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Mut zum Protest für eine andere Universität

"Vorübergehend" ist die Krisenlosung von Hochschulen, deren Leistung von der Opferbereitschaft ihres Personals abhängt. Eine anders verstandene Wissenschaft braucht eine Lobby. Sie braucht uns als Lobby. Ein Gastbeitrag von Friedemann Vogel. 

Friedemann Vogel ist Professor für Sozio- und Diskurslinguistik an der Universität Siegen.

DER TEILCAMPUS und das Gebäude, auf dem ich mein Büro habe, sollte für meinen eigenen Fachbereich – einen der größten der Universität – nur eine vorübergehende Bleibe bieten. Wir haben aber inzwischen gelernt, und wie könnte es anders sein, dass "vorübergehend" ein sehr dehnbarer Begriff ist und auch mal schnell über ein Jahrzehnt vergehen könnte. Etwas, das nur vorübergehend genutzt werden soll, wird natürlich nur so weit instandgehalten, wie es unbedingt nötig ist: Eine Cafeteria oder Gemeinschaftsräume gibt es nicht, dafür sterile Krankenhausoptik ohne jede akademische Anregung. Parken im maroden Parkhaus ist verboten, der Nahverkehr ist unzuverlässig.

 

Immerhin, wir haben Strom, Licht und fließend Wasser. Aber weil das ein bisschen wenig ist und die Gebäude derzeit auch empfindlich abkühlen, bleiben viele – sei es Personal oder auch Studierende – oft nur so lange, wie es sein muss. Das wiederum dient zur Legitimation weiterer Sparmaßnahmen: wenn doch ohnehin niemand da sei, was brauche es da Büros und Verpflegung? Und hat die Pandemie nicht gezeigt, dass digitale Distanzlehre doch auch ganz gut funktioniert? Während Studierende ihre Pausen zwischen Vorlesungen auf dem kalten Gang oder in ihren Autos verbrachten, verschickte die Universitätsleitung moralinsaure E-Mails mit der Ankündigung, in der Vorweihnachtswoche aus Energiespargründen die Heizungen herabzudrehen – und appelliert an Belegschaft wie Studierende (die das Spiel längst durschaut haben), aus Infektionsschutzgründen doch lieber zu Hause zu arbeiten.

 

Duldsame Verfügungsmasse
klammer Staatshaushalte

 

So oder ähnlich scheint es nicht nur in Siegen, sondern an vielen Universitätsstandorten zu gehen. Die Gründe sind natürlich vielfältig und "komplex", aber meistens geht es um fehlendes Geld, um zurückgehende Studierendenzahlen, um Raummangel, und im Zweifel um den Brandschutz. In Zeiten multipler Krisen gelten die Universitäten (genauso wie die Schulen) als duldsame Verfügungsmasse für klamme Bundes- und Landeshaushalte. Rektorate reichen die Sparzwänge an die Fakultäten und Fächer weiter: Einstellungsstopps und Ausgabensperren präkarisieren zunehmend den wissenschaftlichen Arbeitsalltag für Beschäftigte wie Studierende. 

 

Die Folgen tragen auch diejenigen, die im System festangestellt sind und entweder an der Qualität von Forschung und Lehre sparen oder ihre Gesundheit aufs Spiel setzen. Wer daraus keinen Profit schlägt und es sich leisten kann, zieht sich mehr und mehr auf seine kleinen Refugien zurück, entsolidarisiert, auch in der Hoffnung, die nächste Sparwelle möge andernorts an Land gehen. Besonders hart aber trifft es den wissenschaftlichen Mittelbau, der zugleich in Verwaltung und Lehre die Grundlast der universitären Infrastruktur gewährleisten soll.

 

Im Mittelbau ist "vorübergehend" schmerzhafter Alltag: Laut Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs von 2021 sind 9 von 10 der nichtprofessoralen, aber hauptberuflich wissenschaftlich Beschäftigten befristet: das sind 98 Prozent der unter 35-Jährigen. In der Alterskohorte der über 34 und unter 45-Jährigen sind immer noch rund 80 Prozent befristet beschäftigt. Was eine Dauerbefristung im Zweifel mit Kleinstkettenverträgen bis in die 40er bedeutet, kann sich der Großteil der Kanzler und Rektoratsmitglieder offenbar nicht vorstellen. Kanzlerschaft und Hochschulrektorenkonferenz sind sich einig: So hohe Befristungen sind notwendig, um möglichst viele Leute weiterqualifizieren zu können. – Das ist natürlich naiv, wenn nicht sogar ein grober Täuschungsversuch.

 

Wer schon hatte, 

dem wurde gegeben

 

Wem Weiterqualifizierung wirklich am Herzen läge, der sorgte effektiv dafür, dass Promovierende und Habilitierende nicht in Verwaltungs- und Lehraufgaben untergehen, sondern dass sie in der knappen Zeit ihre Diss oder Habil schreiben können. Machen wir uns nichts vor: der Großteil an echter Qualifizierungsarbeit findet in unbezahlter Mehrarbeit statt. An Freizeit oder Familie ist da in aller Regel nicht zu denken – das wiederum ist der Hauptgrund schlechthin, warum vor allem Frauen und Leute mit Care-Verpflichtungen spätestens nach der Promotion dem Wissenschaftsbetrieb den Rücken kehren. Unter den Habilitierten sind es mehr als doppelt so viele Männer wie Frauen; bei W3-Neuberufungen sind Frauen mit einem Anteil von nur 27 Prozent systematisch unterrepräsentiert.

 

Die Slogans "Leistung zahlt sich aus" und "Familiengerechte Hochschule" waren zwar schon immer eine Chimäre, für junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind sie heute nur noch zynisch: Selbst großes Engagement in der Lehre, Erfolg in der Forschung und Geschick im Umgang mit der universitären Bürokratie sind keine Garanten für eine zumindest halbwegs vernünftige berufliche oder auch private Lebensplanung.

 

Die aktuellen Krisen – Finanzkrise, Pandemie, Energiekrise und Inflation – verschärfen die ohnehin prekäre Situation. Die kleineren, jüngeren Reformunis trifft es stärker als die großen, mit gewachsenem symbolischem Kapital und vor allem Drittmitteln ausgestatten Universitäten. Eine Entwicklung, die schon vor zwei Jahrzehnten für viele Wissenschaftssoziologen absehbar war: Denn wer schon hatte, dem wurde gegeben – das ist das Prinzip "Exzellenzinitiative". "Leuchttürme" wurden so nicht prämiert, sondern erst erzeugt.

 

Man würde viele der Einschränkungen – auch Mängelbewirtschaftung zur Bewältigung von Krisen – vielleicht zeitweise hinnehmen, gäbe es bei den hochschulpolitischen Entscheidungsträgern zumindest im Ansatz – nur im Ansatz! – so etwas wie ein affirmatives Leitbild von universitärer Wissenschaft und Ausbildung, das über billige Slogans und Hochglanzbroschüren hinausginge: Wie könnte und sollte Universität strukturell aussehen, die Forschung, Lehre und Praxis systematisch zusammendenkt und nicht nur als Gegenstand von Geld-einwerbenden "Innovationsprojekten" verramscht?

 

Eine Universität, die Lernprozesse (und – nebenbei gesagt – auch ihre eigene Forschung zu gelingendem Lernen) ernst nähme, Freiheiten und Wahlmöglichkeiten einrichtete, statt sie durch Mängellehre und digitale oder rechtliche Verknöcherung geradezu zu verunmöglichen? Eine Universität auch mit einem Campus, der gerade in der Krise Orientierung stiftet, der kulturellen wie sozialen Austausch befördert und nicht weiter beschränkt, der – wenn es kalt wird – geistig wie physisch warme Stuben bereithält, anstatt den Einzelnen nach Hause zu schicken und die Universität auf dem Rücken von Personal und Studierenden zu sanieren können glaubt. Eine Universität, deren Lehr- und Forschungsqualität nicht von der Opferbereitschaft ihres Personals abhängt, sondern durch gute Arbeitsbedingungen auch langfristig ihrem gesellschaftlichen Auftrag gerecht werden kann: nämlich Bürgerinnen und Bürger dabei zu unterstützen, fachlich kompetent, für soziale Ungleichheit sensibel und habituell zur demokratischen Teilhabe befähigt die Krisen des Alltags bewältigen zu können.

 

Hanna als
Hoffnungsspenderin

 

Eine so verstandene Wissenschaft braucht eine Lobby, sie braucht uns als Lobby! In den Ministerien, Rektoraten und Kanzlerstuben sucht man sie vergebens. Und tatsächlich tut sich etwas: Waren es 2009 im bundesweiten Bildungsstreik vor allem die Studierenden, die gegen Studiengebühren und modularisierte Lernkorsette auf die Straße gegangen sind und Dinge bewegt haben, ist es heute zunehmend der akademische Mittelbau, der sich zusehends organisiert und die Probleme öffentlichkeitswirksam thematisiert. Die vor allem in Social Media entwickelte Protestbewegung #IchBinHanna hat innerhalb weniger Monate Tausende mobilisiert, sich überhaupt einmal zu äußern; es entstehen neue lokale Mittelbau-Initiativen; bundesweite Organisationen wie das "Netzwerk für Gute Arbeit in der Wissenschaft" tragen die Fakten und Argumente zusammen, vernetzen und treiben die hochschulpolitische Debatte voran. Angesichts der aktuellen Sparmaßnahmen im Bildungssektor gibt es außerdem an verschiedenen Standorten erste Demonstrationen, zuletzt etwa in Greifswald und Darmstadt.

 

Diese Entwicklung macht Hoffnung, aber von einem Umdenken in den hochschulpolitischen Entscheidungsgremien sind wir noch weit entfernt. Umso wichtiger ist, dass wir uns quer zu den Statusgruppen klarmachen: Nur gemeinsam können wir verhindern, dass die Bildungs- und Wissenschaftsstandards in diesem Land langfristig immer weiter gesenkt werden! Dazu braucht es Austausch auf Augenhöhe und Verständnis für wechselseitige Abhängigkeiten, aber auch den Mut zu organisiertem Protest!


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Kommentare: 6
  • #1

    Ein Mittelbauler (Donnerstag, 02 Februar 2023 11:06)

    Danke für die treffende Beschreibung. Mein Eindruck ist, dass in Deutschland der gordische Knoten aus hochschulautonomer Personalpolitik, Finanzierungszuständigkeit der Länder und enormer Drittmittelfinanzierung durch den Bund nur in einer großen, gemeinsamen Kraftanstrengung zu lösen ist. Prekarisierung durch Befristung, durch Hochdeputatsstellen, durch privates Promovieren und Habilitieren "on top" zur Arbeitszeit, durch die Marginalisierung des Mittelbaus in universitären Entscheidungsgremien (Professorenmehrheit), durch die Tarifsperre im WissZVG nehmen den Beschäftigten des Mittelbaus die Ressourcen, sich für ihre Institution einsetzen zu können und zu wollen, da der Einsatz für eine Verbesserung des Systems aus einer maximal schwachen Position heraus einem Aufreiben auf Kosten der Gesundheit und Karriere gleichkommt. Das Ergebnis sind die beschriebenen Zustände. - Dabei ist das Wort "Mittelbau" irreführend, bilden doch die befristet beschäftigten Wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen nicht nur das Zwischengeschoß sondern die übergroße Mehrheit des wissenschaftlichen Personalgebäudes. Dass es dem System Universität gelingt, die wichtigste Ressource, nämlich die wissenschaftlichen Fachkräfte, so prekär zu halten, zeigt die eigentliche Verachtung, das Ressentiment der Gesellschaft gegenüber Wissenschaftler*innen. In der als universitätsinternen Game-Show angelegten Wissenschaftskarriere kann beim Vorsingen, auf das man sich nach WissZVG 12 Jahre vorbereiten darf, halt nur eine*r die Professur gewinnen. Bei "Deutschland sucht den Professor" (DSDP) treten die Intelligenten, die die statistisch schlechten Aussichten einer Universitätskarriere im "Up-or-out-System" kennen, gar nicht erst an. Politik, Hochschulleitungen und Professor*innen-Jury buzzern auf ihren Lehrstühlen dann noch alle unbequemen, ausgebrannten oder nicht zur äußersten Selbstausbeutung bereiten WiMis fröhlich nach 12 Jahren raus und reproduzieren eine Machtelite, die die Spiele in der erreichten Machtposition mit Vergnügen am Laufen hält. Wer will sich schon an seinem Lehrstuhl mit unbefristetem Personal herumschlagen, das auf Einhaltung der Arbeitszeit hinweist, sich für den Mittelbau einsetzen will oder sich eigenen Forschungsthemen widmen möchte? - Hochschulen demokratisiert euch! Kein Geld für Feudalstrukturen!

  • #2

    Verblüffend (Samstag, 04 Februar 2023 17:29)


    Ich bin Professor an einer Universität in einem MINT Fach. Und ist stimme dem Artikel in ungefähr nichts zu. Um mich herum sind viele zufriedene Doktorand*innen, für PostDoc Stellen finden wir kaum qualifiziertes Personal, mit der Verwaltung schlagen sich praktisch nur die Profs rum (da ist sich der Mittelbau viel zu fein für), und alle können im wesentlichen forschen, was sie wollen (wobei der Umfang vom Erfolg in der Drittmitteleinwerbung abhängt).

    Es gibt offensichtlich viele parallele Universen.

  • #3

    Josef (Dienstag, 07 Februar 2023 15:29)

    @Verblüffend: "Um mich herum sind viele zufriedene Doktorand*innen, für PostDoc Stellen finden wir kaum qualifiziertes Personal"
    Diese Schilderung zeigt doch bereits, dass vermutlich auch bei Ihnen am Fachbereich nicht alles so rosig ist, wie Sie es wahrnehmen. Wäre die Doktorand*innen so hoch zufrieden mit den Arbeitsbedingungen im Wissenschaftsbereich, müsste es doch ein leichtes sein, entsprechend viele von ihnen auch für die nächste Phase im Wissenschaftsbetrieb, die Postdoc-Phase, gewinnen zu können ...

  • #4

    Ralf Meyer (Mittwoch, 08 Februar 2023 18:52)

    @Josef: In vielen Bereichen ist die Nachfrage nach gut ausgebildeten Fachkräften derzeit viel höher als das Angebot. Das gilt z.B. für Wissenschaftler*innen in vielen MINT-Fächern, aber auch Elektriker*innen, Lehrer*innen, usw. Fachkräfte mit passenden Qualifikationen können sich aussuchen, wo sie arbeiten wollen, und weder die Firmen noch die Unis können alle Stellen mit Fachkräften besetzen. Die Arbeitsbedingungen sind für die Hochschulen im Wettbewerb um Fachkräfte hierbei sekundär. Denn was Gehalt und Arbeitsplatzsicherheit angeht, können sie sowieso nicht mit den Firmen mithalten, schon wegen der Tarifregeln im öffentlichen Dienst. Auch die öffentliche Verwaltung hat übrigens zur Zeit große Probleme, Stellen mit Fachkräften zu besetzen, trotz idealer Arbeitsplatzsicherheit. Universitäten punkten im Wettbewerb vor allem mit der Aussicht auf spannende wissenschaftliche Entdeckungen. Wer dafür brennt, hat viel Freude an der Arbeit in der Hochschule, solange die Arbeitsbedingungen nicht allzu schlimm sind. Wer dafür nicht (mehr) brennt, der entscheidet sich für die besser bezahlten Stellen in der Privatwirtschaft. Schlimm ist es allerdings für diejenigen, die nur noch deshalb im Wissenschaftssystem bleiben, weil sie für sich wenig Chancen auf dem nichtakademischen Arbeitsmarkt sehen.

  • #5

    Verblüffend 2 (Donnerstag, 09 Februar 2023 14:51)

    @Josef: Ich verstehe ihr Model für Universitäten nicht. Unis bildet schon immer viel mehr Doktorand*innen aus, als es Stellen an der Uni gibt. Die allermeisten Doktorand*innen in MINT wollen auch gar nicht an der Uni bleiben, sondern qualifizieren sich per Promotion und sind dann heissbegehrt auf dem Arbeitsmarkt. Es hat auch keinerlei Sinn, die alle an die Unis zu halten, sonst bräuchten wir jedes Jahr tausende neuer Mittelbau-Stellen. Ich bin sehr für Personalaufwuchs an den Unis - aber das dann doch nicht....

    Warum wollen jetzt nur noch so wenige bleiben, dass wir PostDoc-Stellen kaum besetzt bekommen? Nun ... Industrie zahlt viel besser; keine Aufstiegschancen auf Dauerstellen; geringe Chance auf Professur wegen Bestenauswahl; unfassbar träge Verwaltung; Reisekosten bei 70 Euro pro Nacht im Hotel gedeckelt; technische Infrastruktur zum Haare-raufen; verfallende Gebäude; ... da braucht es schon viel Enthusiasmus für Forschung und Lehre, wenn man die Alternativen bedenkt.

    Die Lage in verschiedenen Fächern ist extrem unterschiedlich. Ich kann Artikel über "die Wissenschaft und ihre Stellensituation" nicht mehr wirklich Ernst nahmen.

  • #6

    prku (Samstag, 18 März 2023 20:34)

    @Verblüffend. mein Prior ist so stark, dass ich Ihnen kein Wort glaube.