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Qualität von Bildung zeigt sich daran, wie wir mit den Schwächsten umgehen

Bildung ist ein Menschenrecht. Gleiche Bildungschancen für alle. Und nun zur Realität in Deutschland.

DIE VEREINTEN NATIONEN haben zum zweiten Mal geprüft, wie Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention umsetzt. Vor 14 Jahren hat sich die Bundesrepublik unter anderem verpflichtet, Menschen mit und ohne Behinderungen gemeinsam zu beschulen.

 

Das Ergebnis des zuständigen UN-Fachausschusses: Es fehlt so ziemlich an allem. Vor allem an Systematik und an Strategie. Das hat Folgen gerade in der Bildung. Mehr als die Hälfte aller Kinder mit Behinderungen besuchen immer noch sogenannte Förderschulen, ihr Anteil an allen Schülern hat sich seit 2009 nur im Zehntelprozentbereich verringert und stagniert laut Bertelsmann-Stiftung bei aktuell 4,3 Prozent.  

 

Ein anderes Beispiel. Die deutsche Sektion von Unicef und das Deutsche Institut für Menschenrechte haben geflüchtete Kinder und Jugendliche nach ihren Lebens- und Lernbedingungen befragt. Anstatt zur Schule gehen zu dürfen, hocken etliche den ganzen Tag in ihren Unterkünften. Oft ohne Platz zum Lernen. Manchmal mit Ersatzunterricht, den sie selbst als unzureichend empfinden. Ohne Kontakt zu nicht geflüchteten Kindern.

 

Passend dazu hat wiederum die Bertelsmann-Stiftung gerade erst darauf aufmerksam gemacht, dass vier von fünf eingewanderten Lehrkräften in Deutschland nicht entsprechend ihrer Qualifikation beschäftigt werden. Es hapert bei der Anerkennung von Abschlüssen und Berufserfahrung, an der Unterstützung beim Wiedereinstieg. 

 

UN: Es fehlt an Problem-
und Verantwortungsbewusstsein

 

Drei Beispiele, von denen keines etwas mit einem Mangel an Geld, Personal oder Ressourcen zu tun hat. Kurzfristig vielleicht. Aber mal ehrlich: Wenn ein reiches Land wie Deutschland seit 14 Jahren den Durchbruch bei der Inklusion nicht schafft, muss das andere Gründe haben. Den wichtigsten hat der UN-Fachausschuss in seinem Bericht sehr treffend beschrieben: Es fehle an Problem- und Verantwortungsbewusstsein auf allen staatlichen Ebenen.

 

Die zweite – noch entscheidendere – Ursache ist aber eine Gesellschaft, die die Politik damit durchkommen lässt. Weil wir sozial- und bildungspolitisch in Schubladen zu denken gelernt haben. Weil wir Inklusion, Persönlichkeitsentwicklung und Leistungsentfaltung oft als Gegensätze definieren, nicht als einander bedingende Facetten.

 

Das zeigt sich übrigens auch abseits vom Umgang mit Behinderten und Geflüchteten. Dass je nach Jahrgang und Bundesland ein Fünftel bis ein Viertel der Schüler in Deutschland nicht richtig lesen, schreiben und rechnen kann, ist womöglich der stärkste Beleg: Die deutsche Strategie, Schüler anhand ihrer (vermuteten) sozialen, persönlichen oder intellektuellen Defizite zu separieren, fördert weder Bildungsgerechtigkeit noch Qualität, sondern vor allem die Tendenz, pädagogische Probleme institutionell wegdelegieren zu wollen.

 

Wer glaubt, solche Thesen seien Ausfluss wohlfeiler linksgrüner Wokeness, ohne Kenntnis der real existierenden Probleme, der ignoriert seinerseits zweierlei: Viele der leistungsstärksten Bildungssysteme in Europa und Nordamerika, etwa die skandinavischen Länder und Kanada, sind weitgehend inklusiv organisiert. Und internationale Organisationen wie die UN oder Unicef wurden auch nicht in Berlin-Friedrichshain oder Hamburg-Eimsbüttel gegründet. 

 

Unser Bildungssystem wird so lange mittelmäßig bleiben, bis wir begreifen: Seine Qualität für alle entscheidet sich am Umgang mit denen, die scheinbar am Rand stehen.

 

Dieser Kommentar erschien heute zuerst im meiner Kolumne "Wiarda will's wissen" im Tagesspiegel.




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Kommentare: 2
  • #1

    Kai Maaz (Freitag, 22 September 2023 07:50)

    Vielen Dank für diesen Beitrag. Er holt ein Thema nach oben, das droht, langsam aber sicher in Vergessenheit zu geraten.

  • #2

    Wolfgang Kühnel (Dienstag, 31 Dezember 2024 10:56)

    Die große Schweden-Begeisterung erfährt hier doch einen gewissen Dämpfer, insbesondere in Abschnitt 3 und am Ende von Abschnitt 2, auch was die Vorstellungen hüben und drüben von der Inklusion betrifft:
    https://www.inklusion-online.net/index.php/inklusion-online/article/view/78/78
    Eigentlich müsste zumindest Herr Maaz davon Kenntnis haben. Auch aus Finnland wurde berichtet, dass die dortige Wirklichkeit nicht mit den überschwänglichen Berichten von GEW-Funktionären übereinstimmt, die dorthin gereist waren. Die Inklusion wird oft mit speziellen Klassen praktiziert, die dann einer Regelschule zugeordnet sind. Das ist nur auf dem Papier wesentlich anders als unsere Förderschulen.
    Und zumindest Bildungsforscher müssten wissen, dass die Tabelle 6.6 im Bericht zu PISA 2018 zeigt, dass Deutschland, Schweden und Finnland recht ähnliche Zahlen aufwiesen, was die Unterschiede zwischen den Migranten und den Nicht-Migranten betrifft. Auch die Niederlande, die Schweiz und Dänemark wiesen keine besseren Werte auf.

    Fazit: Der Skandinavien-Mythos ist nur dann berechtigt, wenn er mit harten Tatsachen unterfüttert ist. Ich habe aber nicht das Gefühl, dass das letztere stimmt. Jeder Interessierte kann diese Tabelle 6.6 auf Seite 150 aufschlagen. Man findet den PISA-Bericht leicht im Internet.