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"Sonst wären wir naiv"

Der wiedergewählte DAAD-Präsident Joybrato Mukherjee über die neue Nationale Sicherheitsstrategie, das Streiten für eigene Ziele und Werte – und die Frage, was vom alten Austausch-Idealismus noch übrig ist.

Joybrato Mukherjee, 49, ist seit 2020 Präsident des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD). Am Dienstag wurde er von den DAAD-Mitgliedshochschulen für eine zweite Amtszeit wiedergewählt. Außerdem ist Mukherjee seit 2009 Präsident der Universität Gießen und designierter Rektor der Universität zu Köln. Foto: Jonas Ratermann.

Herr Mukherjee, heute Vormittag sind Sie als DAAD-Präsident wiedergewählt worden, Ihre zweite Amtszeit beginnt am 1. Januar 2024. Herzlichen Glückwunsch! In Hochstimmung schienen Sie schon vergangene Woche zu sein, als die Bundesregierung ihre – von Ihnen hochgelobte – Nationale Sicherheitsstrategie vorgestellt hat. Die Strategie zeige, so lautete Ihr Kommentar, dass Wissenschaft heute eine "harte Währung" in der Außen- und Sicherheitspolitik sei.  War sie das denn früher nicht?

 

Der Unterschied ist, dass die Außenwissenschaftspolitik früher als eigenständige "dritte Säule" der Außenpolitik gedacht wurde – und damit getrennt von der Sicherheitspolitik. Jetzt hat sich ein integriertes Verständnis von Außen-, Sicherheits- und Geopolitik etabliert, was bedeutet, dass Wissenschaft nicht als irgendeine Folklore gesehen wird, sondern als robuster Teil der außenpolitischen Beziehungen unseres Landes.

 

Weil wir in einer Zeit der Krisen leben? 

 

Sicherlich gibt es da einen Zusammenhang. Stärker als vor fünf oder zehn Jahren gelten Wissenschaft und Außenwissenschaftspolitik als relevante Größen für Europas Sicherheit und für die Stabilisierung einer multilateralen Weltordnung. Wir werden auch die Folgen des Klimawandels nur wissenschaftlich fundiert und über Grenzen hinweg kooperierend in den Griff bekommen. Dies sind Erkenntnisse, die sich nicht von einem auf den anderen Tag entwickelt haben, aber natürlich hat hier die Pandemie wie in vielen anderen Bereichen als Beschleuniger gewirkt. 

 

"Die Ukraine will in den Westen,
und wir bahnen ihr über unsere Austauschprogramme wissenschaftspolitisch den Weg." 

 

Eine neue Rolle auch für den Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD)?

Keine neue Rolle. Wir haben immer schon neue außen- und geopolitische Herausforderungen mit neuen Initiativen und Programmvorschlägen beantwortet. Aber jetzt spüren wir eine andere Resonanz auf Seiten der Politik: Bundesregierung und Bundestag sehen den DAAD als größte und leistungsstärkste Mittlerorganisation in einer besonderen Verantwortung. Die neue Nationale Sicherheitsstrategie formuliert diese Erwartung an uns ganz explizit. Wenn in Afghanistan die staatliche Ordnung zusammenbricht und Frauen vom öffentlichen Raum und vom Bildungssektor immer stärker ausgeschlossen werden, starten wir mit Unterstützung des Entwicklungshilfeministeriums ein Stipendienprogramm für 5000 Afghaninnen, damit sie in einem der Nachbarländer studieren können. Oder nehmen Sie die Ukraine: Es war kein Zufall, dass Präsident Selenskyj sich jeweils anderthalb Stunden Zeit genommen hat für ein digitales Treffen mit Wissenschaftler:innen und Studierenden der Humboldt-Universität zu Berlin und der Universität zu Köln. Die Ukraine will in den Westen, und wir bahnen ihr über unsere Austauschprogramme wissenschaftspolitisch den Weg. 

 

Ganz so generisch wirkt die Entwicklung von außen nicht. Es ist nicht lange her, da herrschte in der deutschen Wissenschaft und auch beim DAAD die Auffassung vor, dass wissenschaftlicher Austausch und Internationalisierung immer und unter allen Umständen gut seien. Fragen nach Kosten, Nutzen und Grenzen wurden schon mal mit einem Stirnrunzeln beantwortet. Wurde dieser Idealismus der Realpolitik geopfert?  

Das ist mir zu einfach. Die Welt ist geopolitisch in Unordnung geraten, darüber machen wir uns alle berechtigte Sorgen. Ja, es ist wichtig, sich gerade in einer solchen Welt den Idealismus und die Hoffnung zu bewahren. Denn es bleibt richtig: Der Austausch von Menschen über Kulturgrenzen hinweg ist ein Wert an sich, das Stiften interkultureller Erfahrungen und wissenschaftlicher Kooperationen zu Fragen, die uns auf diesem Planeten alle gemeinsam betreffen, ist ohne Alternative. Umgekehrt müssen wir aber anerkennen, dass anderswo Staaten, Regierungen und Regime erstarkt sind, deren Werte sich von unseren unterscheiden, und die ihre eigenen außenpolitischen Ziele verfolgen, und zwar mit großer Entschlossenheit. Auch diese Länder wollen wissenschaftliche Kooperation, aber aus Motiven, die nicht immer die unsrigen sind. Das müssen wir im Jahr 2023 bei allem, was wir als DAAD tun, im Hinterkopf haben. Sonst wären wir naiv. 

 

"Wir kommen aus einer Zeit, in der Deutschland,
Europa und der Westen insgesamt aus einer Position der Stärke heraus agieren konnten. Nun sehen wir uns konfrontiert mit einer veränderten Welt."

 

Sie sprechen von China?

 

China ist ein Beispiel. Wir haben ein großes Eigeninteresse daran, die Beziehungen zu einem der großen Hochschulmärkte nicht abbrechen zu lassen, zu einer der dynamischsten Wirtschaftsregionen überhaupt, die auch in vielen Forschungsfeldern sehr leistungsfähig geworden ist. Wir können und werden uns nicht abschotten, wollen aber gleichzeitig für unsere eigenen Interessen und Werte einstehen. Beides übereinzubringen, ist das große Kunststück. Das gilt für die Wissenschaft und genauso für die Wirtschaft oder die allgemeine Politik, wie wir gerade an den gemeinsamen Regierungskonsultationen sehen. Das neudeutsche Wort in dem Zusammenhang lautet "De-Risking", also ein Maximieren des Nutzens von Kooperationen bei gleichzeitiger Minimierung ihres wirtschaftlichen und politischen Risikos: Wir kommen aus einer Zeit, in der Deutschland, Europa und der Westen insgesamt aus einer Position der Stärke heraus agieren konnten. Nun sehen wir uns konfrontiert mit einer veränderten Welt, in der wir unsere Interessen, Ziele und Wertvorstellungen abwägen müssen mit denen der anderen, durchaus auch stärker auftretenden Seite. 

 

Wie schafft man dieses Abwägen?

 

Bleiben wir bei China. Wenn wir für unser gemeinsames Stipendienprogramm die Bewerber:innen interviewen, wollen wir beim DAAD diese Gespräche aus grundsätzlichen Erwägungen nicht aufzeichnen. Die Chinesen aber wollen das. Also was tun, damit wir unsere Zusammenarbeit nicht beerdigen müssen? Wir haben uns verständigt, dass der DAAD das Auswahlverfahren nach seinen Standards durchführt und die Chinesen nach ihren. Und am Ende werden diejenigen gefördert, die auf beiden Ergebnislisten stehen. 

 

Das hört sich so an, als hätten die chinesischen Bewerber in der Praxis wenig davon, wenn Sie demonstrativ demokratische Werte beschwören.

 

Das sehe ich anders. Wir haben das Ziel, das gemeinsame Förderprogramm fortzuführen – unter vertretbaren Bedingungen, ohne von unseren Standards abzulassen. Wir müssen aber anerkennen, dass die andere Seite auch ihre Grundsätze hat.  

 

Bevor Sie demnächst in Ihre zweite Amtszeit gehen, die Frage: Ist irgendetwas von dem, was Sie sich Ende 2019 für Ihre erste Amtszeit vorgestellt hatten, nicht von der Realität überholt worden?

 

Ich habe damals drei inhaltliche Schwerpunkte benannt, und ich finde, alle drei haben in den vier Jahren an Bedeutung gewonnen. Als ich Ende 2019 von einem digitalen Erasmussemester sprach, wurde ich von vielen belächelt; seit der Pandemie ist dies anders. Wie wichtig zweitens die Festigung des europäischen Hochschulraums war und ist, muss ich angesichts mancher Verwerfungen zwischen EU-Mitgliedsstaaten nicht erläutern. Das dritte Thema, das ich aufrief, war das Einstehen für unsere Werte. "Im Schlafwagen werden wir die Wissenschaftsfreiheit nicht verteidigen", habe ich damals gesagt. Seitdem mussten wir beobachten, was in Afghanistan geschehen ist oder im Iran. Der größte sicherheitspolitische Schock aber war der 24. Februar 2022, der russische Angriff auf die Ukraine. Er hat uns gezeigt, dass viele der Voraussetzungen, unter denen wir akademischen Austausch betrieben haben, nicht so gottgegeben waren, wie wir annahmen in den Jahrzehnten des Friedens und der relativen Stabilität in Europa. Insofern kann ich meinen Schlafwagen-Satz heute nur wiederholen. 

 

"Die Digitalisierung kam schneller und anders als erwartet, aber sie kam nicht unerwartet."

 

Bei der Digitalisierung ging es Ihnen damals um Nachhaltigkeit und die klimapolitischen Folgen des akademischen Austauschs.

 

In der Tat: Kein halbes Jahr, nachdem ich das gesagt habe, brach die Corona-Pandemie aus, die Studierenden konnten nicht mehr an ihre Gastuniversität reisen. Stattdessen nahmen sie an der Online-Lehre teil und erhielten trotzdem ihre Erasmus-Förderung oder ihr DAAD-Stipendium. Die Digitalisierung kam also schneller und anders als erwartet, aber sie kam nicht unerwartet. Diese Erfahrung können wir jetzt nutzen: Wenn die Hochschulen aus Nachhaltigkeitsgründen die physische Mobilität verringern wollen, können sie auf die bereits vorhandenen Konzepte zurückgreifen.

 

Allerdings gab es in der Corona-Zeit auch viel zusätzliches Geld. Jetzt fordern Pandemie und Ukraine-Krieg ihren haushaltspolitischen Tribut. Vergangenes Jahr haben Sie sich noch erfolgreich gegen Kürzungen beim DAAD gewehrt, gelingt Ihnen das auch dieses und nächstes Jahr?

 

Meine Universität in Gießen etwa bekommt wie alle hessischen Hochschulen von der Landesregierung eine für fünf Jahre feste Finanzierung und jährliche Steigerungsraten zugesichert. Vergleichbares kennen wir auf Bundesebene leider nicht. Der DAAD muss immer von Jahr zu Jahr wirtschaften und jedes Jahr um eine auskömmliche Finanzierung kämpfen. Zum Glück haben wir die guten Argumente auf unserer Seite, und wir sind hartnäckig darin, sie vorzubringen. Dadurch konnten wir 2022 den Bundestag dazu veranlassen, uns für 2023 ein Rekordbudget zu bewilligen. Für 2024 bin ich daher auch nicht hoffnungslos. Vor wenigen Wochen erst hat das BMBF die Förderung für unser Kompetenzzentrum Internationale Wissenschaftskooperationen (KIWi) verdoppelt. Die Wahrheit ist aber: All das bietet keinerlei Garantien für 2024. 

 

Was haben Sie den DAAD-Mitgliedshochschulen für Ihre zweite Amtszeit als Schwerpunkte genannt?

 

Was ich jetzt sage, ist der Plan. Ob die Realität dann eine große Planungstreue zeigt, muss man sehen. Aus heutiger Sicht aber ist ein Fokus der nächsten vier Jahre die Erstellung einer neuen DAAD-Strategie, von der wir noch klären müssen, ob sie als Horizont das Jahr 2030 oder das Jahr 2035 hat. In jedem Fall wird sie sich dezidiert mit den geopolitischen Verwerfungen befassen, aber auch mit Fragen der Wissenschaftskommunikation und mit dem Beitrag, den wir bei der Bekämpfung des Fachkräftemangels leisten können. Sie soll pünktlich zum 100-jährigen Jubiläum fertig sein, das der DAAD 2025 feiert. Ein guter Zeitpunkt, um zurückzublicken, aber eben auch nach vorn – mit den Erfahrungen von einem Jahrhundert Austausch im Gepäck und mit einer neuen Strategie für die Welt der 20er und 30er Jahre. 


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Kommentare: 1
  • #1

    Bernd Käpplinger (Mittwoch, 21 Juni 2023 09:49)

    Wenn Wissenschaftspolitik so eng mit Sicherheits-/Geopolitik verschmolzen werden soll, entstehen da nicht auch Gefahren? Unabhängigkeit von Wissenschaft? Hatte und hat die Trennung von Wissenschaftspolitik und Sicherheits-/Geopolitik nicht vielleicht auch Vorteile? Wenn da nun alles aufs engste verschmelzen soll, liest sich das schon etwas "totalitär", um es mal sehr zuzuspitzen.