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Deutschlands Schulen zerbröseln: Von Schimmel, Nässe und Unterricht in der Turnhalle

Auf gewaltige 47,4 Milliarden Euro beziffern die Kommunen den Sanierungsbedarf. Doch wenn es um Schul- und Unigebäude geht, fehlt in "Doppel-Wumms"-Deutschland das Geld. Und der Wille.

Erst mussten fast alle zu Hause lernen, dann gab es Wechselunterricht: So startete das neue Schuljahr an der Willy-Brandt-Gesamtschule in Kerpen. Foto: Screenshot von der Website.

NEIN, SAGT THOMAS MARNER, diese Misere habe keiner vorhersehen können. "Das war ein absolut unsachgemäßer Bauablauf." Marner ist Erster und Technischer Beigeordneter der Stadt Kerpen bei Köln, und seit August musste er einen zerknirschten Brief nach dem anderen an die Eltern der Willy-Brandt-Gesamtschule und der Realschule im selben Gebäude schreiben. Über dramatische Wasserschäden und Schimmelfall. Die Anordnung von Distanzunterricht, Wechselunterricht und das Verfrachten mehrerer Schulklassen in die Turnhalle. 

 

Kerpen ist kein Einzelfall. Überall in Deutschland zerbröseln Schulen. Und mit ihnen die Grundlage für eine solide Bildung, für Wissenschaft, für Innovationen, für Wirtschaftskraft. Zig Milliarden Euro müssten für die Sanierung von den Kommunen aufgebracht werden. Doch es liegt nicht allein am Geld, dass Renovierungen verschleppt, Sanierungen vertagt und Bauarbeiten über Jahre und Jahrzehnte gestreckt werden. Das zeigen Beispiele wie der Willy-Brandt-Schule in Kerpen und der Kurt-Schumacher-Grundschule in Berlin-Kreuzberg.

 

In Kerpen stammt das Schulgebäude zu großen Teilen aus den 70er Jahren, besonders dringend mussten die Flachdächer über den Fachräumen für Musik und Naturwissenschaften saniert werden. In den Sommerferien legten die Dachdecker los – und hätten dann alle Lichtkuppeln auf einmal entfernt, anstatt sie einzeln auszutauschen, sagt Marner. Als nächstes begann der Regen. Wasser strömte ein, durchnässte Räume, Mobiliar und Ausstattung – mehrere Male. So genau wisse sie das nicht, sagt Kristiane Benedix, die stellvertretende Schulleiterin der Willy-Brandt-Schule. Aber die Feuerwehr sei mindestens einmal gekommen. 

 

"Es war wie in Corona-Zeiten",
sagt der Vater eines Achtkässlers

 

Kurz darauf die nächste Hiobsbotschaft: Tests ergaben, dass sich Schimmelsporen ausgebreitet hatten, vor allem in die angrenzenden Gänge und dort in die Zwischenräume der abgehängten Holzdecken. "Praktisch alle Schüler und Lehrer beider Schulen mussten da durch, das konnte ich nicht verantworten", sagt Marner. Weshalb er die Sperrung des Gebäudes anordnete. 

 

"Es war wie in Corona-Zeiten", sagt Markus Rixen, dessen Sohn in die achte Klasse geht. "Distanzunterricht für fast alle Klassen. Angekündigt von einem Tag auf den nächsten." Doch das war nur der Anfang. Der Ausnahmezustand an der Willy-Brandt-Schule würde sich bis zu den Herbstferien fortsetzen.

 

Auf gewaltige 47,4 Milliarden Euro beziffern die deutschen Kommunen im jährlich erhobenen Kommunalpanel der KfW-Bankengruppe den aktuellen Sanierungsbedarf an ihren Schulen. "Wenn in Kommunen das Geld knapp ist, werden anstehende Bauinvestitionen mit als erstes aufgeschoben", sagt KfW-Chefvolkswirtin Fritzi Köhler-Geib. "Gebäude schreien halt nicht, wenn sie erst ein Jahr später saniert werden." 

 

Und wenn dann endlich saniert wird, geht mitunter noch schief, was schiefgehen kann. Nur noch episch zu nennen ist der Super-Gau, der die Schüler, Eltern und Lehrkräfte der Kurt-Schumacher-Grundschule in Berlin-Kreuzberg 2012 ereilte. Von einem Tag auf den anderen wurde das Haus nach einer Brandbegehung geschlossen. Kinder und Kollegium saßen im Hortgebäude fest, ohne Mensa, ohne Sporthalle, ohne Fachräume, für mehr als ein Jahrzehnt. So lange dauerte es, bis auch nur der erste Bauabschnitt fertig war. 

 

Eltern twitterten vom
Schul-"BER Kreuzberg"

 

"Leider hat man sich damals für eine Sanierung entschieden, der Neubau wäre schon längst fertig", sagt Schulleiterin Anna Vonhof. Das Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg habe "versäumt, ausreichende Bausubstanzuntersuchungen durchzuführen", urteilte 2019 der Landesrechnungshof. 

 

Auf Twitter machte die Schule als "BER Kreuzberg" Karriere, weil eine Elternvertreterin diesen Skandal nicht mehr hinnehmen wollte und öffentlich machte. "Mittlerweile hat die erste Generation von Schülern die Kurt-Schumacher-Grundschule verlassen, ohne jemals einen Fuß in das Schulgebäude oder die Turnhalle gesetzt zu haben", schrieb sie. Und weiter: Über Jahre hätten die Bauarbeiten geruht, mehrfach seien "Firmen insolvent gegangen, hätten den Auftrag gekündigt oder wurden gekündigt", kann man auf der "BER- Kreuzberg"-Website nachlesen. 

 

Inzwischen ist die Elternvertreterin längst weg, doch die Geschichte eines öffentlichen Komplett-Versagen geht weiter. Der zweite Gebäudeteil soll angeblich bis 2026 fertig sein, doch, sagt Schulleiterin Vonhof, "dafür müssten die Arbeiten am zweiten Bauabschnitt erstmal beginnen. Doch da passiert gar nichts." Sie richte sich darauf ein, dass es bis weit nach 2026 dauern werde, "das sagt mir zwar bei den Behörden keiner so, aber die Erfahrungen der letzten Jahre sprechen dafür."

 

Andy Hehmke ist seit Ende 2021 Stadtrat für Schule, Sport und Facility Management im Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg, womit er nach eigenen Worten "letztlich die politische Verantwortung" trage, dass der zweite Bauabschnitt bald fertig werde. Allerdings räumt er ein, dass bereits eine Verzögerung eingetreten sei, statt Sommer soll nun Ende 2026 Fertigstellung sein. Die Schule sei informiert worden, im Januar treffe er sich in großer Runde vor Ort mit Schulleitung, Elternvertretung und Hochbauservice.

 

Seit Beginn der Berliner Schulbauoffensive laufe vieles anders als früher, versichert Hehmke, jetzt gebe es bei großen Sanierungen zunächst ausführliche Bedarfsprogramme mit Beteiligung der Schule, gegebenenfalls Machbarkeitsstudien und Bausubstanzuntersuchungen. "Damals war all dies nicht der Fall. Die Schließung kam völlig unerwartet. Es war kein Geld vorhanden. Der Bezirk versuchte damals, mit wenigen Mitteln schnell zu reagieren und stellte erst im Prozess fest, was hier eigentlich an Problemen vorhanden ist."

 

Für nichts geben Kommunen mehr aus als für
ihre Schulen, trotzdem wächst der Sanierungsstau

 

Die Erhebung der KfW-Bankengruppe zeigt, dass die deutschen Kommunen gegenwärtig für nichts mehr ausgeben als für ihre Schulen. 12,1 Milliarden Euro sind es dieses Jahr, 28 Prozent aller geplanten Investitionen. Trotzdem reicht das nicht einmal, um den Sanierungsstau nicht noch weiter wachsen zu lassen: um 800 Millionen Euro gegenüber 2022. 

 

Hinzu kommt, dass die Not der Schulen sehr ungleich verteilt ist: 47 Prozent der Kommunen sehen keinen oder nur einen geringen Investitionsrückstand. 39 Prozent bezeichnen ihn als nennenswert. Und 13 Prozent als gravierend. "Aus den Daten können wir nicht ableiten, ob diese 13 Prozent die besonders armen sind", sagt KfW-Volkswirtin Köhler-Geib. Das sei indes eine valide Vermutung. "Denn eine angespannte Haushaltslage ist eines der wichtigsten Investitionshemmnisse für Kommunen."

 

Welche Schulen dann zuerst dran sind mit der Sanierung und welche warten müssen, hat womöglich zudem noch mit dem gesellschaftlichen Druck zu tun, den die Eltern machen können – oder eben auch nicht. Anna Vonhof will darüber nicht spekulieren, doch fest steht: 269 der 288 Schüler der Kurt-Schumacher-Schule stammen aus Familien, in denen Deutsch nicht die erste Sprache ist. Und auch an der Willy-Brandt-Schule in Kerpen gibt es sehr viele sozial benachteiligte Familien.

 

Geld, sagt KfW-Chefvolkswirtin Köhler-Geib, sei in jedem Fall nur ein Problem, und welche Rolle die angeblich so knappen Kapazitäten bei Handwerkern und Baufirmen spielt, lasse sich kaum einschätzen. Worüber die Kommunen bei Umfragen neben der Finanzlage  aber stets als erstes klagten, sei der dramatische Personalmangel in ihren Verwaltungen. "Viele Investitionsvorhaben scheitern daran, dass es keinen gibt, der sie betreuen und umsetzen kann."

 

Der Schul-Stadtrat verweist auf "mehr Bürokratie
bei gleichzeitigem Fachkräftemangel"

 

Fragt man den Kreuzberger Schul-Stadtrat Hehmke, warum es schon wieder Bauverzögerungen gibt an der Kurt-Schumacher-Schule, verweist er zunächst auf neues EU-Recht, das noch aufwändigere und zeitraubende europaweite Ausschreibungen vorsehe. Und dann ebenfalls auf die Personalnot: Mehrere Stellen im Hochbauservice seien nicht besetzt, und es gebe kaum oder gar keine Bewerbungen bei Ausschreibungen. "Mehr Bürokratie bei gleichzeitigem Fachkräftemangel. Dies sind die Gründe."

 

Auch Thomas Marner von der Stadt Kerpen sagt: "Jahrzehntelang hat uns das Geld gefehlt, jetzt fehlt uns ganz massiv das Personal." 

 

Wer darunter leidet, sind vor allem die Schülerinnen und Schüler, 1200 an der Willy-Brandt-Schule. Am ersten Schultag Anfang August durften nur die 12. und 13. Klassen kommen und wurden im Kerpener Gymnasium unterrichtet. Die Klassen 5 bis 11 mussten komplett zu Hause bleiben. "In der dritten Schulwoche", berichtet Kristiane Benedix, "haben wir dann für die Jahrgänge 8 und 9 Wechselunterricht begonnen", im tageweisen Wechsel. Die restlichen Jahrgänge seien in Präsenz, teilweise in Fachräumen beschult worden.

 

So lange dauerte es, bis die Behörden zumindest den Anbau aus den 90er Jahren für schimmelfrei befunden hatten. Nochmal zwei Wochen später, nachdem weitere Gebäudeteile "freigetestet" waren, wie Benedix das nennt, gab es wieder für alle täglich Unterricht. Doch kamen die sechs achten Klassen, insgesamt über 150 Schüler, komplett in der Turnhalle unter, voneinander nur mit Planen getrennt, bei Temperaturen von teilweise über 30 und Frischluftzufuhr nur über die Lüftungsanlage. Die Mensa wurde zum Lehrerzimmer umfunktioniert. Bis zu den Herbstferien waren immer noch 13 Klassen- und Kursräume und fast alle Fachräume gesperrt.

 

Markus Rixen gehörte zu den Eltern, die sich das nicht gefallen lassen wollten von der Stadt. Er habe sich einen Anwalt genommen, erzählt er, "nachdem die Stadt Kerpen zuvor die Erstattung der uns durch das Homeschooling entstandenen Kosten abgelehnt hat, da laut NRW-Gesetzgebung kein Anspruch auf Präsenzunterricht bestehe." Das stimme jedoch nicht, sagt Rixen. "Laut Anwalt darf Distanzunterricht nur im Pandemiefall angeordnet werden, im Falle einer großen Naturkatastrophe oder bei Erkrankung zu vieler Lehrer. Nicht aber, weil die Stadt ein Sanierungschaos nicht in den Griff bekommt." Sechs Wochen nach Schuljahrsbeginn durften die Achtklässler dann in ihre Klassenräume zurückkehren.

 

Warten, bis die
Versicherung zahlt?

 

Thomas Marner von der Stadt sagt, er könne keine rechtliche Grundlage für den Distanzunterricht nennen. "Aber aus gesundheitlichen Gründen hatte ich schlicht keine andere Wahl." Davon habe er auch die Schulaufsichtsbehörde und die Bezirksregierung sofort informiert.

 

Frustrierend sei, sagt Fritzi Köhler-Geib von der KfW, dass die Kommunen in den vergangenen Jahren nah daran gekommen seien, den Sanierungsstau in den Schulen endlich zu verkleinern. "Doch jetzt hat sich ihre Finanzlage drastisch verschlechtert, wozu die Wirtschaftslage ebenso beiträgt wie steigenden Kreditzinsen und die Zunahme der zu betreuenden Geflüchteten. Gleichzeitig steigen die Anforderungen an den Klimaschutz und die Digitalisierung stark an." Die Schlussfolgerung der KfW-Chefsvolkswirtin: "Ohne zusätzliche Finanzmittel von den Ländern und dem Bund werden viele Kommunen das nicht schaffen können."

 

An der Willy-Brandt-Schule öffnete elf Wochen nach den Sommerferien die Mensa wieder. "Endlich", steht auf der Website. Ihre große Sorge, sagt Kristiane Benedix, seien jetzt die naturwissenschaftlichen Fachräume – also da, wo das Wasser eingedrungen sei. Im letzten Brief, den Thomas Marner an die Eltern geschrieben hat, hieß es, die Stadt arbeite "mit Hochdruck" an deren Wiederherstellung, "doch hier sind wir aber sehr stark abhängig von der Versicherung des Verursachers, bedeutet hier haben wir die zeitliche Abwicklung nicht alleine in der Hand." Kristiane Benedix sagt, das mache ihr Sorgen, weil sie keinerlei Zeitplan habe.

 

Thomas Marner sagt, es gehe hier um einen Millionenschaden. Er fürchtet, dass man ohne Freigabe der gegnerischen Versicherung den Anspruch verwirke. Deshalb müsse man leider abwarten, doch sei er optimistisch, dass man sich bald einig werde. Im Übrigen sei er der Meinung, "dass man Biologie oder Physik zur Not auch mal eine Weile theoretisch und ohne praktische Experimente unterrichten kann."

 

Markus Rixen sagt: Er frage sich, warum die Stadt einerseits ihren Bildungsauftrag beschwöre, anderseits aber nicht das Geld aus ihrem Haushalt vorstrecken wolle. "Mir fehlt hier in einem großen Maße auch das Schuldbewusstsein der Verantwortlichen der Stadt Kerpen."

 

Dieser Beitrag erschien in kürzerer Fassung zuerst im Tagesspiegel.



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Kommentare: 1
  • #1

    Lehrerkind (Dienstag, 07 November 2023 15:21)

    Der Dschungel der förderalen Zuständigkeiten (Bund, Land, Kommune) bietet hier einfach viel zu viel Potenzial für Verantwortungsdifussion. Oder, einfach gesagt, keiner hat Bock, Geld für schulische Infrastruktur auszugeben. Unser Bildungsland schafft sich selbst ab.