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Was die Leseschwäche der Viertklässler mit Deutschlands Modernisierungsproblem zu tun hat

Die neue IGLU-Studie zeigt, dass Grundschüler in der Bundesrepublik erneut schlechter lesen können. Was bedeutet das?

NEIN, DRAMATISCH sind sie nicht, die Ergebnisse der fünften IGLU-Studie, an der Deutschlands Schulen teilgenommen haben. Dramatisch nicht, dafür aber beschämend. Und ein weiterer Beleg für Deutschlands gesellschaftliche Modernisierungskrise. 

 

IGLU steht für "Internationale Grundschul-Leseuntersuchung", sie findet alle fünf Jahre statt, rund 400.000 Kinder aus 65 Staaten und Regionen waren dabei, darunter 4.611 Viertklässler aus ganz Deutschland. Auch ihre Eltern, Lehrkräfte und Schulleitungen wurden befragt. Das wichtigste Ergebnis der am Dienstagmorgen veröffentlichten Studie: Wie schon 2016 liegen die deutschen Schüler mit ihrer durchschnittlichen Lesekompetenz im Mittelfeld des weltweiten Vergleichs. Allerdings mit einem statistisch signifikanten Negativtrend: Der deutsche Mittelwert von 524 liegt dieses Mal 13 Punkte unter dem Niveau von vor fünf Jahren. Und 15 unter der Ausgangserhebung von 2001. 30 Punkte entsprechen in etwa dem Lernzuwachs eines Schuljahres.

 

Auch anderswo ging es nach unten

 

Das ist nicht wenig, das ist wie gesagt auch nicht dramatisch, zumal im Vergleich zu 2016 der internationale Mittelwert ebenfalls um zwölf Punkte abgerutscht ist. Grundschulkinder konnten also im Jahr zwei der Coronakrise weltweit schlechter lesen als vor der Pandemie. Auch gibt es neben Deutschland weitere westeuropäische Staaten, die sich im 20-Jahrestrend verschlechtert haben, teilweise sogar noch deutlich stärker. So ist die mittlere Lesekompetenz in Schweden gegenüber 2001 um 17, in den Niederlanden sogar um 27 Punkte gesunken.

 

Umgekehrt sind da Staaten wie Singapur, Hongkong oder die Russische Föderation, die in den vergangenen 20 Jahren Sprünge um rund 50 Punkte gemacht haben, so dass sie allesamt von deutlich niedrigeren Levels an Deutschland vorbeigezogen sind. Und mittlerweile lassen die Viertklässler fast aller westeuropäischen Staaten und Regionen ihre deutschen Konterparts weit hinter sich. England: 558 Punkte, Finnland: 559, Schweden: 544, Italien: 537, um nur ein paar Beispiele zu nennen. 

 

Wie erklärt sich das? Jedenfalls nicht allein mit der Pandemie, sagt Nele McElvany, die wissenschaftliche Leitung von IGLU 2021 – und auch nicht durch die sich verändernde Schülerschaft. In den vergangenen Jahren sei "die problematische Entwicklung in unserem Bildungssystem durch diese Aspekte nur verstärkt" worden. Tatsächlich hat der Abwärtstrend nach einem zwischenzeitlichen Sprung nach oben bereits 2011 eingesetzt.

 

Es liegt am Unterricht, nicht an den Schülern

 

Einige der zentralen Gründe dürften im Unterricht selbst liegen. Auch wenn die Schüler dessen Qualität als insgesamt gut wahrnehmen und sich stärker aktiviert und unterstützt fühlen als noch 2016, wird in deutschen Klassenzimmern mit 141 Minuten pro Woche deutlich weniger Zeit mit Lesen verbracht als im Schnitt der anderen EU-Länder (194 Minuten) oder der OECD (205 Minuten). Die von den Lehrkräften verwendete Klassenlektüre ist durchschnittlich über 20 Jahre alt und deckt sich kaum mit den Vorlieben der Schüler. Die meisten Lehrkräfte nutzen zur Diagnostik keine formalen Verfahren, und weniger als ein Drittel von ihnen hat in den vergangenen zwei Jahren an Fortbildungen zur Leseförderung teilgenommen. 

 

Womit das Beschämende an den Ergebnissen zur Sprache kommt. Die ergriffenen Maßnahmen der Schulpolitik hätten in den vergangenen zwei Jahrzehnten kaum Wirkung gezeigt, "den Bildungserfolg sowie Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit zu verbessern", sagt McElvany, im Hauptamt geschäftsführende Direktorin des Instituts für Schulentwicklungsforschung an der TU Dortmund. 

Was noch euphemistisch formuliert ist. Tatsächlich ist die Leistungsschere zwischen guten und schwachen Lesern in Deutschland sogar noch etwas aufgegangen, und die Bedeutung der sozialen Herkunft bleibt enorm. IGLU vergleicht dazu Kinder aus Haushalten mit mehr als 100 Büchern mit anderen Viertklässlern, deren Familien maximal 100 Bücher haben. Auf der Bildungsungerechtigkeitsskala liegt Deutschland mit einem mittleren Punkteunterschied zwischen beiden Gruppen von 42 auf Platz 7.

 

Sprechen Schüler zu Hause immer oder fast immer Deutsch, haben sie einen großen Kompetenzvorsprung gegenüber ihren Klassenkameraden, die das nicht tun. Auch hier ist der Abstand im internationalen Vergleich stärker ausgeprägt als im Schnitt der EU oder OECD, wo das heimische Sprechen der jeweiligen Haupt-Unterrichtssprache oftmals weniger auf die Leseleistungen durchschlägt. Berücksichtigt man den sozialen Status der Familie und die Sprache, die zu Hause gesprochen wird, spielt der Migrationshintergrund in Deutschland dagegen keine Rolle. 

 

Vorhersehbare politische Reaktionen

 

Die Bundesrepublik scheitert also an dem jedes Jahr aufs Neue erklärten Ziel, mehr Bildungsgerechtigkeit zu schaffen. Demgegenüber ist die Nachricht, dass die deutschen Schüler insgesamt nur durchschnittlich lesen, immer noch ernüchternd, aber fast schon vernachlässigbar. Zumal sie sich zu einem guten Stück aus dem selben Problem erklärt: dass es nicht gelingt, die Leistungsschwachen stärker zu unterstützen (allerdings ist auch der Anteil der Spitzenleser zurückgegangen).

 

Die politischen Reaktionen des Tages auf die IGLU-Ergebnisse sind insofern vorhersehbar: Der Lehrermangel ist schuld, werden viele sagen, was zu einem – allerdings kleineren Teil – sicher auch stimmt. Die Ampel-Koalition wird in verschiedenen Variationen auf das geplante "Startchancen"-Programm für die Förderung benachteiligter Schüler und Schulen verweisen, das genau bei der Bildungsungerechtigkeit ansetzen werde. Botschaft: Früher mag das anders gewesen sein, aber jetzt haben wir die richtigen Instrumente. 

 

Ist das so? Oder sind die Ergebnisse von IGLU, PISA & Co genau wie der Umgang der Bildungspolitik mit ihnen nicht vielmehr weitere Belege der tiefgreifenden gesellschaftlichen Modernisierungskrise, in der Deutschland sich befindet? Die Bundesrepublik verliert seit Jahren den Anschluss in immer mehr Zukunftsbranchen und -technologien, doch der Ruck bleibt aus. Ein Ruck, der zuerst und vor allem über die Bildungs- und Forschungspolitik organisiert werden müsste. Während in der Forschungspolitik (Stichwort SPRIND, DATI, Zukunftsvertrag & Co) wenigstens gewisse Regungen zu verzeichnen sind, herrscht in der Bildungspolitik null Dynamik.

 

Devise: Lasst die Schulen in Ruhe

 

Konzeptionell wurde vor zehn, zwölf Jahren die Devise ausgegeben, den Schulen jetzt vor allem einmal Ruhe zu geben. Als Reaktion auf den kurzen, aber heftigen Reformeifer nach dem Pisaschock von 2001. Obwohl bis heute nicht klar ist, ob nicht genau jener Reformeifer das (auch bei IGLU nachweisbare) Leistungs-Zwischenhoch an Deutschlands Schulen mitverursacht hat. Diese Ruhe, könnte man sagen, spiegelt sich in der Unterrichtsqualität wider. In der Hinsicht wäre es sogar hilfreich, wenn man die Ergebnisse der Lese-Studie mit Recht dramatisch nennen könnte. Denn so, wie sie sind, werden sich viele Kultusminister gegen jedes Bildungskrise-Gerede verwahren und sagen, man solle bei aller berechtigten Besorgnis die Kirche mal im Dorf lassen.

 

Immerhin wollen sie in der KMK jetzt ran eine grundlegende Reform der Lehrerbildung. Aber was ist eigentlich mit den Kitas, deren Personal quantitativ und qualitativ kaum in der Lage ist, ihren immer wieder beschworenen Bildungsauftrag in der Frühförderung zu erfüllen? Daran wird auch das Kita-Qualitätsgesetz des Bundes wenig ändern können. 

 

Finanziell ging es in den vergangenen 20 Jahren übrigens tatsächlich etwas nach oben, so wird mittlerweile pro Schülerin und Schüler in Deutschland ein größerer Anteil der Wirtschaftsleistung für Bildung ausgegeben. Doch bleibt auch hier der Abstand bei den Bildungsausgaben insgesamt zum Schnitt der Industriestaaten groß: 4,3 Prozent versus 4,9 Prozent, so gab es die OECD in ihrem letzten Bericht "Bildung auf einen Blick"  an.  

 

In diese – ernüchternde – Logik passen denn auch die Planungen zum "Startchancen"-Programm hinein, das heute in vieler Munde sein wird. Eine Milliarde Euro pro Jahr will die Bundesregierung hierfür locker machen, um mehr Bildungsgerechtigkeit zu ermöglichen – während die Länder noch um die Kofinanzierung feilschen. Eine Milliarde entspricht knapp 0,03 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Womöglich zeigt keine kleine Zahl besser die Größe unseres Modernisierungsproblems. 

 

Dieser Artikel ging am Dienstag um 10 Uhr morgens online.


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Kommentare: 9
  • #1

    Lehramts-Hanna (Dienstag, 16 Mai 2023 13:14)

    Um die Qualität im Deutschunterricht zu verbessern muss auch die Qualität der Deutschlehrkräfteausbildung verbessert werden. - Wann ist an den Universitäten endlich Schluss mit den befristeten Stellen in der Lehramtsausbildung? Es braucht hier gut ausgebildete, promovierte Kolleg:innen mit Schulerfahrung, die sich schwerpunktmäßig guter Lehre und Forschung widmen können. Wenn aber bis zu 90% der Wiss. Mitarbeitenden befristet beschäftigt sind, und sich vor allem um den Forschungsoutput kümmern müssen, um es innerhalb der WissZVG-Zeit im Wissenschaftssystem auf eine Professur zu schaffen, bleibt gute Lehre auch im Lehramt Mangelware. Fakt ist: Die Lehrer:innen unserer Kinder werden allzu oft von unerfahrenen Masterabsolvent:innen ausgebildet, was die Qualität der Lehramtsausbildung fragwürdig macht. - Es muss an den Unis und PHs endlich Schluss sein mit prekären Arbeitsverhältnissen. So lange fertig ausgebildete Lehrkräfte an der Schule unbefristet, verbeamtet mit ca. 1000 € Nette mehr Einstiegsgehalt einsteigen als an der Universität, wo sie befristet, schlechter bezahlt und von einem Karriereaus nach spätestens 12 Jahren WissZVG bedroht sind, vergrault die Universität die besten Leute. Schluss mit den Befristungen und Anpassung der Gehälter in der Lehramtsausbildung an das A13-Nettogehalt. Wer seine Mitarbeitenden schlecht behandelt, bekommt auch schlechte Qualität.

  • #2

    Lehramtsausbildung (Dienstag, 16 Mai 2023 15:50)

    Die Lehramtsausbildung krankt nicht (nur) am fehlenden Mittelbau auf stabilen Stellen. Sie krankt sehr oft daran, dass Professor*innen ihre Lehre in keinster Weise auf die Bedarfe von Lehramtskandidat*innen ausrichten. Da wird das aktuellste eigene Spezialforschungsgebiet gelehrt, die Grundlagen fallen oft unter den Tisch. Auch daran sollte sich etwas ändern.

  • #3

    Lesefaul (Mittwoch, 17 Mai 2023 08:27)

    Meine Tochter ist lesefaul und liest etwas langsamer als der Durchschnitt, so dass ihr von der Grundschule die Teilnahme an einem Förderunterricht nahegelegt wurde. Dort wird weder nennenswert gelesen noch geschrieben. Der Unterricht mit 3-4 teilnehmenden Kindern beschränkt sich auf das Ausfüllen und Anmalen von Arbeitsblättern - ohne Zusammenhang mit dem, was sonst im Deutschunterricht gemacht wird. Vielleicht ein Einzelfall, wahrscheinlich aber nicht.

  • #4

    Ruth Himmelreich (Mittwoch, 17 Mai 2023 09:22)

    Bevor man das "Startchancen"-Programm als geeignetes Mittel bejubelt, den in der Iglu-Studie benannten Problemen abzuhelfen, sollte man vielleicht doch einen genauen Blick darauf werfen.

    Ich sehe folgendes: die erste Säule, nämlich bauliche Investitionen, nützen der Lesekompetenz der Schülerinnen und Schüler in den Brennpunktschulen nur bedingt und auch erst dann, wenn die Baumaßnahmen mal fertig sind, also in etwa fünf bis acht Jahren, wenn man das übliche Tempo öffentlichen Bauens zugrundelegt. Die Schulsozialarbeiter sind sicher allgemein gut, aber unterstützen eine Verbesserung der Lesekompetenz ebenfalls nur mittelbar. Das "Chancenbudget" ist das, was am ehesten hilft. Aber man muss zielgerichteter werden, denn es steht zu vermuten, dass der durchschnittliche Anteil eines Viertels der Kinder ohne ausreichende Lesekompetenz in diesen Schulen viel höher ist.

    Es müsste ein vernünftiger und einfach zu benutzender Instrumentenkasten her, weniger mühevolle Eigenentwicklungen vor Ort, an denen die Lehrerinnen und Lehrer ohnehin über die Maßen belastet sind.

  • #5

    tja (Mittwoch, 17 Mai 2023 12:15)

    @2
    Hochschuldidaktik im Bereich 'Lehramt Nichtvertieft' war früher an den PH's angesiedelt. Da gehört sie wieder hin.

  • #6

    A. Köhler (Mittwoch, 17 Mai 2023 19:08)

    In Deutschland wird Politik an den Bedürfnissen der Mittelschicht ausgerichtet. Eine Mittelschicht, die für ihre Kinder den sozialen Aufstieg ermöglichen will oder das erreichte soziale Niveau halten will, hat gar kein Interesse daran, die Bildungschancen sozial Benachteiligter zu verbessern. Denn das heißt größere Konkurrenz in der Schule, in der Ausbildung und auf dem Arbeitsmarkt. Das Akademikerkind, das es nur mit viel Unterstützung von Mama und Papa und mäßig erfolgreich durchs Gymnasium schafft, sähe dann alt aus, wenn ein hochmotiviertes Migrantenkind optimale Startchancen hat. Wenn sich 20 Jahre nichts ändert und die Ungleichheit noch wächst, ist eine Ursache in den gesellschaftlichen Beharrungskräften zu suchen. In dem Fall der Wunsch der Mittelschicht, ihrem Nachwuchs die Konkurrenz vom Leib zu halten. Ansonsten gäbe es Veränderung und nicht nur Sonntagsreden. Klingt zynisch, aber anders kann ich es mir nicht erklären.

  • #7

    Lehramts-Hanna (Mittwoch, 17 Mai 2023 19:37)

    @Lehramtsausbildung: "Die Lehramtsausbildung krankt nicht (nur) am fehlenden Mittelbau auf stabilen Stellen. Sie krankt sehr oft daran, dass Professor*innen ihre Lehre in keinster Weise auf die Bedarfe von Lehramtskandidat*innen ausrichten."
    --> Der Anteil der Lehre durch Professor:innen im Lehramt ist gering und spielt kaum eine Rolle. Bei uns am Institut z. B.: 1 Prof. (4 Lehrveranstaltungen pro Semester) und 10 WiMis - davon sind 8 befristet - (jeweils 4 bis 7 Lehrveranstaltungen pro Semester). Der Löwenanteil der Lehre im Lehramt wird vom Mittelbau geleistet, und den beschäftigt man prekär. Hier mehr und besser bezahlte Dauerstellen zu schaffen, auch um die ständige Stellenfluktuation zu stabilisieren, ist dringend geboten. Die Landesministerien sollten der Stellenpolitik Ihrer Hochschulen im Lehramt stärker auf die Finger sehen, wenn man eine qualitativ gehaltvolle Lehramtsausbildung aufbauen will.

  • #8

    Bibliothekarin (Donnerstag, 18 Mai 2023 07:51)

    Bibliotheken verschreiben sich der Leseförderung und wecken Spaß an Geschichten schon im Kindergarten. Vielleicht können Bibliotheken da noch …. Ach halt, die sind ja auch an der Leistungsgrenze und werden als freiwillige Aufgabe gern krank gespart.

  • #9

    Frau Klabauter (Montag, 22 Mai 2023 09:18)

    Ich frage mich seit 30 Jahren, warum wir so wenig in Bildung investieren. Damals war ja der heutige Lehrermangel schon absehbar... Eine zynische Antwort wäre, dass Politiker, die ihre Kinder auf Privatschulen schicken, egal ist, was an den öffentlichen passiert. Ich kann es mir kaum noch anders erklären.

    In den Kitas Berlins gibt es Fachkräftemangel, seit wir die Gebührenfreiheit eingeführt haben. Ein Wahlgeschenk ohne Sinn und Verstand. Es ist ein Trauerspiel...