"Die Jungs müssen singen!“
Warum Lernen erst möglich wird, wenn Kinder Sicherheit und Selbstwirksamkeit erfahren. Ein Gastbeitrag von Kai Maaz.
Bild: freepik.
IN DEN VERGANGENEN FÜNF JAHREN habe ich den Forschungsverbund der Bund-Länder-Initiative Schule macht stark (SchuMaS) geleitet. Diese Zeit war geprägt von intensiver Zusammenarbeit zwischen Schulen, Wissenschaft, Verwaltung und vielen Engagierten vor Ort. Man könnte an dieser Stelle eine klassische Bilanz ziehen – über Fortschritte, Kooperationen und beeindruckende Leistungen, gerade an Schulen in herausfordernden Lagen. Ebenso über Irritationen und Lernprozesse, die nötig waren, um gemeinsames Entwickeln zu ermöglichen. All das wäre zu Recht eine Anerkennung des außergewöhnlichen Engagements.
Heute möchte ich jedoch eine andere Perspektive einnehmen. Nicht Prozesse und Projekte sollen im Mittelpunkt stehen, sondern zwei Momente, die zeigen, worum es im Kern schulischer Arbeit geht – und was Bildungsforschung, Schulentwicklung und Politik noch stärker in den Blick nehmen sollten.
Zwei Momente, die zeigen, worum es in Schule wirklich geht
Es gibt Veranstaltungen mit viel fachlichem Input – und jene Augenblicke, die zwischen den Zeilen mehr sagen als ganze Vorträge. Solche Momente erlebte ich bei der 5. Netzwerktagung von "Schule macht stark" in Mannheim.
Zwei Situationen machten besonders deutlich, dass schulisches Lernen viel früher beginnt als beim Stoff – nämlich bei der Erfahrung von Sicherheit, Anerkennung und Wirksamkeit.
Der erste Moment: Tobias Schirneck, der "RAPAGOGE", brachte mit rund 15 Jugendlichen eine Rap-Performance auf die Bühne. Musikalisch nicht perfekt – aber das spielte keine Rolle. Entscheidend war: Die Jugendlichen erfuhren Resonanz und Selbstwirksamkeit. Man sah, wie sie sich gegenseitig unterstützten und Raum gaben – Erfahrungen, die viele im schulischen Alltag selten machen. Ihr Beitrag hatte Bedeutung, für andere und für sie selbst.
Der zweite Moment ereignete sich später: Unsere Moderatorin Andrea Thilo coachte acht Schüler:innen, die dann mutig eine Fishbowl-Diskussion kaperten. Offen sprachen sie über ihren Alltag, ihre Erwartungen und insbesondere über Mobbing – ein Thema, das sie als zentral und von Erwachsenen oft unterschätzt beschrieben. Ihr Wunsch: Der professionelle Umgang damit müsse verbindlich in die Lehrkräftebildung.
Viele dieser Kinder tragen schwerere Rucksäcke, als wir wahrnehmen. Und doch wurde sichtbar, was möglich wird, wenn junge Menschen einander stärken und Erwachsene ihnen zuhören. Diese beiden Situationen zeigen klar: Schule ist nicht nur ein Ort der Wissensvermittlung, sondern ein Ort der Beziehung, Anerkennung und Möglichkeit.
Ein Satz, der hängen bleibt
Am Ende des Tages kam ein Schulleiter auf mich zu und sagte: "Herr Maaz, die Jungs müssen singen – dann lernen sie auch lesen."
Ein Satz, der irritiert – fast zu einfach. Doch er birgt eine Wahrheit, die im bildungspolitischen Diskurs oft übersehen wird. Er meint keine Kuschelpädagogik und keinen Ersatz von Unterricht. Er meint etwas Grundlegendes: Kinder müssen sich als kompetent erleben, bevor sie Kompetenzen erwerben können.
Diese Erkenntnis ist nicht neu. Bildungsforschung und Praxis beschreiben sie seit Langem. Und doch wird sie in Entwicklungsarbeit und Forschung häufig unterschätzt.
Was Kinder brauchen, bevor sie lernen können
Bevor Kinder lesen, schreiben oder rechnen, brauchen sie Sicherheit, Stabilität, Zugehörigkeit und die Überzeugung, etwas bewirken zu können.
Sie brauchen:
o physische und emotionale Sicherheit,
o Selbstwert und Selbstwirksamkeit,
o verlässliche, unterstützende Beziehungen,
o ein respektiertes Umfeld und
o positive Lernerfahrungen, die Mut machen.
Wenn Bildungsforschung von Basiskompetenzen spricht, meint sie meist fachliche Grundlagen. Doch auch diese brauchen eine Grundlage.
Es gibt Kinder, die all das von zu Hause mitbringen. Die Lernfreude an fachlichen Inhalten erleben, wenn sie pädagogisch gut und für sie passend aufbereitet werden. Die aus sich und ihrer Lebenswelt heraus Lust haben, sich mit Neuem auseinanderzusetzen, sich an Aufgaben ihre Erfolge vor Augen führen zu können, die früh erfahren, dass sich Anstrengung lohnt und dass Erwachsene an sie glauben. Diese Kinder entwickeln Motivation und Ausdauer. Und es gibt Kinder, die unter schwierigen Bedingungen lernen. Sie erleben seltener Erfolgserlebnisse, und das untergräbt ihr Vertrauen ins eigene Können – nicht aus individuellem Versagen, sondern aus fehlenden Voraussetzungen.
Lernen folgt Pfadabhängigkeiten: frühe Erfahrungen prägen spätere Lernwege. Und diese Pfade entstehen nicht erst im Unterricht, sondern vorher und drum herum – in der Art, wie Kinder sich in der Schule fühlen, wie sicher sie sind und welche Erwartungen an sie herangetragen werden.
Basiskompetenzen haben Basiskompetenzen
Michael Becker-Mrozek fasst es treffend zusammen: "Wer Wasserball spielen will, muss erst schwimmen lernen." Schulisches Lernen funktioniert genauso: Wer Wissen aufbauen will, braucht grundlegende fachliche Basiskompetenzen – allen voran das Lesen.
Doch der Satz des Schulleiters erweitert diese Perspektive: Auch das Schwimmenlernen braucht eine Basis. Kinder benötigen ein Umfeld, das ihnen Sicherheit gibt, Menschen, die ihnen etwas zutrauen, erste Erfahrungen des Gelingens ermöglichen und Scheitern zulassen, ohne zu beschämen. Erst dann können fachliche Basiskompetenzen entstehen.
"Die Jungs müssen singen – dann lernen sie auch lesen" macht sichtbar: Bevor Fachlernen greifen kann, brauchen Kinder Bedingungen, die Lernen ermöglichen – Sicherheit, Anerkennung, Stabilität, emotionale und soziale Verankerung. Lernen beginnt nicht beim Stoff, sondern dort, wo die Voraussetzungen geschaffen werden.
Was die Forschung eindeutig zeigt – und was wir trotzdem übersehen
Große Studien wie IGLU, TIMSS und PISA betonen die Schlüsselrolle des Lesens – und zeigen zugleich, dass schwierige Bedingungen erfolgreiche Lernprozesse erschweren. Studien zur Schul- und Unterrichtsqualität belegen:
Beziehungserfahrungen sind leistungsrelevant
Ein unterstützendes Lernklima erhöht Lernwirksamkeit
Selbstwirksamkeit gehört zu den stärksten Prädiktoren für Schulerfolg
Schulen in herausfordernden Lagen brauchen andere Wege als privilegiertere Schulen
Das ist keine pädagogische Romantik, sondern empirische Realität.
Was das für Schulen bedeutet
Viele Schulen unter schwierigen Bedingungen leisten Hervorragendes. Doch sie zeigen: Guter Unterricht allein reicht nicht. Er wirkt nur, wenn Kinder Voraussetzungen mitbringen, ihn nutzen zu können. Dazu gehören:
o eine ganzheitliche Sicht auf Lernen,
o schulische Freiräume für passgenaue Lösungen,
o Räume der Anerkennung und Selbstwirksamkeit und
o multiprofessionelle Teams.
Formate wie die des "RAPAGOGE" wirken, weil sie Fundament schaffen, nicht weil sie "Projekt" sind. Kinder, die sich gesehen fühlen, lernen anders – und nachhaltiger.
Ein fehlendes, aber wesentliches Stück im Verständnis von Entwicklungsarbeit
Mittlerweile gibt es zahlreiche Programme auf Landes- und Bundesebene, die wichtige Impulse setzen. LeMaS etwa – wie SchuMaS eine Bund-Länder-Initiative – zeigt, wie Schulen Potenziale erkennen und anspruchsvolle Lernwege für alle ermöglichen können. Das Startchancen-Programm knüpft daran an, setzt aber erstmals systemisch an: Es verpflichtet nicht nur Schulen zur Entwicklung, sondern fordert auch die Länder, ihr eigenes Steuerungshandeln weiterzuentwickeln.
Alles, was in SchuMaS, LeMaS und anderen Länderprogrammen aufgebaut wurde und in Startchancen weiterentwickelt wird, bleibt zentral: Professionalisierung von Unterricht, evidenzbasierte Materialien, qualitätsgesicherte Fortbildungen, Diagnostik, datenbasierte Schul- und Unterrichtsentwicklung sowie eine moderne Qualitätsinfrastruktur.
Doch all dies wirkt nur, wenn Kinder zuvor die Bedingungen erfahren haben, die Lernen ermöglichen. Es ist kein Gegensatz, sondern Ergänzung: Professionalisierung gestaltet Lernprozesse; Voraussetzungen legen den Boden dafür. Beides gehört zusammen. Die zentrale Frage an dieser Stelle ist: Wer schafft diese Voraussetzungen und wer muss in die Pflicht genommen werden, hierfür die Verantwortung zu tragen? Schule allein wird es nicht leisten können.
Was Politik und Verwaltung daraus ableiten müssen
Strukturen müssen zu dem passen, was wir über Lernen wissen. Schulen in herausfordernden Lagen brauchen Kompetenz und verlässliche Ressourcen, passende Schulumwelten zu gestalten. Entwicklungsarbeit gelingt nur planbar. Multiprofessionelle Teams sind keine Option, sondern notwendig: Viele Belastungen – psychisch, familiär, sozialräumlich – können Lehrkräfte allein nicht auffangen.
Förderprogramme müssen langfristig angelegt werden. Kurzfristige Projekte erzeugen Aktivität, aber selten Wirkung. Sozialräumliche Kooperationen erweitern Handlungsspielräume – besonders für Kinder mit ungünstigen Startbedingungen.
Ein Fokus auf Basiskompetenzen bleibt entscheidend, aber nicht als technisches Training, sondern als Verbindung aus fachlichen, sozialen und motivationalen Voraussetzungen. Lesen ist ein kognitiver Prozess – aber geprägt von Beziehungserfahrungen und Selbstwirksamkeit.
Schule kann viel, aber nicht alles. Politik muss Rahmen schaffen, damit Lernen unter Bedingungen stattfinden kann, die es ermöglichen.
Wenn Kinder singen dürfen, lernen sie lesen – und die Welt begreifen
Der Satz des Schulleiters steht für eine einfache, aber weitreichende Einsicht: Kinder lernen nicht, weil wir ihnen Inhalte vermitteln, sondern weil sie sich in einer Welt bewegen dürfen, in der Lernen Sinn und Sicherheit hat.
"Singen" steht dabei nicht für Musik, sondern für das Erleben von Ausdruck, Resonanz und Einfluss. Kinder, die solche Erfahrungen machen, betreten den Lernraum als handelnde Subjekte.
Wenn Kinder singen dürfen, heißt das:
o Sie dürfen sichtbar sein, ohne bewertet zu werden,
o Fehler machen, ohne beschämt zu werden,
o Schritte wagen, weil jemand da ist, der sie auffängt.
Diese Erfahrungen bilden den Boden für kognitive Entwicklung. Selbstwirksamkeit ist kein "weiches" Konzept, sondern einer der stabilsten Prädiktoren für Lernzuwachs. Kinder lernen Lesen nicht, weil sie fehlerfrei sind, sondern weil sie glauben dürfen, dass sich der nächste Versuch lohnt.
Wenn Kinder singen – im wörtlichen wie im übertragenen Sinn –, entsteht jene innere Stabilität, die nötig ist, um komplexe Kompetenzen aufzubauen. Kinder, die das erleben, lernen nicht nur lesen. Sie lernen, sich in einer nicht immer leichten Welt zurechtzufinden, Verantwortung zu übernehmen – und ihren Platz zu gestalten.
Unsere Aufgabe ist es, Kindern einen Ort zu schaffen, an dem sie Halt finden – und Schule kann ein solcher Ort sein. Doch das gelingt nicht allein durch die Schulen. Politik und Gesellschaft müssen genau hinschauen, wo Kindern diese Stabilität fehlt, und gezielt gegensteuern. Sie müssen diskutieren, nachfragen und unterstützen, damit Schulen ihren Teil leisten können: ein sicherer Ort des Lernens zu sein – getragen von verlässlicher Rückendeckung.
Kai Maaz ist Sozialpädagoge, Erziehungswissenschaftler und Bildungsforscher und Geschäftsführender Direktor des DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation.
Kommentare
#1 - Gesundbeten?
Was soll eigentlich neu sein an dem, was Maaz sagt? Wissenschaftlich fundiert kann das kaum sein, weil es eben so vage und unverbindlich bleibt mit den üblichen Schlagworten. Was soll denn konkret geschehen, um das allgemeine Desaster bei den großen Tests zu verbessern? Sagt er das? Einfach mehr singen? Mir kommt das vor wie das klassische "Gesundbeten": Man postuliert etwas und schränkt gleichzeitig ein, dass das nur wirken kann, wenn Zusatzbedingungen erfüllt sind. Und die sind dann halt nicht erfüllt. So geht das bereits seit PISA 2000, und daher hat einfach NIEMAND irgendeine Verantwortung für reale Entwicklungen, besonders die hohen "Geweihträger" nicht. Hauptsache, man kann geschickt über alles reden.
Gleichzeitig bleibt die Bildungswissenschaft (Herr Maaz ist ein prominenter Vertreter) konkrete Antworten schuldig, WARUM eigentlich die Testergebnisse nach unten gehen, WARUM auch die Schere zwischen Migranten und den anderen sich nicht schließt, allen gutgemeinten Förderprogrammen zum Trotz. Man scheint um die Probleme herumzureden und verweist immer auf das nächste Förderprogramm. Die Coronakrise ist überstanden, und die große materielle Armut ist in Deutschland auch noch nicht so heftig ausgebrochen, dass das als Erklärung ausreicht. Die anderen europäischen Länder schwelgen auch nicht im Überfluss, und auch ökonomische Prosperität garantiert keine bessere Bildung. Woran also hapert es? Am Singen? Oder an dem Mut, auch mal Fehlentwicklungen zu benennen? Eine deutsche Behörde macht bekanntlich nie einen Fehler, und die bildungswissenschaftlichen Institutionen haben sich in Richtung "Behörde" entwickelt: Sie haben staatliche Aufgaben übernommen wie Monitoring, Bildungsberichte, Schönreden politisch motivierter Schulreformen (G8, Inklusion, Gemeinschaftsschulen) usw.
#1.1 - Neu oder doch nicht?
Herrn Maaz ist sehr wohl bewusst, dass seine Gedanken und Forderungen nicht neu sind. Auch die Erkenntnis, dass schulische Lehr- und Erziehungspraktiken sie seit Ewigkeiten viel zu wenig beachten, gehört dazu. Gerade gemeinsames Musizieren und Singen, so auch gemeinsam betriebener Sport und gestaltete Kunst und Theaterspiel, festigen und beschleunigen die Persönlichkeitsbildung durch direkt von nah zu nah erlebtes Geben und Nehmen in sozialer, individueller, und nicht zuletzt auch um Anerkennung und Erfolg konkurrierender Hinsicht. Wo könnte dies idealer geschehen als in einem Orchester, einer Theatergruppe, im Gruppensport, beim gemeinsamen Singen in einem Chor? Doch nach wie vor - seit wie vielen Ewigkeiten? - ist gemeinsam praktizierte Musik eines der meist missachteten und "verzichtbarsten" Schul"fächer", fällt auch gemeinsamer (nicht nur konkurrierender) Sport viel zu oft aus, wird die dort erlebbare Freude an Wettstreit, Vergleich und Konkurrenz als unsozial angeprangert. Längst ist erwiesen, dass es in Schulen, die beispielsweise gemeinsames Musizieren aktiv betreiben, auch zu wesentlich stärkeren und entsprechend höher motiviert erbrachten Lernleistungen kommt.
#1.1.1 - Wo steht ein Nachweis zu…
Wo steht ein Nachweis zu Ihrem letzten Satz? Das ist vermutlich schon richtig, aber nach dem letzten IQB-Bildungstrend könnte man das auch als Ablenkungsmanöver sehen. Am mangelnden Singen wird das katastrophale Ergebnis kaum liegen. Außerdem findet man auf der Homepage der meisten Schulen Hinweise auf Schulchöre, Schulorchester, auch mal eine Schulband, also gibt's das alles schon, es gibt auch viele Schulen mit musischem Profil. Dass in der Kita und der Grundschule gesungen wird, ist nichts neues. Da sollte die Wissenschaft uns lieber eine fundierte Statistik dazu präsentieren, die eventuell einen Mangel zeigt. In dem unverbindlichen Stil von Herrn Maaz mit ein paar Vorzeigebeispielen kann jeder was erzählen. Von der empirischen Wissenschaft erwarte ich Präzision.
Neuen Kommentar hinzufügen