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"Wenn dann jemand entscheidet, unseren Bedingungen nicht entsprechen zu können, hilft das zur Klärung"

Die "VolkswagenStiftung" reagiert auf eine Studie zu veränderten Wissenschaftskulturen und zieht Konsequenzen für ihr Fördergeschäft. Ein Interview über mehr Gerechtigkeit auf dem akademischen Arbeitsmarkt, neue Forderungen an Antragsteller und ein Hinterfragen geltender Bewertungssysteme.

Henrike Hartmann ist stellvertretende Generalsekretärin und leitet die Abteilung Förderung der "VolkswagenStiftung". Georg Schütte ist Generalsekretär und führt die Geschäftsstelle der Stiftung. 

Fotos: Nico Herzog/ Philip Bartz, jeweils für VolkswagenStiftung.

Frau Hartmann, Herr Schütte, die "VolkswagenStiftung" hat eine Studie "Wissenschaftskulturen in Deutschland" in Auftrag gegeben, deren Ergebnisse jetzt veröffentlicht werden. Grundlage waren Fokusgruppen, Interview und Workshops mit Wissenschaftlern aller Karrierestufen und Wissenschaftsexperten aus dem In- und Ausland. Bevor wir über deren Inhalte sprechen: Ich hätte gedacht, als größter privater Forschungsförderer in Deutschland kennen Sie die Wissenschaftslandschaft auch ohne Studie in- und auswendig.

 

Georg Schütte: Sozialwissenschaftliche Forschung bietet immer den Vorteil, Aussagen, die man als gegeben hinnimmt, noch einmal kritisch zu hinterfragen. Wir waren motiviert durch eine Studie, die im Jahr 2020 von den Kolleginnen und Kollegen des Welcome Trust in Großbritannien durchgeführt wurde, Titel: "What researchers think about the culture they work in." Wir wollten wissen: Was kommt dabei raus, wenn wir dieselbe Frage in Deutschland stellen? Gibt es verbreitete Annahmen über unser Wissenschaftssystem, die sich, wenn man mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern spricht, als längst überholt herausstellen? Es ging uns um das stille Wissen, das alle Insider in sich tragen, aber nur selten nach außen artikulieren.

 

Und, gibt es solche Annahmen?

 

Schütte: Und ob. Das zeigte sich, noch bevor wir die Studie überhaupt gestartet hatten, in den Gesprächen, die wir mit den Mitgliedern unseres Beraterkreises geführt haben. Schon da wurde uns klar: Wir reden nicht nur über eine Wissenschaftskultur im Wandel, wir reden über viele Wissenschaftskulturen, die abhängig von den einzelnen Disziplinen geprägt sind von jeweils ganz eigenen Regeln, Annahmen, Standards und Verhaltensweisen. 

 

Das ist noch nicht wirklich überraschend.

 

Schütte: Ja, aber wie genau unterscheiden sich diese disziplinären Kulturen, entwickeln sie sich auseinander oder aufeinander zu? Da haben wir tief hineingeschaut und festgestellt, dass sich aus den Besonderheiten der einzelnen Fächer durchaus Schlussfolgerungen für allgemeine, gemeinsame Problemlagen ziehen lassen. Ein Beispiel: In den Geisteswissenschaften werden Doktorandenstellen mit einem Umfang von 65 oder 75 Prozent als gängig angesehen und man meint, dass die Stelleninhaber gleichwohl Vollzeit arbeiten sollen. In den Technikwissenschaften oder in der Informatik werden dagegen 100-Prozent-Stellen angeboten. Begründung: weil der Arbeitsmarkt außerhalb der Wissenschaft, Stichwort Konkurrenz, das eben so erfordere. Diese auffällige Diskrepanz zwischen den Fächern wurde nicht groß hinterfragt. Unsere Schlussfolgerung als Stiftung aber lautet: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Hier sehen wir unsere Aufgabe als Forschungsförderer: Wie können wir dazu beitragen, einen akademischen Arbeitsmarkt zu schaffen, der gerade zu Karrierebeginn gerecht ist und fächerunabhängig hinreichende Zukunftsaussichten bietet?

 

"Die Bereitschaft zur Selbstausbeutung und dazu,
schlechte Arbeitsbedingungen in Lehre und Forschung
als gegeben zu akzeptieren, ist geschwunden

 

Henrike Hartmann: Das war für uns von Anfang an das Ziel hinter der Studie: Wir wollten nicht nur herausfinden, wie es um die Wissenschaftskulturen in Deutschland bestellt ist, wir wollten Konsequenzen für unser Förderhandeln ableiten. Was in der Befragung klar herauskommt, ist der grundlegende Wechsel des Selbstverständnisses zwischen früheren Wissenschaftlergenerationen und der heutigen. Früher wurde Wissenschaft als Berufung gesehen, heute als Beruf. Die Bereitschaft zur Selbstausbeutung und dazu, schlechte Arbeitsbedingungen in Lehre und Forschung als gegeben zu akzeptieren, ist geschwunden. 

 

Und was bedeutet das für die "VolkswagenStiftung"?

 

Schütte: Wir haben zwei konkrete Konsequenzen gezogen. Erstens: Wir wollen verstärkt semi-stabile Forschungsgruppen unterstützen, also Teams, deren Mitglieder sich teilweise aus den Inhabern von Dauerstellen rekrutieren. Diese wechseln nur für die Laufzeit ins Projekt und werden nur so lange aus den Projektmitteln bezahlt. Oft heißt es in den Universitäten, die Anforderung, Drittmittel einzuwerben, liege quer zu dem Ziel, die Befristungsquote unter den Mitarbeitern zu senken. Darauf reagieren wir. Zweitens wollen wir die bereits laufende Debatte über die Bewertungssysteme in der Wissenschaft befördern.

 

Bleiben wir zuerst bei den, wie Sie es nennen, "semi-stabilen" Teams. Wie wollen Sie mehr davon an die Hochschulen bekommen?

 

Schütte: Indem wir alle, die Fördergelder bei uns beantragen, stärker in die Verantwortung nehmen. Mit jedem Förderantrag muss künftig nicht nur ein Stellenkonzept eingereicht werden, sondern auch überzeugend begründet und dargelegt werden, wie und warum einzelne Personen auf welcher Qualifikationsstufe dauerhaft beschäftigt werden oder nicht und welche Perspektiven es für Beschäftigte auf Projektstellen gibt. Wir wollen so einen Denkprozess anstoßen.  

 

Hartmann: Wenn ein Doktorand eingestellt wird für ein Projekt, passiert das oft nicht aus einer inhaltlichen Begründung heraus, sondern weil Postdocs teurer sind. Wir verlangen nun aber, dass genau begründet wird, ob und wie eine bestimmte Beschäftigung zur Weiterqualifizierung der vorgesehenen Person passt. Bei Postdoc-Stellen wollen wir genauso wissen: Ist die geplante Aufgabe wirklich ein sinnvoller Start in eine wissenschaftliche Karriere hinein? Wie sieht es mit der Betreuung aus? Erhält jemand Fertigkeiten, die ihm oder ihr auch den nichtakademischen Arbeitsmarkt weiterhelfen? Oder wird da jemand speziell für den akademischen Markt qualifiziert – und wenn ja, wie steht es um seine Anschlussoptionen? Klar ist der Postdoc auch selbst für sein Fortkommen verantwortlich. Aber wer übernimmt Mitverantwortung für seine Zukunft? Und wie wird das im Projekt abgebildet?

 

"Begründet aus euren Fachkulturen heraus, welche Stellenkonstellationen und Perspektiven ihr für junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler schaffen wollt."

 

Ziemlich viele Fragen, die auf einen gemeinsamen Mindeststandard bei den akademischen Karrierewegen abzielen. Wie aber passt ein gemeinsamer Standard für alle zu der zuvor von Ihnen betonten Unterschiedlichkeit der Wissenschaftskulturen? Haben Sie keine Angst vor einem Gleichmacherei-Vorwurf?

 

Schütte: Ich kann da keinen Widerspruch erkennen, weil wir auf einer übergeordneten Ebene argumentieren und den einzelnen Fachgebieten keine Vorschriften machen, wie es zu sein hat. Wir stellen aber die Anforderung: Begründet aus euren Fachkulturen heraus, welche Stellenkonstellationen und Perspektiven ihr für junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler schaffen wollt. Für einige Disziplinen mag das stärker eine neue Herangehensweise sein als für andere.

 

Und für einige Fächer erhöhen Sie so womöglich entscheidend die Barrieren für einen Antrag um Fördergelder der "VolkswagenStiftung".

 

Hartmann: Das kann schon sein. Aber für uns darf nicht die absolute Zahl der Anträge entscheidend sein, sondern dass sie wirklich durchdacht sind im Interesse aller Beteiligten. Wenn dann im Ergebnis der eine oder die andere entscheidet, dass sie unseren Bedingungen nicht entsprechen können, hilft das zur Klärung.

 

Die Aufrufe, dass die Hochschulen aus Drittmitteln mehr Dauerstellen schaffen sollen, hörte man zuletzt häufiger, auch aus der Politik. Bei den verantwortlichen Kanzlern lösen solche Appelle mitunter Kopfschütteln aus. Das würde man ja gern, sagen sie, aber die konkreten Verwendungsvorschriften, das Kleingedruckte, lasse genau das meist nicht zu.

  

Schütte: Wir versuchen, in unserer Förderung möglichst ohne Kleingedrucktes auszukommen. Das heißt natürlich, dass wir auch riskante Forschungsprojekte ermöglichen. Die Hochschulen und Wissenschaftseinrichtungen sollen Freiräume zum Ausprobieren haben. Aus Dingen, die nicht klappen, lernt man. Allerdings muss man, wenn es um Menschen geht, besonders vorsichtig sein und darf nicht zu weit ins Risiko gehen. Das ist das Spannungsfeld, und das versuchen wir zu bearbeiten.

 

Hartmann: Das entspricht dem Selbstverständnis der Stiftung, Impulse zu geben, Strukturbildung zu betreiben. Das umfasst zwangsläufig nicht nur die Forschung selbst, sondern auch die administrativen Vorgänge drumherum. Das Ziel ist zu zeigen, dass es auch anders gehen kann.

 

"Viele Fragestellungen. Die Studie ermutigt uns,
sie weiter anzugehen."

 

Sie sprachen vorhin von der zweiten Schlussfolgerung, die Debatte über die Bewertungssysteme in der Wissenschaft zu befördern. Was haben Sie vor?

 

Hartmann: Wir haben nicht nur vor, wir machen bereits. Wir haben eine Ausschreibung gestartet, um das Wissen über die vorhandenen Bewertungssysteme und ihre Funktionsweisen zu erhöhen. Die Anträge liegen jetzt auf dem Tisch, und sie zeigen eine erfreuliche Vielfalt mit diversen nationalen und internationalen Konsortien, die sich mit allen Dimensionen von Bewertung beschäftigen wollen: vom Publikationswesen über die Frage, welche Themen besonders gut laufen, bis hin zum Umgang mit Wissenschaftspreisen. Wir gehen jetzt in die Begutachtung, in einem halben Jahr wissen wir, wer in die Förderung kommt. Die Resonanz auf die Ausschreibung zeigt schon einmal die Relevanz der Frage.

 

Schütte: Das war eine glückliche Koinzidenz. Wir hatten die Ausschreibung gestartet, bevor die Ergebnisse der Studie vorlagen. Beides passt jetzt sehr gut zusammen. Wir müssen, das wird aus der Studie sehr deutlich, fragen: Wie wird Reputation zugeschrieben in der Wissenschaft? Wie werden Erfolge und Misserfolge gemessen, und wie ist das System organisatorisch und prozedural aufgestellt, um mit der Vielfalt der Anträge noch qualitativ angemessen umzugehen? Also viele Fragestellungen. Die Studie ermutigt uns, sie weiter anzugehen.

 

Zur Wahrheit gehört, dass auch die "VolkswagenStiftung" dieses Bewertungssystem durch die Vielzahl von Antragsverfahren und Begutachtungen weiter füttert. Viele Wissenschaftler fühlen sich durch das ständige Begutachtetwerden, aber auch durch das ständige Begutachten überlastet.

 

Hartmann: Weshalb wir schon länger gegensteuern. Neu ist, dass alle Begutachtenden bei uns an einer Verlosung teilnehmen. Als Gewinn gibt es 25mal 10.000 Euro Fördergeld zum Aufbau und zur Pflege internationaler Wissenschaftskooperationen. 

 

Damit ändern Sie nicht das System, sondern verschaffen sich lediglich einen Vorteil im Konkurrenzkampf um die zu wenigen Gutachter. 

 

Hartmann: Dieser Vorwurf wäre berechtigt, wenn wir einfach die Honorare für alle erhöhen würden und dadurch den Wettbewerb der Förderer anheizen würden. Genau das tun wir aber nicht. Sondern wir greifen bewusst die verbreitete Kritik auf, die Arbeit, die Begutachtende leisten, werde nicht ausreichend gesehen. Durch die Verlosung machen wir sie sichtbar. Und durch die vorgegebene Verwendung der Gelder profitiert nicht ein einzelner, die begutachtende Person, sondern, wenn es weise eingesetzt wird, eine Gruppe von Wissenschaftlern, darunter auch die am Beginn ihrer Karriere. Aber zugegebenermaßen handelt es sich um ein Experiment. Wir machen das jetzt für ein Jahr und vergleichen dann die Quote der Ab- bzw. Zusagen potenzieller Gutachter mit der Zeit vor der Verlosung. Bislang ist die Resonanz, die wir bekommen, positiv. 

  

Das mit dem Verlosen machen Sie bei der "VolkswagenStiftung" an anderer Stelle schon länger. Bei manchen Ausschreibungen wählt die Jury zunächst nur die allerbesten Vorhaben aus, die übrigen brauchbaren Anträge gehen in einen Topf, und aus dem wird nach dem Zufallsprinzip eine weitere Anzahl zur Förderung gezogen. Hat sich das bewährt?  

 

Hartmann: Nach anfänglicher Kritik und Zurückhaltung hat sich in der Community die Erkenntnis durchgesetzt, dass Losverfahren in bestimmten Ausschreibungen durchaus sinnvoll sein können. Inzwischen wurde die Idee von vielen Förderern aufgegriffen, auch großen öffentlichen wie dem FWF in Österreich oder dem Schweizer Nationalfonds.

 

"Manchmal besteht unser Lernen auch
darin, etwas Neues wieder zu lassen." 

 

In welchen Situationen sind Losverfahren denn sinnvoll?

 

Hartmann: Immer da, wo die Gefahr besteht, dass die Peer-Review-Begutachtung allein unkonventionelle und risikoreiche Projektanträge benachteiligen könnte. 

 

Aus einer ähnlichen Motivation haben Sie vor Jahren auch sogenannte Förderjoker eingeführt. Die ermöglichen es einzelnen Jurymitgliedern, ein Projekt für die Förderung durchzusetzen, auch wenn die Mehrheit der Gutachter nicht dafür ist.  

 

Hartmann: Und da haben wir gemischte Erfahrungen gemacht, abhängig von den Disziplinen. In den Lebenswissenschaften hat sich der Förderjoker bewährt, um neues Forschungsterrain zu erschließen, mit sogenannten High-Risk-High-Gain-Anträgen. Wo also das Risiko eines Scheiterns sehr hoch ist, der mögliche Ertrag aber eben auch. Anders sieht es in den diskursintensiven Wissenschaften aus, da haben wir erlebt, dass über den Förderjoker Schulenstreits ausgetragen wurden. Das schafft unnötig Kontroversen, weshalb wir den Förderjoker in diesen Wissenschaften nicht mehr einsetzen. Manchmal besteht unser Lernen auch darin, etwas Neues wieder zu lassen. 



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Kommentare: 4
  • #1

    Melanie Bittner (Mittwoch, 04 Oktober 2023 11:01)

    Ich schätze diesen Blog sehr und finde auch das Interview total interessant. Aber warum verwenden Sie immer noch das sogenannte generische Maskulinum?

  • #2

    Rudolf Seligmann (Mittwoch, 04 Oktober 2023 20:23)

    Alles ganz interessant. Aber besteht nicht auch hier wieder die übliche deutsche Gefahr, die Dinge immer mehr zu bürokratisieren?

  • #3

    Michael Böcher (Donnerstag, 05 Oktober 2023 15:24)

    Sehr interessantes Interview, danke! Allerdings frage ich mich schon, warum der Ansatz sein soll, auf ein vermeintliches verändertes berufliches Selbstverständnis zu reagieren (Wissenschaft als Beruf anstatt Berufung) , indem man die Förderung anpasst (und noch mehr mit wissenschaftsfernen Bürokratismen anzureichern) , anstelle Förderung so zu verändern, dass Wissenschaft wieder als Berufung verstanden werden kann. Auch habe ich nicht verstanden, warum und wie Dauerstellen temporär aus Projektmitteln bezahlt werden sollen. Die Unis freuen sich, Geld zu sparen, das vermutlich dann nicht den Antragstellenden zu gute kommt. Hier wäre eine Nachfrage schön gewesen.

  • #4

    nise (Freitag, 06 Oktober 2023 16:25)

    "Begründet aus euren Fachkulturen heraus, welche Stellenkonstellationen und Perspektiven ihr für junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler schaffen wollt."

    Ich verstehe nicht, warum die Antragstellenden eine Antwort auf strukturelle Probleme bei der Befristung von Wissenschaftler:innen geben sollen. Begründungen für alles mögliche sind nur zu typisch für die Antragsprosa, die uns alle so quält. Die Antragstellenden müssen lediglich die Intention der Geldgeber erkennen und sich eine plausible Geschichte ausdenken.
    Warum bringt die Volkswagenstiftung den Antragstellenden so wenig Vertrauen entgegen, ihr Geld sinnvoll auszugeben?