedarf tiefe Spuren hinterlassen haben, zeigen die vorliegenden Zahlen für die Aussage "Ich musste mich bei meiner Freizeitgestaltung (Sport, Theater, Kino etc.) einschränken". Sie wurde von nahezu 60 Prozent aller Befragten bejaht, was folglich gerade an den Hochschulstandorten zu messbaren Umsatzeinbußen in primär studentisch genutzten Freizeiteinrichtungen und -unternehmen geführt haben dürfte. Überdies gaben rund 30 Prozent der Befragten an, im zurückliegenden Wintersemester eine bereits fest eingeplante Reise aus Kostengründen verschoben oder abgesagt zu haben.

Die Umfrageergebnisse schreien nicht nach weniger Bafög, sondern eindeutig nach mehr

"Die Bundesregierung lässt das Bafög ausbluten", hat sich dieser Tage – allen voran – Matthias Anbuhl, Vorstandsvorsitzender des Deutschen Studierendenwerks, mit markigen Worten des Unverständnisses zu den Plänen der Regierung geäußert. In seiner Kritik verweist er auf unzureichende Erhöhungen "über viele Jahre", die nun, vor dem Hintergrund der gestiegenen Verbraucherpreise, ihre ganze Negativwirkung entfalten würden. "Studienabbrüche aus Geldmangel kann sich unsere Gesellschaft nicht leisten. Diese jungen Menschen sind die künftigen Lehrkräfte, Ärzt*innen und Ingenieur*innen, die wir so händeringend brauchen", lautet sein dringlicher Appell nach Berlin.

Aus der Perspektive unserer eigenen Forschung kann man Matthias Anbuhl da nur zustimmen. Denn hinter den Studierenden in Deutschland liegt (mindestens) ein Halbjahr, das in vielerlei Hinsicht nicht nach gleich viel und schon gar nicht nach weniger schreit, sondern eindeutig nach mehr – und zwar nicht nur für den Bereich Bafög. Daher: Mit ihren Planungen setzt die Bundesregierung ein erschreckend kaltes Signal gegen die Verbesserung der Chancengleichheit, das dem deutschen Bildungs- und Wirtschaftsstandort langfristig schaden wird. Noch dazu ein Signal zur Unzeit, weit an der ohnehin verzichtsreichen Lebensrealität vieler Studierender vorbei.

Clemens Weitz ist Geschäftsführer von jobvalley. Philipp Seegers ist Research Fellow an der Universität Maastricht.

Kommentare

#2 -

Abbrecher | Di., 18.07.2023 - 23:34
7% unter/ brechen ihr Studium aus finanziellen Gründen ab. Ist das nun viel oder wenig? Hat es was mit der wirtschaftlichen Entwicklung zu tun oder ist das ein „üblicher Wert“, der auch in vergangenen Jahren vorkam? Das müsste man wissen um die ansonsten wirklich sehr interessanten Ergebnisse der Studie besser einordnen zu können. Gab es diese Studie (in diesem Design, mit ähnlichem Fragebogen, mit ähnlicher Grundgesamtheit) schon einmal?

#3 -

Thorsten Beyer | Mi., 19.07.2023 - 11:40
Danke für diesen Gastbeitrag, der wichtiges empirisches Material zur finanziellen Lage der Studierenden zusammenträgt.
Eine Antwort an Robert Beltzig: Verteilungsfragen sind keine Naturgesetze, sondern Ergebnis politischer Kompromisse. Die finanzielle Lage der Studierenden lässt sich problemlos durch aktive Fiskalpolitik beantworten. Insbesondere in der Rezession sind Ausgabensteigerungen der öffentlichen Hand notwendig. Es geht also nicht um Endzeitszenarien, wonach "der Wohlstand", der immer schon nur regional und sozial verschieden verteilt war, "vorbei" ist, sondern um die Frage, wie künftig die Grundlage für wirtschaftliche Prosperität geschaffen wird. Mit einem selektiven Bildungswesen, in dem Viele nur mangelhaft ausgebildet sind, wird das nicht möglich sein. Eine angemessene Frage wäre vielmehr: Verfolgt die Bundesregierung eine kluge Wirtschaftspolitik? Ich habe da meine begründeten Zweifel.

#5 -

naja | Mi., 19.07.2023 - 02:00
@Thorsten Beyer: ob bei einer finanziellen Abbrecherquote von 7% die Grundlage von künftiger wirtschaftlicher Prosperität gefährdet ist, darf doch bezweifelt werden. Und ob sich mit dieser Quote die Behauptung eines "selektiven"Bildungswesens, in dem VIELE nur mangelhaft ausgebildet sind, begründen lässt, erscheint ebenfalls zweifelhaft. Wirtschaftliche Prosperität wird eher dadurch gefährdet, dass das duale Ausbildungssystem in D allmählich ruiniert ist.

#6 -

Thorsten Beyer | Do., 20.07.2023 - 13:40
@Robert Beltzig
Was hat Münkler zu dieser Diskussion beizutragen?

@naja
Abbrecherquote hin oder her, in einer Rezession muss aktiv gegengesteuert werden. Worauf Sie abzielen, ist die Frage, ob überhaupte jede/r Abiturient/in studieren sollte. Sicher nicht, eine Reform der Dualen Ausbildung wird seit Jahr und Tag angekündigt. Auch dort hält die Verwissenschaftlichung Einzug (Stichwort Duales Studium); und auch dort hätte man wiederum mit Abbrechern zu tun.
Kluge Wirtschaftspolitik ist auch mehr als nur Ausbildung/Bildung, sondern auch günstige Energie, Investitionsbereitschaft usw. Was trägt die Bundesregierung dazu bei?

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