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Es läuft etwas auseinander

Der neue OECD-Bildungsbericht zeigt: Deutschlands soziale Polarisierung spiegelt sich auch in seinem Bildungssystem wider. Wie Bund und Länder reagieren – und was sich tatsächlich aus den Ergebnissen lernen ließe.

Illustration: pinterastudio / pixabay.

BUND UND LÄNDER IN A NUTSHELL: Als am Dienstag der Industriestaatenverband OECD seinen jährlichen Bildungsvergleich "Bildung auf einen Blick" präsentierte, kommentierte BMBF-Staatssekretär Jens Brandenburg (FDP): "Es ist alarmierend, dass der Anteil gering qualifizierter junger Erwachsener in Deutschland erneut gestiegen ist." Es brauche daher dringend eine bildungspolitische Trendwende. Mit dem geplanten Startchancen-Programm wolle man "den großen Hebel" ansetzen. Anschließend lobte er die berufliche Bildung als "ausgezeichnet".

 

Während Torsten Kühne (CDU), Vorsitzender der KMK-Amtschefskonferenz und Staatssekretär in der Berliner Senatsverwaltung, mit dem Lob der beruflichen Bildung in Deutschland anfing, die "weltweit großes Ansehen" genieße und führe in vielen Bereichen "zu erfreulichen Ergebnissen" führe. Um dann zu sagen: "Besondere Sorge bereitet uns, dass der Anteil der gering qualifizierten Erwachsenen angestiegen ist."  Es bleibe eine "kontinuierliche Aufgabe, unsere Bildungslandschaft weiter zu verbessern, um sicherzustellen, dass alle jungen Menschen in Deutschland die besten Bildungschancen erhalten".

 

Zwischen Alarmismus
und Allgemeinplätzen

 

Sowohl der alarmistische Ton des Bundes (der überwiegend von der Medienberichterstattung aufgegriffen wurde) als auch die betont nüchterne, in Allgemeinplätze mündende Rhetorik aus den Ländern reflektieren den Zustand des deutschen Bildungswesens. Dazu das Selbstverständnis seiner politischen Akteure. Und die Beziehung, die sie im Moment zueinander pflegen. 

 

Zuerst aber einige wichtige OECD-Ergebnisse und was sie bedeuten.

 

Erstens: Im Gegensatz zu allen anderen untersuchten Ländern bis auf Tschechien stieg in Deutschland der Anteil der 25- bis 34-Jährigen ohne Berufsausbildung oder Abitur zwischen 2015 und 2022: um drei Prozentpunkte auf 16 Prozent. Das ist viel. Und ja, das kann auch mit dem Zustrom an Geflüchteten in den vergangenen Jahren zu tun haben, von denen viele in diese Altersgruppe fallen und keinen entsprechenden Abschluss mitbringen konnten. Aber als alleinige Erklärung taugt das nicht, wie der Verweis auf Schweden zeigt. Dort ging der (in den Jahren vorher stark gestiegene) Prozentwert junger Leute ohne mindestens Sekundarstufe-II-Abschluss seit 2015 um drei Prozentpunkte auf 15 herunter – obwohl Schweden noch 2015 und 2016 auf die Bevölkerung bezogen sogar mehr Menschen aufnahm als Deutschland. Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass Schweden seit 2016 den Zugang für Geflüchtete extrem erschwert hat. 

 

 

Zweitens: Zu den großen Erfolgsgeschichten der Bildungspolitik zählt, dass Deutschland bei den akademischen Abschlüssen seinen lange gewaltigen Rückstand weiter aufholt. 2022 hatten 37 Prozent einen Hochschulabschluss (in der OECD insgesamt 47 Prozent), sieben Prozentpunkte mehr als 2015. Bemerkenswert ist, dass sich in der Bundesrepublik erst jetzt die Schere zwischen den Geschlechtern öffnet, die aus vielen anderen Ländern lange bekannt ist. Akademiker-Anteil bei den Männern: 35 Prozent (+6); bei den Frauen: 40 Prozent (+9). 

 

Drittens: So viel in Deutschland im vergangenen Jahr über die sogenannten NEETs diskutiert wurde, also über junge Menschen, die sich weder in Ausbildung befinden noch einen Job haben: Im internationalen Vergleich liegt die Bundesrepublik hier noch unter dem Schnitt, mit je nach Bildungsstand fünf bis 12 Prozent der 25- bis 29-Jährigen. OECD: 10 bis 17 Prozent, Frankreich 10 bis 22 Prozent. Griechenland, das die schlechtesten Wert aufweist, erreicht gar bis 33 Prozent.

 

Viertens: Deutschland investiert für seine Schüler und Studierenden pro Kopf rund 15.800 Dollar und übertrifft damit das Mittel der OECD-Länder um etwa 3.100 Dollar. Weniger schmeichelhaft wird die Statistik, wenn man die Aufwendungen ins Verhältnis zur Wirtschaftsleistung setzt: 4,6 Prozent – ein satter halber Prozentpunkt weniger als der internationale Durchschnitt. Schaut man auf diejenigen Länder mit den führenden Bildungs- und Wissenschaftssystemen weltweit, wird der Unterschied eklatant. Israel: 6,4 Prozent, Schweden: 5,7 Prozent, Großbritannien: 6,3 Prozent. Und ja, im Fälle Großbritanniens liegt das auch am sehr gebührenlastigen Hochschulsektor, aber nicht nur. Für das übrige Bildungssystem verwendet das Vereinigte Königreich 4,2 Prozent seiner Wirtschaftsleistung – und Deutschland 3,3 Prozent. 

 

Es geht nicht um eine Wahl
"Ausbildung oder Studium"

 

Was lässt sich also unabhängig vom politischen Spin oder das Aufsetzen von Bund-Länder-Brillen festhalten? Vor allem dies: In Deutschland läuft, wenig überraschend, etwas auseinander. Während erfreulicherweise mehr Menschen als je zuvor einen Hochschulabschluss erwerben, gibt es deutlich mehr Menschen, die komplett abgehängt werden. Weil sie ohne Abitur oder Berufsabschluss keinen Beruf werden ausüben können, der ausreichend gut bezahlt wird. Und weil sie nicht mithalten können mit den technologischen und gesellschaftlichen Umwälzungen, die sich besonders stark auf Wirtschaft und Arbeitsmarkt auswirken.

 

Angesichts solcher Zahlen ist es ärgerlich, wieviel Zeit in den vergangenen Jahren auf vollkommen überflüssige Debatten einer angeblichen Akademikerschwemme verwendet wurde, die nur Unsicherheit unter jungen Menschen erzeugt haben, aber ansonsten vollkommen am Punkt vorbeigingen: Nicht mehr Abiturienten und mehr Hochschulabsolventen sind das Problem, da sie praktisch alle ein erfolgreiches Berufsleben vor sich haben. Diejenigen, die auf der Strecke bleiben, standen nicht nämlich gar nicht vor der Wahl "Ausbildung oder Studium". 

 

Stattdessen zeigt sich, dass eine Beseitigung des so stark befürchteten Fachkräftemangels aufs Engste verknüpft ist mit der Beantwortung der sozialen Frage im Bildungssystem:  Nur wenn es in den Schulen gelingt, den eklatant hohen (und gestiegenen) Anteil junger Menschen zu senken, die nicht richtig lesen, schreiben und rechnen können, werden wieder mehr von ihnen die Kompetenzen erreichen, die sie brauchen, um eine berufliche Ausbildung zu schaffen und ein selbstbestimmtes Leben führen zu können. 

 

Deutungsstreit um
politische Geländegewinne

 

Was bedeutet dies nun für die politische Debatte? Weder den Ländern noch dem Bund sind die Zahlen oder die von der OECD beschriebenen Entwicklungen wirklich neu. Doch nutzt der Bund sie wie so oft in den vergangenen Monaten, um Druck auf die Länder auszuüben. Das Ziel ist nicht mehr eine Reform des Bildungsföderalismus insgesamt, wie er Anfang der Legislaturperiode vorstellbar erschien, das hat sich die Ampel angesichts der starken Friktionen mit den Ländern längst abgeschminkt. Aber die "Startchancen", dieses symbolträchtige Förderprogramm für benachteiligte Schüler und Schulen, gilt es noch über die Ziellinie zu bringen. Und hier hilft dem Bund, um in den laufenden Verhandlungen seine Vorstellungen der Pakt-Konditionen möglichst weit durchzusetzen, jede öffentliche Empörung über den Status Quo. Denn für diesen Status Quo sind entsprechend der Verfassung zu allererst die Länder zuständig.

 

Entsprechend gelassener, ja beschwichtigender daher die Positionierung der Länder. Sich nur nicht vorführen lassen mit dem Reden über eine bildungspolitische Trendwende, lautet die Devise: die Problem einräumen, ja, aber vor allem aber auch auf die Stärken des Bildungssystems hinweisen. Und auf das, was man selbst tut und wofür man den Bund gar nicht braucht. Weshalb der Berliner Staatssekretär auch nicht die "Startchancen" als Antwort auf den wachsenden Anteil der gering Qualifizierten erwähnt, sondern den "Pakt für berufliche Bildung, den die Kultusministerkonferenz gemeinsam mit der Wirtschaft und allen relevanten Akteuren auf den Weg bringt". 

 

Bund und Länder in a nutshell und Business as usual im Föderalismus? Vielleicht. Wäre da nicht das Misstrauen zwischen den Ebenen, das zurzeit sogar noch stärker ist als normalerweise. Was zu tun hat mit einer Kultusministerkonferenz, deren überfällige Reform hin zu einer größeren Wirksamkeit lähmend langsam vor sich geht und deshalb allergisch reagiert auf alle Versuche, vorgeführt zu werden. Und mit einer Ampel-Regierung, deren leuchtende Versprechungen vom großem Bildungsaufbruch in einer gewaltigen Diskrepanz stehen zu der einen einzigen zusätzlichen Bildungsmilliarde pro Jahr, die vollständig erst 2025 fließen soll und trotzdem von FDP-Finanzminister Christian Lindner bei jeder Gelegenheit als Großtat gefeiert wird. 

 

So werden – leider – auch die OECD-Zahlen wohl kaum nüchtern diskutiert werden können und nach einem kurzen Aufblitzen wieder in der Versenkung der Tagespolitik verschwinden. Schade eigentlich. Denn, siehe oben, es ließe sich eine Menge aus ihnen lernen. 

 

Hinweis am 15. September: Ich habe die Passage zu Geflüchteten unter "Erstens" geändert, weil meine Darstellung hier nicht korrekt, zumindest aber nicht vollständig war. Ich danke Susmita Arp von der SPIEGEL-Dokumentation, die mich auf meinen Gedankenfehler hinwies.



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Kommentare: 2
  • #1

    Nikolaus Bourdos (Mittwoch, 13 September 2023 11:32)

    Eine zusätzliche Milliarde für die Bildung, und Lindner feiert sich dafür. Längst vergessen, dass die Bildungspolitik vor einigen Jahrzehnten eine Domäne der FDP war. Sie vertut die große Chance, sich als Partei der Aufsteiger zu profilieren.

  • #2

    Roderich Wetterkiesel (Freitag, 15 September 2023 14:11)

    Im Gegensatz zu der weitestgehend übertreibenden medialen Darstellung der Probleme ist der nüchterne und sachlich abwägende Kommentar des Autors wohltuend.