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Eine Frage der Anständigkeit

Was der Richterwahl-Eklat lehrt: Wissenschaftliche Integrität verlangt Aufrichtigkeit – auch von ihren lautesten Verteidigern. Ein Gastbeitrag von Johannes Freudenreich.
Johannes Freudenreich

Johannes Freudenreich ist Geschäftsführer der Potsdam Graduate School an der Universität Potsdam. Foto: privat.

WISSENSCHAFTLICHE INTEGRITÄT  ist die Grundlage wissenschaftlichen Arbeitens. Dabei kann man Integrität mit Aufrichtigkeit, Redlichkeit oder Anständigkeit übersetzen. Ergebnisse korrekt wiedergeben, Daten sorgsam erheben und verwenden, andere Meinungen einbeziehen und fremde Arbeit nicht als die eigene ausgeben sowie Macht nicht missbrauchen – darum geht es im Kern. Doch wie sollen wir reagieren, wenn sich vermeintliche Verteidiger*innen der wissenschaftlichen Integrität selbst nicht anständig verhalten? Und was bedeutet wissenschaftliche Anständigkeit in Zeiten von KI?

Am 10. Juli 2025, am Vorabend der geplanten Wahl von Frauke Brosius-Gersdorf zur Richterin am Bundesverfassungsgericht, veröffentlicht Stefan Weber, X-Name "Plagiatsjäger", auf seinem Blog einen Beitrag über Parallelen in der Promotion von Brosius-Gersdorf (1997) und der Habilitationsschrift ihres Mannes (1998). Brosius-Gersdorf ist seit 2021 Professorin an der Universität Potsdam, an der ich die zentrale Graduierteneinrichtung leite. Wir kennen uns jedoch nicht persönlich, und ich stehe auch mit keinem Mitglied ihres Lehrstuhls in Kontakt. 

Am Ende des Textes stellt Weber die Frage, ob die 23 dokumentierten Parallelen gegen die zum Zeitpunkt der Einreichung gültigen juristischen Zitiernormen verstoßen hätten. Dies nahm der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, Jens Spahn, am nächsten Tag zum Anlass, die Wahl der Richterin zum Bundesverfassungsgericht zu verschieben. Es gebe Zweifel an ihrer wissenschaftlichen Redlichkeit.

Im Nachgang zog sich Weber in einem Interview mit der ZEIT auf die Position zurück, er habe gar keinen Plagiatsvorwurf erhoben, sondern lediglich eine Frage nach Parallelitäten gestellt. Dabei gehe es ihm in erster Linie um "forscherische Neugier" und Aufmerksamkeit. Dass sein Eintrag als Plagiatsvorwurf verstanden und politisch instrumentalisiert werden konnte, muss ihm aber bewusst gewesen sein. Schließlich ist es nicht die erste Karriere, die Weber im Namen der wissenschaftlichen Integrität ins Visier nimmt.

Aber ist seine Veröffentlichung überhaupt selbst integer? Laut Leitlinie 18 des Kodex zur Wissenschaftlichen Integrität der Deutschen Forschungsgemeinschaft muss die Anzeige wissenschaftlichen Fehlverhaltens "in gutem Glauben" erfolgen. Bewusst mutwillig erhobene Vorwürfe können selbst wissenschaftliches Fehlverhalten begründen. Außerdem darf es wegen der reinen Anzeige keine Nachteile für das berufliche Fortkommen der von den Vorwürfen Betroffenen geben. 

In meinen Augen ist dies hier nicht der Fall: Fragen zu möglichen wissenschaftlichem Fehlverhalten wurden zur Erzeugung politischer Effekte genutzt. Dafür spricht auch der Zeitpunkt der Veröffentlichung. Wer im Namen der Wissenschaft Personen des öffentlichen Lebens mit „forscherischer Neugier“ ins Visier nimmt, muss sich auch selbst an die Regeln zur wissenschaftlichen Integrität halten. Es genügt hier nicht, im Nachgang auf ein Missverständnis zu verweisen. Die Veröffentlichung war nicht hinreichend recherchiert und missverständlich kommuniziert.   

Die wissenschaftliche Integritätskeule

Die Wissenschaft braucht ein gemeinsames Verständnis von Anständigkeit und Verfahren, um sich gegen Missbrauch zu schützen. Hinweise auf mögliches Fehlverhalten müssen selbstverständlich ernst genommen und sorgfältig geprüft werden. Doch ebenso gilt: Wissenschaft und Gesellschaft dürfen sich nicht von "Plagiatsjägern" treiben lassen. Bestehen Anhaltspunkte dafür, dass eine Anzeige politisch motiviert ist oder selbst nicht den Maßstäben wissenschaftlicher Redlichkeit genügt, sollte ihr keine öffentliche Beachtung geschenkt werden, weder aus der Politik noch aus der Wissenschaft. So ließe sich auch ein Geschäftsmodell unterbinden, das von Skandalisierung und nicht von echter Wahrheitsfindung lebt. 

Wir brauchen eine neue Debatte über wissenschaftliche Integrität in Forschungsorganisationen, Hochschulen und Forschungsgruppen – und auch in der Gesellschaft. Neben den zunehmenden Angriffen auf die Wissenschaft muss der Umgang mit neuen technischen Möglichkeiten im Zentrum dieser Debatte stehen. Schon jetzt wird durch Künstliche Intelligenz die Grauzone in Bezug auf eigenständige wissenschaftliche Arbeit größer. Der Prozess, wie Texte und Ideen entstehen, verschwimmt. Für die Wissenschaft ist es jedoch zentral, dass Quellen und Diskurse nachvollziehbar und überprüfbar bleiben. Wissenschaftliche Integrität und ihre Verteidigung müssen daher neu gedacht und diskutiert werden. 

Wissenschaftliche Integrität ist schon jetzt nicht nur die Methoden guter wissenschaftlicher Praxis. Sie ist eine Frage der Haltung: Es geht nicht darum, maximale Aufmerksamkeit zu erzielen, sondern gründlich zu recherchieren, Anschuldigungen nur dann öffentlich zu machen, wenn sie substanziell und belastbar sind und sie so zu kommunizieren, dass sie möglichst nicht missverstanden werden können. Anständig zu handeln – das gilt für alle. Integrität zeigt sich nicht nur im Umgang mit Textquellen, sondern ebenso im respektvollen und redlichen Umgang miteinander.

Kommentare

#1 -

Christina Wolf… | Di., 15.07.2025 - 11:41

Johannes Freudenreich bringt es in seinem aktuellen Beitrag eindrücklich auf den Punkt: Die politische Kampagne gegen Frauke Brosius-Gersdorf ist ein Tiefpunkt im Umgang mit engagierten Wissenschaftler*innen in Deutschland.

Es ist kein Zufall, dass es wieder eine Frau trifft – eine Juristin, die sich klar für Gleichstellungsthemen positioniert und zur reproduktiven Selbstbestimmung gearbeitet hat. Wer sich wissenschaftlich mit gesellschaftlich nicht-konformen Themen beschäftigt, gerät allzu schnell ins Visier. Besonders, wenn es Frauen sind.

Wo sachliche Kritik nicht greift, wird dann versucht, mit haltlosen Plagiatsvorwürfen persönliche und berufliche Integrität zu zerstören. Das beschädigt nicht nur einzelne Personen – es schwächt die Wissenschaft insgesamt. Und es sendet ein fatales Signal an junge Forschende, besonders an Frauen: Mischt euch besser nicht ein.

Wir brauchen mehr Schutz, mehr Rückendeckung und vor allem mehr Anstand im politischen Umgang mit Wissenschaftler*innen – gerade wenn es um Chancengleichheit, Gleichstellungsfragen oder gesellschaftliche Transformation geht. In diesen aktuellen politischen Zeiten um so mehr! 

Danke für diese klaren Worte! 

#2 -

Th. Strothoff | Di., 15.07.2025 - 14:39

Dem Kommentar und auch Antwort @1 ist m.E. unbedingt zuzustimmen. Es ist traurig genug, daß CDU/CSU den Pseudo-Argumenten des wichtig tuenden Plagiatsjäger aufgesessen sind. 

 

#3 -

Laura Borke | Di., 15.07.2025 - 17:49

Wenn große Texte in einer Dissertation genauso bei einer Habilitation ihres Mannes vorkommen, ohne dass durch Zitate dies markiert wird, so ist etwas sehr faul.

Ob man diese Fäulnis nun Plagiat oder Kollusion nennt, ist zweitrangig. Es bleibt bestehen und ein schwerer Täuschungsversuch in einer Dissertation kann ihre akademische Laufbahn beenden.

#4 -

Christoph M. | Di., 15.07.2025 - 22:23

Diese "23 dokumentierten Parallelen" sind keine zufälligen Übereinkünfte, sondern es stimmt etwas nicht mit der Arbeit oder der ihres Mannes oder beiden oder wie um Himmels willen erklärt man sich das sonst?

Von ihr habe ich noch keine Stellungnahme in Google dazu gefunden. Das erinnert mich an zwei Schüler, die die gleiche Hausaufgabe einreichen, aber vom Lehrer zur Rede gestellt gaaanz stumm sind.

Dass Herr Weber noch kein halbes Jahr Recherche in den Fall investiert hat, könnte damit zu tun haben, dass man die Dame erst seit 1-2 Wochen überhaupt wirklich medial kennt! Nach einem halben Jahr wäre sie allerdings schon sicher im Bundesverfassungsgericht. Da wäre das Anbringen von Vorwürfen längst zu spät.

#4.1 -

Lothar Zechlin | Mi., 16.07.2025 - 12:02

Antwort auf von Christoph M. (nicht überprüft)

 Ihre Bezeichnung von Frau Brosius-Gersdorf als „die Dame“ empfinde ich als eine aus einem Gestus der Überlegenheit heraus erfolgende Herabsetzung. Und Ihr Hinweis, dass „man“ sie „erst seit 1-2 Wochen überhaupt wirklich medial kennt“, geht m.E. fehl. Wir reden schließlich von Bundestagsabgeordneten, also Politikprofis. Das müssen zwar keine JuristInnen sein, sie sollten sich aber doch ein klein wenig im Grundgesetz auskennen. Wer sich aber auch nur minimal mit dem Verfassungsrecht beschäftigt, kennt den höchst renommierten Grundgesetzkommentar von Horst Dreier, der in der 4. Auflage von Frau Brosius-Gersdorf als Herausgeberin verantwortet wird, auch wenn das "nicht wirklich medial" ist.

#5 -

Dr. Hölterhoff | Mi., 16.07.2025 - 10:48

Wer wissenschaftlich in inhaltlchen Themen mit einem Partner zusammenarbeitet wird in Spezialgebieten zwangsläufig Übereinstimmungen haben, auch mit älteren Arbeiten. Daran ost nichts verwerflich und schon gar nicht unwissenschaftlich. Dieser selbsternannte, hauptsächlich von  Bild , Welt und FAZ zitierte sog. Plagiatsjäger sollte mal offen legen, wer ihn finanziert.

#6 -

Th. Klein | Do., 17.07.2025 - 09:41

Es ist inzwischen zumindest bei Hr. Weber Usus, die Arbeiten von Personen zu prüfen, die in wichtige politische oder andere öffentliche Ämter kommen oder kommen sollen. Mal hat er Auftraggeber, mal macht er es aus eigenem Antrieb (Selbstauskunft in Interviews). Ein Auftraggeber muss hier nicht zwangsweise vermutet werden.

Seine "Reaktion" auf die Ernennung hätte auf jeden Fall vorhergesehen werden können. Grundsätzlich ist daran nicht auszusetzen, denn es kann ja als Qualitätssicherungsmechanismus verstanden werden. Doch wie der Autor dargelegt hat, ist mit Bewertungen in diesen Zusammenhängen verantwortungsvoll umzugehen. Bei Personen, die seit viele Jahren/Jahrzehnten in der Wissenschaft (oder andernorts) tätig sind und publizieren, findet sich ja immer etwas, an dem man Zweifel festmachen kann. Und manche Praktiken (bspw. Selbstplagiat) werden ganz unterschiedlich bewertet. 

So etwas in den Vordergrund zu rücken und diesen Zweifel zu sähen, wenn nichts wirklich Handfestes vorliegt, ist schon sehr fragwürdig. Die Liste der aufgedeckten Plagiate etc. ist seit Guttenberg lang geworden, aber langsam wird die Liste der Fehlanzeigen auch immer länger!

#7 -

McFischer | Fr., 18.07.2025 - 12:18

Im Blog-Beitrag wird die Vorgangsweise von Hr. Weber leider deutlich verharmlost. Sein gesamtes Auftreten in seinem eigenen Blog, auf X usw. spricht mittlerweile eine klare Sprache: Es geht ihm primär um politische Einflussnahme, die in deutlich rechtspopulistische Argumentationen und Polemiken eingebunden wird. Es geht ihm ganz offen darum, "die übermächtigen Linken" zu stoppen, halt mit seinen Mitteln. Kipppunkt war hier wohl die Kampagne gegen Baerbock als Grüne Kanzlerkandidatin, wo er nicht haltbare oder nicht angemessene Vorwürfe in die Welt gesetzt hat, unabhängig von ihrer Belastbarkeit. Das dürfte in der gewollten Zielgruppe dann auch so hängen geblieben sein: dass ist die Grüne mit dem gefälschten Lebenslauf, die abschreibt.

Das hat mit der Frage der wissenschaftlichen Integrität nur noch am Rande zu tun.

#8 -

Watson007 | Fr., 15.08.2025 - 13:16

Eigentlich zwei Themen, die getrennt betrachtet werden müssen. 

Frau Brosius-Gersdorf mag eine fleißige Juristin sein, war aber aus meiner Sicht für ein Verfassungsrichteramt nicht geeignet, weil es ihr an der dafür notwendigen politischen "Gelassenheit" fehlt. Abenteuerliche Rechtfertigungsversuche von wegen "Kampagne von Rechts" oder gar feministische/sexistische Erklärungsansätze sind ziemlicher Quatsch.

Was die selbsternannten Plagiatsjäger angeht, muss man leider von einer neuen Form der Pest sprechen. Ich glaube auch nicht, dass der Wissenschaft mit solcher Art der "Qualitätsüberprüfung" ein Gefallen getan wird. Oft ist es ja nicht der wissenschaftliche Gehalt, sondern Zitierformalien, welche moniert werden. Und der Laie weiß wenig darüber, dass zwar saubere Quellenangaben schon immer gefordert wurden, jedoch erst mit der Verfügbarkeit entsprechender Prüftools so wirklich in den Betrachtungsfokus geraten sind. Er liest nur "Plagiat" und stellt sich darunter etwas ganz anders vor, als vielleicht nur ein verunglückter Quellennachweis oder versehentliche Quellenbündelung. Was bei älteren Arbeiten weder der Verfasser noch der Prüfer so tiefgreifend untersuchen konnte und demzufolge auch kaum jemanden interessiert hat.

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