Die Abiturnoten steigen – und das ist kein Skandal
Die Debatte über immer bessere Abiturzeugnisse vor allem im Osten läuft ohne Kontext ins Leere. Es lohnt der Blick in die DDR-Geschichte.
Bild: brgfx / Freepik.
DER HEIßESTE SOMMERLOCH-ANWÄRTER dieser Wochen? Das Wetter. Die Frage, ob der Juli in Deutschland zu kalt und zu regnerisch war – oder einfach nur ein ganz normaler –, sorgt für zuverlässig aufgeheizte Debatten. Weitere Kandidaten: Markus Söders Vorstoß, Geflüchteten aus der Ukraine kein Bürgergeld mehr zahlen zu wollen. Und: die angebliche Inflation der Abiturnoten. Eine Klage, die jedes Jahr aufs Neue laut wird.
Dabei ist die Geschichte schnell erzählt: Ja, der bundesweite Abi-Schnitt geht seit Jahrzehnten kontinuierlich nach oben – um etwa 0,1 Notenpunkte pro Dekade. In der Corona-Zeit kam es infolge diverser Sonderregelungen zu einem abrupten Sprung, inzwischen scheint die Entwicklung wieder dem bekannten – gemächlicheren – Trend zu folgen. Sind die immer besseren Noten ein Problem? In jedem Fall, das steht fest, nicht eines der vordringlichsten in unserem Bildungssystem.
Eigentlich wollte ich deshalb auch diesen Sommer zu dem Thema die Klappe halten. Doch dann hat sich Dieter Dohmen zu Wort gemeldet, Bildungsökonom, Chef des von ihm gegründeten privaten "Forschungsinstituts für Bildungs- und Sozialökonomie (FiBS)" und nie um einen Debattenbeitrag verlegen. In seiner pünktlich zum Juli veröffentlichten Analyse "Inflation der Abiturnoten – Mythos oder Realität?" stellt er die Vermutung auf, es könnte eine "positive Korrelation" bestehen: "Je geringer der Anteil an Schüler:innen mit Migrationshintergrund bzw. je größer die Bevölkerungsdichte, desto höher tendenziell der Anteil mit (sehr) guten Abiturnoten."
Zwar betont Dohmen selbst, diese Beobachtung solle "zunächst einmal nicht überbewertet oder gar als Erklärfaktor bewertet werden". Doch tatsächlich fällt seit vielen Jahren auf: Die Abiturnoten in Ostdeutschland liegen noch einmal über denen im Westen. Thüringen, Sachsen und Brandenburg führen die Skala fast schon traditionell an. Nur sollte man inmitten aufgeregter Migrationsdebatten auch beim Abithema ganz genau hinsehen. Da entdeckt man dann: So wenig, wie das Thema Noteninflation neu ist, so sehr hat es eine ganz spezielle ostdeutsche Geschichte – eine, die sich offenbar bis heute auswirkt.
Der Bildungsstatistiker Helmut Köhler beschrieb schon vor einem Vierteljahrhundert eine "Inflation der guten Noten in der DDR der 1970er und 1980er Jahre". In der Praxis der Notengebung, der Versetzung und der Vergabe von Abschlüssen sei das Bemühen erkennbar gewesen, "Leistungsunterschiede auszugleichen und das Erreichen des Bildungsziels ohne institutionelle Ausgliederung der schwächeren Schüler für alle zu sichern". Oder wie es der MDRin einem Beitrag über die Polytechnische Oberschule (POS) ausdrückte: "Die Noten sollten die Leistungsfähigkeit des sozialistischen Bildungssystems demonstrieren. Gleichzeitig wurden Zensuren als Ausdruck der jeweiligen Leistung der Lehrerinnen und Lehrer gewertet."
Dass die besseren Noten in der DDR zu einem Leistungsabfall geführt hätten, lässt sich empirisch nicht belegen – im Gegenteil: Bei einer internationalen Lesestudie im Jahr 1991 schnitten die POS-Schüler signifikant besser ab als ihre westdeutschen Altersgenossen. Daraus lasse sich schließen, so Köhler, "dass die Sicherung des Leistungsniveaus bzw. der Leistungsanreiz für die Schüler auch durch andere pädagogische oder institutionelle Vorkehrungen bewirkt werden kann, als dies in den alten Bundesländern weithin durch zensurengesteuerte Selektionsprozesse versucht wurde."
Etwas von dieser Entdramatisierung würde auch dem Umgang mit der Abinoten-Inflation gut tun.
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Kommentare
#1 - Schlechter Vergleich
Beim Lesen kurz gewundert, an Berichte über Schulerfahrung von Kollegen mit DDR-Hintergrund gedacht, die von einem sehr kompetitiven System berichteten und nachgeschaut: die POS entspricht der Mittelschule, nicht dem Gymnasium. Nur 8 bis 10 Prozent eines Jahrgangs gingen in der DDR in die Erweiterte Oberschule, die zum Abitur führte. "Aus einer POS-Klasse wurden durchschnittlich zwei bis drei Schüler in die weiterführende Schule aufgenommen, was bei einer Klassenfrequenz von etwa 22 Schülern einen enormen Leistungsdruck erzeugte." https://www.mdr.de/geschichte/ddr/alltag/erziehung-bildung/eos-erweiterte-oberschule-100.html. So ganz stimmt das mit den Wohlfühlnoten nicht.
Mitglied seit
10 Monate 3 Wochen#1.1 - Die POS
Liebe Frau Himmelreich,
vielen Dank für Ihren Kommentar. Die POS besuchten allerdings meines Wissens zunächst alle Schüler miteinander, und der Wechsel zur EOS folgte in der späten DDR erst ganz am Ende, in den letzten zwei Jahren. Insofern wurde die Notenkultur in der DDR vor allem an der POS geprägt, um die ging es mir. Dass an die EOS vergleichsweise kleine Schülerzahlen wechselten, ist richtig. Nur ist mir keine Arbeit bekannt, die die dortigen Noten untersucht. Ich vermute, dass sie ebenfalls sehr gut ausfielen. Hier würde ich mich über Hinweise auf eine wissenschaftliche Untersuchung sehr freuen.
Beste Grüße
Ihr J-M Wiarda
#1.1.1 - Noten in der DDR
Sehr geehrter Martin Wiarda,vielen Dank für Ihren Beitrag. Es gab auch bei den EOS Unterschiede, und ganz so leicht war es nicht, gute Noten zu erzielen. Das Prüfungssystem hatte hohe Hürden, doch es gab Stellschrauben, durch die ideologisch weniger angepasste Kinder in den Vornoten und in mündlichen Prüfungen rausflogen oder schlechtergestellt wurden. Umgekehrt wurden Arbeiterkinder, zu denen auch die Kinder von Stasioffizieren zählten, besser benotet. Das hing auch mit der Angst der Lehrer vor Schwierigkeiten und mit den Sanktionsmöglichkeiten im DDR-Schulsystem zusammen.
#2 - Interessant, aber doch willkürlich
Der Beitrag ist interessant, die Auswahl der "Alternativerklärung" aber doch sehr willkürlich. Mindestens ebenso gut könnte man darauf hinweisen, dass im Osten seit Jahrzehnten eine instruktionstische Unterrichtskultur herrscht: tendenziell ein frontal ausgerichtetes, hierarchisches und auf Leistung fokussiertes Unterrichtsdenken. Dagegen im Westen eine weit stärker reformpädagogisch ausgerichtete/beeinflusste Kultur. Was sicher auch ein Grund dafür ist, dass G8 im Osten kein Problem ist, wohl aber im Westen. Mit der Frage, ob das Abitur zu gut bewertet bzw. zu wenig aussagekräftig ist, hat all das im Übrigen wenig zu tun. (Beide Fragen muss man bejahen, und zu glauben, das sei kein Problem, ist eben Teil deutscher Realitätsverleugnung, wie wir sie auch andernorts sehen.)
#4 - Ost und West
"Bei einer internationalen Lesestudie im Jahr 1991 schnitten die POS-Schüler signifikant besser ab als ihre westdeutschen Altersgenossen. Daraus lasse sich schließen, so Köhler, "dass ... "
So steht es oben. Aber in dem verlinkten Artikel "Inflation der guten Noten ..." von Köhler steht es am Schluss anders:
"Ähnliche Befunde ergaben sich aus der Lesestudie der IEA von 1991. Die POS-Schüler hatten signifikant höhere Testleistungen als die westdeutschen Schüler bei etwas geringerer Streuung und gleicher Leistungsspitze. Ohne die Jugendlichen mit fremder Muttersprache, die unter den westdeutschen Hauptschülern stark vertreten waren, kam man über alle Schularten hinweg zu einer fast gleichen Verteilung."
Die "fast gleiche Verteilung" kann nur bedeuten: Dass die POS-Schüler insgesamt besser waren, lag nicht an pädagogischen Maßnahmen, sondern daran, dass im Westen damals schon so viele Schüler mit fremder Muttersprache waren, die naturgemäß in Deutsch-Tests Schwierigkeiten hatten (auch PISA zeigte das regelmäßig). Wie die in der DDR klargekommen wären, werden wir nie erfahren.
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