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398 Kläger und ein Urteil, das seit 50 Jahren hält

Die "Professorenmehrheit" gehört zu den vermeintlich unverrückbaren Grundgesetzen deutscher Hochschulgovernance. Das Urteil, das sie begründete, ist jetzt genau ein halbes Jahrhundert alt. Was bedeutet das für Hochschulreformen heute und in Zukunft? Ein Gastbeitrag von Hans-Gerhard Husung.

Hans-Gerhard Husung (SPD) war Staatssekretär für Wissenschaft und Forschung in  Berlin und von 2011 bis 2016 Generalsekretär der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz (GWK). Foto: privat.

AM 29. MAI 1973 fällte das Bundesverfassungsgericht sein "Hochschulurteil" (BVerfGE 35, 79) über die Klage von 398 Professorinnen und Professoren. Sie hatten sich gegen einzelne Bestimmungen des "Niedersächsischen Vorschaltgesetzes" von 1971 gewehrt, das zu einem späteren Gesamthochschulgesetz hinführen sollte. 600 Beigeladene aus anderen Bundesländern und 70 Prozessvertreter unterstrichen die Bedeutung des Verfahrens als Kulminationspunkt des historischen Ringens um die Gestaltung der Machtverhältnisse in den Hochschulen. Wie war es dazu gekommen? Und warum ist das Urteil heute immer noch so wichtig?

 

Die zu Beginn der 1960er Jahre einsetzende Bildungsexpansion erreichte bald auch die Universitäten. Die überkommene "Ordinarienuniversität" geriet durch das rapide Wachstum der Studierendenzahlen und damit einhergehend der Professuren und anderer akademischer Personalkategorien zunehmend unter Druck. Die "Integrierte Gesamthochschule", eine Verbindung von Universität, Pädagogischer Hochschule und Fachhochschule, wurde je nach politischer Couleur als Königs- oder Holzweg propagiert. Willy Brandts Losung 1969 "Mehr Demokratie wagen" beschrieb eine breite Grundstimmung an den Hochschulen nur zu gut. 

 

Wie die Professoren sich gegen Forderungen
nach einer "Drittelparität" organisierten

 

"Drittelparität" zwischen den Gruppen der Professoren, Wissenschaftlichen Mitarbeiter und Studierenden war als Forderung ebenso populär wie umstritten, also eine Stimmengleichheit in allen wichtigen Hochschulgremien und vor allem im Senat. Der "Bund Freiheit der Wissenschaften" entstand in der Professorenschaft zunächst aus der Sorge um die Funktionsfähigkeit der Universitäten, radikalisierte sich aber zunehmend. Konservative Professoren fanden auch im damaligen Deutschen Hochschullehrerverband ein hochschulpolitisches Sprachrohr.

 

Als bundesweiter Gegenspieler profilierte sich die "Bundesassistentenkonferenz". Die Studierenden organisierten sich in durchweg linken Gruppen. Auch die großen Parteien positionierten sich in dieser Frage konträr, SPD und FDP einerseits und CDU/CSU andererseits. 

Beginnend 1966 mit Hessen betraten die Länder in diesem hochschulpolitisch aufgeheizten Klima mit ihren ersten Hochschulgesetzen juristisches Neuland. Zugleich versuchten sie, Reformdruck auf die Bundesebene abzuleiten, und eröffneten noch zu Zeiten der Großen Koalition aus CDU und SPD mit ihrer Zustimmung zur Grundgesetzreforn von 1969 dem Bund die neue Möglichkeit der Rahmengesetzgebung für den Hochschulbereich. 

 

Nach der Bundestagswahl 1969 lag diese Kompetenz nun in den Händen der sozialliberalen Koalition aus SPD und FDP, die grundsätzlich in der Frage der Gruppenuniversität mit paritätischer Mitbestimmung ebenso aufgeschlossen waren wie bei der Reformzielsetzung "Gesamthochschule". Die CDU/CSU hingegen sorgte sich vor allem um die Funktionsfähigkeit der Universitäten, die sie insbesondere durch die politisierten Studierenden in Gefahr sah, und trat dafür ein, in allen Gremien den Hochschullehrern unbedingt die Mehrheit zu sichern.

 

In diesen Kontext gehörte das Niedersächsische Vorschaltgesetz von 1971 aus der Feder des sozialdemokratischen Kultusministers Professor Peter von Oertzen, der für viele seiner Standeskollegen ein "rotes Tuch" war. Er hatte an einer empfindlichen Stelle den Hebel angesetzt: Zur Gruppe der Professoren sollten nun auch Nichthabilitierte bis hin zu Studienräten im Hochschuldienst sowie Lektoren und Studienleiter gehören. Zudem führte das Gesetz in den Selbstverwaltungsgremien die Viertelparität aus Hochschullehrern, "Wissenschaftlichen Assistenten", Studierenden und sonstigen Mitarbeitern ein – faktisch also eine doppelte Entmachtung der "Ordinarien".

 

Richterkritik an der Ordinarienuniversität, Unterstützung von Reformen – und ein großes Aber

 

Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts unter seinem Vorsitzenden Professor Ernst Benda, zuvor kurze Zeit CDU-Innenminister in der Großen Koalition, kam nach  einer prägnanten Analyse der historischen, funktionalen und sozialen Entwicklungen der Universitäten in Deutschland seit Humboldt zu seiner Lagebeurteilung, dass in mehrfacher Hinsicht Reformbedarf bestehe: "Die bisherige Ordinarienuniversität, in der die Selbstverwaltung im Wesentlichen den Lehrstuhlinhabern vorbehalten blieb, war organisatorisch weder auf den sprunghaften Anstieg der Studentenzahl noch auf die vermehrte Übernahme von Aufgaben und Funktionen durch Nichtordinarien, insbesondere durch wissenschaftliche Assistenten vorbereitet. Die Vergrößerung des akademischen 'Mittelbaus' und seine zunehmende Bedeutung für den Gesamtprozeß der Wissenschaft standen in einem Mißverhältnis zu seinen geringen Kompetenzen in der Selbstverwaltung. Bei den Studenten verstärkte das Ausbleiben einer der wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung Rechnung tragenden Studienreform das Begehren, Einfluß auf die Wissenschaftsverwaltung zu nehmen."

 

Durchgreifende Reformen seien seit langem verzögert worden, woran "auch die Ordinarienuniversität Mitverantwortung trägt". Die Interessengegensätze zwischen der Gruppe der Hochschullehrer und den anderen oft als "unterprivilegiert" bezeichneten Gruppen in der Realität des Hochschullebens seien sehr stark hervorgetreten. Die "Gruppenuniversität" mache diese Interessengegensätze durch ihre "Gruppentypik" noch deutlicher und könne sie unter Umständen sogar verfestigen. Dieses Modell sei gleichwohl "mit der Wertentscheidung des Art. 5 Abs. 3 GG vereinbar".

 

Da die Garantie der Wissenschaftsfreiheit nicht an eine bestimmte Organisationsform des Wissenschaftsbetriebs gebunden sei und der Gesetzgeber dabei erhebliche Ermessensspielräume habe, sei es vertretbar, die Gruppenuniversität als ein Instrument zur Lösung der Gruppenkonflikte in der Universität und ein Mittel zur Mobilisierung des Sachverstandes der einzelnen Gruppen zu nutzen, um auf diese Weise eine bessere Entscheidungsfindung bei der Verwaltung der Universität zu fördern – also bis hierher 1:0 für die Reformer. 

 

In der weiteren verfassungsrechtlichen Rechtfertigung wurde dieser Grundsatz jedoch schrittweise ausgehöhlt, da das Gericht mehrheitlich von einem unmittelbaren kausalen Zusammenhang zwischen organisatorischen Normen und möglichen Beeinträchtigungen der freien Ausübung von Forschung und Lehre ausging. Es seien nicht die Beschlüsse kollegialer Organe, die die Wissenschaftsfreiheit faktisch beschränken könnten – also die Praxis der Organe, die im Einzelfall verfassungswidrig sein könnte –, sondern die Organisationsformen der Hochschule selbst, die die Möglichkeiten des Einzelnen zur Verwirklichung des Grundrechts bestimmten. "Ein effektiver Grundrechtsschutz erfordert daher adäquate organisationsrechtliche Vorkehrungen."

 

Die Prozentrechnung des
Bundesverfassungsgerichts

 

Solche Vorkehrungen wollte die Kammer allerdings nicht dem Gesetzgeber überlassen, sondern sie waren Gegenstand ausführlicher Erörterungen des Gerichts, ausgehend von dem einmütig im Ersten Senat geteilten Grundsatz, "daß zwischen den einzelnen Gruppen der Hochschulangehörigen gewichtige rechtserhebliche Unterschiede bestehen, deren Nivellierung nach dem Schema 'one man one vote' zu Recht von niemand befürwortet wird." Ins Zentrum rückte die Frage nach der besonderen Stellung der "Hochschullehrer": Aufgrund ihrer herausgehobenen Qualifikation, Funktion und Verantwortung sowie der Dauer ihrer Zugehörigkeit zur Universität und ihrer Betroffenheit habe der Gesetzgeber zu gewährleisten, dass dieser Gruppe "ein über ihr zahlenmäßiges Gewicht wesentlich hinausgehender Einfluß auf die Willensbildung in den Organen" eingeräumt werde. 

 

Damit noch nicht genug: Das "Wie" wurde keineswegs dem Gesetzgeber überlassen, sondern präventiv vom Bundesverfassungsgericht weiter konkretisiert. Bei allen Entscheidungen, die unmittelbar die Lehre betreffen, müssen die Hochschullehrer seitdem über 50 Prozent der Stimmen verfügen. "Bei Entscheidungen, die unmittelbar Fragen der Forschung oder die Berufung der Hochschullehrer betreffen, muß der Gruppe der Hochschullehrer ein weitergehender, ausschlaggebender Einfluß vorbehalten bleiben", bestimmten die Richter zudem – also mindestens 51 Prozent.

 

Außerdem wurde das Postulat der "homogenen" Zusammensetzung der Gruppe der "Hochschullehrer" entwickelt. Die Position der Hochschullehrer sollte nicht durch Aufnahme anderer Wissenschaftlicher Hochschulmitglieder verwässert werden, die die Qualifikation nicht erfüllten: Habilitation oder ein sonstiger Qualifikationsbeweis und selbständige Vertretung eines wissenschaftlichen Faches in Forschung und Lehre . 

 

Damit habe das Gericht seine Funktion überschritten und sich an die Stelle des Gesetzgebers gesetzt, kritisierten zwei Mitglieder des Ersten Senats in ihrem abweichenden Votum. Solange die Grenze des "Unabstimmbaren" als Kern der Wissenschaftsfreiheit beachtet werde, argumentierten sie, unterliege die weitere Konkretisierung der nur bedingt nachprüfbaren Eigenverantwortung des Gesetzgebers. Ob der Gesetzgeber dabei sachwidrig oder willkürlich verfahren sei, könne das Bundesverfassungsgericht nachprüfen. Zudem: Ein "ständisches Gruppenprivileg" der "Hochschullehrer" sei keineswegs unmittelbar aus der Wertentscheidung des Grundgesetz-Artikels 5, Absatz 3 ableitbar. Vielmehr sei eine solche "verfassungskräftige Institutionalisierung" charakteristisch für "oligarchische Strukturen".

 

Als an den Beratungen Beteiligte verwiesen die beiden Abweichler darauf, dass sowohl bei den Klägern als auch bei der Mehrheit des Senats die aufgewühlte hochschulpolitische Situation eine bedeutende Rolle gespielt habe. "Bei einer grundlegenden Änderung dieser Situation – etwa bei der Auflösung des derzeitigen Gruppenkonflikts, einer stärkeren Annäherung des Mittelbaus an die Hochschullehrer oder anderen wesentlichen Veränderungen in der Grundeinstellung der Hochschulangehörigen zueinander" –,  bestehe die Gefahr, dass die Vorgaben des Urteils ein "unerwünschtes Eigenleben" entwickelten. 

 

Österreich: Gleiche Ausgangslage, 

andere Schlussfolgerungen

 

Wäre ein anderes Urteil mit guten Gründen möglichgewesen? Ein Blick ins Nachbarland Österreich zeigt, dass ein Verfassungsgericht nur wenige Jahre später bei vergleichbarer historischer Ausgangs- und Verfassungslage in der entscheidenden Frage zu einer anderen Beurteilung kommen konnte. Nachdem die Vorinstanz zunächst ähnlich wie das deutsche Bundesverfassungsgericht argumentiert und geurteilt hatte, entwickelte  der Österreichische Verfassungsgerichtshof 1977 eine deutliche Gegenposition, die bisweilen auch als verklausulierte Kritik am Hochschulurteil des Bundesverfassungsgerichts verstanden wurde.

 

Mit Blick auf Artikel 17, Absatz 1 der Österreichischen Verfassung ("Die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei") kam das Gericht zu der grundsätzlichen Einschätzung, dass auch unter Einbeziehung der historischen Universitätsentwicklung aus dem "Jedermannsrecht" der Wissenschaftsfreiheit keine Verpflichtung für den Gesetzgeber erwachse, besondere organisatorische Vorkehrungen zugunsten der Gruppe der Hochschullehrer zu treffen. Denn: "Eine Unterscheidung zwischen einer durch positive Vorkehrungen besonders zu schützenden Wissenschaftsfreiheit der Hochschullehrer und einer solche zusätzliche Vorkehrungen nicht erfordernden Wissenschaftsfreiheit aller anderen Träger dieses Rechtes aber findet im Wortlaut des Art. 17 Abs. 1 StGG ganz offensichtlich keine Grundlage." (VfGH 3.10.1977, G 13/76, G 7/77)

 

Das "Hochschulurteil" des Bundesverfassungsgerichts entfaltete indes in Deutschland unmittelbar Wirkung. Im sozialdemokratisch geführten Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft unter Minister Klaus von Dohnanyi, der die Reformanliegen beim Thema "Gruppenuniversität und Drittelparität" durchaus berücksichtigen wollte, musste der für Herbst 1973 vorgesehene Entwurf umgeschrieben werden. Die parlamentarischen Beratungen waren kontrovers und langwierig; die Länder im Bundesrat waren gespalten. Erst nach einem ungewöhnlich lange (neun Monate) dauernden Verfahren im Vermittlungsausschuss zwischen Bundestag und Bundesrat konnte das Hochschulrahmengesetz 1976 verabschiedet werden. 

 

Während im Entwurf 1973 lediglich bei Berufungen eine zusätzliche Mehrheit in der Professorengruppe vorgesehen war, ist schließlich nach dem Vermittlungsverfahren die doppelte Mehrheit der Professoren bei allen Grundsatzfragen von Forschung und bei Berufung von Professoren verankert: Solche Entscheidungen "bedürfen außer der Mehrheit des Gremiums auch der Mehrheit der dem Gremium angehörenden Professoren.(" HRG 1976, § 38,5 ) 

 

Damit hatte sich die CDU/CSU mit ihrem Fraktionsantrag von 1974 durchgesetzt, und das Hochschulrahmengesetz ging über die einschlägigen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts deutlich hinaus. Erst in der HRG-Novelle von 1998, mit der die Grundsätze des New Public Management ins Gesetz eingeführt wurden, fand ein Einschwenken auf das "Hochschulurteil" statt. 

 

Obwohl die Länder seit der Grundgesetznovellierung von 2006 ihre eigenen Regelungen treffen können, zeigt ein Blick in die 16 aktuellen Hochschulgesetze, dass in einigen Ländern immer noch auf die Ur-Fassung des Hochschulrahmengesetzes von 1976 rekurriert wird mit der doppelten Mehrheit der Professoren bei grundsätzlichen Angelegenheiten von Forschung und Lehre. In den meisten Ländergesetzen finden sich zwei Varianten:Eentweder sind bei Forschung und Berufungen sowie Lehre differenzierte Mehrheiten vorgesehen, oder die Zusammensetzung des Entscheidungsorgans gewährleistet die absolute Mehrheit der Professoren. Ebenso sorgfältig wird das Homogenitätsgebot beachtet; lediglich die Juniorprofessur hat die Integration in die Professorengruppe geschafft, obwohl diese Stellen ausdrücklich der Qualifizierung für eine spätere Professur gewidmet sind und zudem das Kriterium der dauerhaften Zugehörigkeit (noch) nicht erfüllt ist. 

 

Es bräuchte schon einen
mutigen Landesgesetzgeber

 

Aufhorchen ließ Thüringen, das mit der viertelparitätischen Zusammensetzung des Senats ein Ausrufezeichen gesetzt hat. Doch die "Revolution" wird im selben Paragraphen wieder Bundesverfassungsgerichtkonform eingefangen: Bei Entscheidungen zu Forschung, Lehre und Berufungen wird die Professorengruppe zahlenmäßig so aufgestockt, dass ihre absolute Mehrheit gesichert ist. In Nordrhein-Westfalen wird die zahlenmäßige Zusammensetzung des Senats der jeweiligen Grundordnung überlassen; unabhängig von der Anzahl der Sitze der Professorinnen und Professoren in diesem Gremium verfügen sie über die Mehrheit der Stimmen, die beispielsweise bei viertelparitätischer Sitzverteilung durch entsprechende Gewichtung der Stimmen gewährleistet wird.

 

In der aktuellen Verfassungsrechtsprechung wird die klassische Paritätenfrage durch neuartige Herausforderungen in Zusammenhang mit dem Neuen Steuerungsmodell überlagert, das den Weg von der staatlichen Detailsteuerung in die Welt der autonomen, eigenverantwortlichen Hochschule beinhaltet. Mit der Übertragung vormals staatlicher Befugnisse  und damit Veränderungen in der hochschulischen Organisationsstruktur sind Konstellationen entstanden, die zu Klagen führten. Vom sogenannten Brandenburg-Urteil von 2004 über die Urteile zum Hamburgischen Hochschulgesetz 2010 und die Entscheidung zur Zuweisung von wissenschaftsrelevanten Entscheidungsbefugnissen an Leitungsorgane der Medizinischen Hochschule Hannover 2014 bis hin zum Urteil des Verfassungsgerichtshofs Baden-Württemberg von 2016 hat sich der Akzent der Rechtsprechung in diese Richtung verschoben.

 

Gestützt auf das "Hochschulurteil" von 1973 wurde vier Jahrzehnte später offensiv der "wissenschaftsrelevante" Bereich jenseits der unmittelbaren Wirkungen auf Forschung und Lehre kritisch ausgeleuchtet: "Je mehr, je grundlegender und je substantieller wissenschaftsrelevante personelle und sachliche Entscheidungsbefugnisse dem Vertretungsorgan der akademischen Selbstverwaltung entzogen und einem Leitungsorgan zugewiesen werden, desto stärker muss die Mitwirkung des Vertretungsorgans an der Bestellung und Abberufung und an den Entscheidungen des Leitungsorgans ausgestaltet sein", heißt es 2014 im Urteil zur Medizinischen Hochschule Hannover (BVerfGE 136,338-385). In der Folge wurden in Hochschulgesetzen in unterschiedlicher Weise  die Initiativmöglichkeiten der Hochschullehrer zur Abwahl von Hochschulleitungen deutlich gestärkt, die seither im Schatten der professoralen Abwahl agieren.

 

Gibt es Aussicht oder gar erkennbare Ansätze auf eine grundsätzliche Überprüfung des "Hochschulurteils" und eine Anpassung an veränderte Umstände?  Eher nicht – es sei denn, ein mutiger Landesgesetzgeber, begleitet von breiter bundesweiter hochschulpolitischer Aufbruchstimmung,  traut sich, das Risiko, erneut schmerzlich an das Urteil von 1973 erinnert zu werden, einzugehen und einen überzeugenden Aufschlag zu machen. Und zu zeigen, dass die Wissenschaftsfreiheit in Hochschulen auf anderen Wegen als durch Mehrheit der Gruppe der Professoren in Organen gesichert werden könnte. 


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Kommentare: 5
  • #1

    Gerda Müller (Dienstag, 23 Mai 2023 13:44)

    "Als bundesweiter Gegenspieler profilierte sich die "Bundesassistentenkonferenz". Die Studierenden organisierten sich in durchweg linken Gruppen" - für den (kleinen) progressiven Teil der ProfessorInnenschaft, die sich ebenfalls für eine Demokratisierung der Hochschulen einsetzte, war zudem der Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (BdWi) ein wichtiges Sammelbecken und politische Interessenvertretung, der seinen konservativen Konterpart - den Bund Freiheit der Wissenschaft - nun seit schon gut sieben Jahren überlebt hat.

    Auf jeden Fall: vielen Dank für diese interessante und historisch kritische Würdigung des '73er Urteils!

  • #2

    Friedhelm Nonne (Mittwoch, 24 Mai 2023 12:32)

    Diese verdienstvolle Erinnerung an das Urteil zur Gruppenuniversität könnte in der aktuellen Debatte um die Schaffung eines höheren Anteils von wissenschaftlichen Dauerstellen an den Universitäten noch in besonderer Weise relevant werden. Denn wenn diese Dauerstellen - durch Entscheidung der Universitäten selbst oder durch landesgesetzliche Festlegung - bevorzugt als weisungsungebundene, wissenschaftlich selbstständige Positionen ausgestaltet werden, spricht rechtlich nichts dagegen, sie der Kategorie der Hochschullehrenden zuzuordnen und damit allmählich die allzu einseitige, unnötige und auch nicht immer dem Wohl der Universitäten dienende Zentrierung von Entscheidungsrechten bei der Professorenschaft zu verringern.

  • #3

    Mittelbau-Hanna (Donnerstag, 25 Mai 2023 18:55)

    Herzlichen Dank für diesen detaillierten Überblick zur Genese der Governance-Strukturen an den Universitäten. Er zeigt eindrücklich, dass sich Gesetzgebung an geänderte Rahmenbedingungen anpassen kann und dass bei ähnlicher Ausgangslage in Deutschland und Österreich zwei unterschiedliche Systeme entstanden sind, von denen auch das paritätische System ohne Professorenmehrheit zu funktionieren scheint. Beim Übergang von einer nach Lehrstühlen organisierten Universität in eine echte Departmentstruktur des Entscheidungsmiteinanders von Wissenschaftler:innen unterschiedlicher Karrierestufen sind neue Organisationsformen also ebenfalls denk- und machbar. Da die Professorenmehrheit in Deutschland im Rahmen der Hochschulautonomie zu immer höherer Befristung und Ausbeutung Wiss. Mitarbeiter:innen führt, ist es an der Zeit, die Position derjenigen, die allein rein quantitativ die Universität in Lehre und Forschung tragen, zu stärken. Da die Gesetzgebung von außen durch Zuständigkeitsgerangel zwischen Bund, Ländern, Fördergebern und Universitäten bisher keine Lösung zur Verbesserung der prekären Arbeitsbedingungen organisieren konnte bzw. keinen Ansatz finden will, den Gordischen Knoten zu zerschlagen, kann die politisch und gesetzgeberisch angestoßene Reorganisation der universitären Governance-Strukturen einen denkbar bequemen Lösungansatz darstellen. Letztlich konstruieren alle, die im universitären System tätig sind, dies täglich neu. Die bundesweite Aktionswoche zu prekärer Beschäftigung in der Wissenschaft im Juni kann einen Initialmoment darstellen, um die Förderung nach demokratischeren universitären Strukturen sichtbarer zu machen. WiMis, beteiligt euch. Be the change that you wish to see in the world! #Wirgefühl-statt-Lehrgestühl

  • #4

    Armin Birk (Freitag, 26 Mai 2023 10:06)

    Es scheint aktuell kein Thema zu geben, das man nicht mit dem Ruf nach mehr Dauerstellen verbinden kann. Die Haushaltssituation in Bund und Ländern in den nächsten Jahren (und wenn man die neuen Staatsschulden der letzten Jahre mitbedenkt, muss es eher heißen: in den nächsten Jahrzehnten) wird nicht erlauben, zusätzliche Beschäftigungsmöglichkeiten zu schaffen. Die Zeit der Politik des schlichten Ressourcenverteilens, um harten Diskussionen zu entgehen, wird vorbei sein. Nach dem zahnlosen WissZeitVG-Entwurf aus dem BMBF erwarte ich mir von der Ampelkoalition auch keine Schützenhilfe mehr, um die Problemlage grundsätzlich angehen zu können. Vielleicht finden sich ja vereinzelt Hochschulen, die aus scih heraus bereit sind, veränderungen pro Mittelbau anzugehen. Aber für die Fläche sehe ich da schwarz.Der Mittelbau mag so viel protestieren, wie er will, aber er hat keine gesamtgesellschaftliche Lobby. Wohingegen die Hochschulabsolventen, die zu einer Promotion gebracht werden sollen, sehr wohl im Fokus der Politik stehen. Und - schließlich - muss ohne zusätzliche Mittelbaustellen immer eine Abwägung zwischen möglichst vielen Promotionen und möglichst vielen unbefristeten Beschäftigten getroffen werden.

  • #5

    Hanna (Freitag, 26 Mai 2023)

    @Armin Birk: Uns Mittelbauler:innen kann man nicht entmutigen. Allein die von der EU verordnete Arbeitszeiterfassungspflicht wird jetzt dazu beitragen, dass endlich sichtbar wird, wie viele Überstunden der aufgrund von WissZVG befristete Mittelbau macht und genau nicht die Gelegenheit hat, die verankerten 1/3 der Arbeitszeit für die eigene Qualifikation zur Verfügung zu haben. Damit müssen die Unis entweder deutlich mehr befristete WiMi-Stellen schaffen, um das Lehrangebot aufrecht erhalten zu können, oder es hagelt so viele Entfristungsklagen, dass so oder so unzählige WiMis aufgrund von dauerhafter Mehrarbeit entfristet werden müssen. Man muss also deutlich mehr Geld in die Hand nehmen. Der Protest gegen die prekären Beschäftigungsbedingungen ist nur die Begleitmusik zu systemisch notwendiger Veränderung, erst recht vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels und den besseren Arbeitsbedingungen überall sonst. Solidarische Grüße!