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Weniger korrigieren, mehr für die Schüler da sein

Rebecca Timmermann leitet ein Gymnasium in Schleswig-Holstein und ist Startup-Gründerin. Im Interview erklärt sie, wie ihre künstliche Korrektur-Intelligenz "Noten Copilot" Lehrkräfte entlastet – ohne ihre pädagogische Verantwortung infrage zu stellen.
Portraitfoto Rebecca Timmermann

Foto Rebecca Timmermann: Tom Binder (motionhunter).

Frau Timmermann, Sie sind Schulleiterin des Herder-Gymnasiums in Rendsburg – und Start-up-Unternehmerin. Wie passt das zusammen?

Sehr gut! Denn die Idee dahinter ist aus meinem Alltag als Lehrerin und Schulleiterin entstanden. Viele meiner Kolleginnen und Kollegen lieben den Unterricht, sind aber durch Korrekturen und Verwaltungsarbeit massiv belastet. Gerade wenn wieder in allen Klassen gleichzeitig Klassenarbeiten anstehen. Ich möchte, dass meine Lehrkräfte gesund bleiben, dass sie weiter Lust haben, morgens zur Schule zu kommen, und nicht ihre Stundenzahl reduzieren, um überhaupt mit den Korrekturen klarzukommen.

"Ich will ehrlich sein: Korrigieren war für mich immer eine Qual."

Klingt so, als ob Sie das Korrigieren selbst nicht mögen.

Ich bin Deutsch- und Geschichtslehrerin, und ich will ehrlich sein: Korrigieren war für mich immer eine Qual. Man möchte individuelle Rückmeldungen geben, Stärken hervorheben – aber mit drei Stapeln à 30 Heften schafft man das nicht. Diese Diskrepanz – werde ich den Kindern überhaupt gerecht? – war für mich immer schwer auszuhalten. Also habe ich nach einer Möglichkeit gesucht, wie man Lehrkräfte entlasten kann, ohne die Qualität zu verlieren.

Ihr Start-up namens "Notencopilot" bietet einen KI-basierten Korrekturassistenten an. Ziemlich erstaunlich für eine Deutsch- und Geschichtslehrerin.

Das hätte ich bis vergangenes Jahr auch gedacht. Dann habe ich eine Fortbildung besucht zum Thema "Digital Leadership". Dort zeigte ein Referent, was im Bereich Künstliche Intelligenz alles möglich ist. Auf dem Heimweg dachte ich: Warum setzen wir das nicht genau da ein, wo es am meisten wehtut – bei der Vorkorrektur? Kurz darauf sprach ich mit einem befreundeten Informatiker, der bis dahin Software für die Finanzbranche entwickelt hat. Er sagte: "Lass uns das ausprobieren." Und so begann es. Anfangs haben wir viele Texte ausprobiert – meine eigenen, fiktive Klausuren –, um zu testen, was geht und was nicht. Manche Dinge funktionierten erstaunlich schnell, andere überhaupt nicht. Aber die Idee hat uns nicht losgelassen.

Und "wir" am Anfang waren?

Das waren zunächst der Informatiker, ich – und mein Mann, der Berufsschullehrer ist und sich schon lange mit Digitalisierung im Unterricht beschäftigt. Wir haben anfangs ohne offizielle Struktur gearbeitet, einfach getestet, einen Prototyp gebaut. Den haben wir dann bei einem KI-Workshop für Schulaufsichten vorgestellt, eigentlich nur, um zu zeigen, was alles aus einer Fortbildung entstehen kann. Aber das Interesse war gleich da. Es kamen Einladungen über Einladungen, zu Oberstufentagungen und Schulleiterdienstversammlungen. Das hat uns angespornt. Und irgendwann kamen Lehrkräfte von anderen Schulen und sogar anderen Bundesländern auf mich zu und haben gefragt: "Können wir das nicht auch nutzen?" Und da war klar: Wir brauchen eine Rechtsform, ein Konto, eine klare Struktur. Ende des Jahres haben wir dann eine UG gegründet, die kleinstmögliche Unternehmergesellschaft.

Jetzt erzählen Sie erst mal, wie das System überhaupt funktioniert.

Die Grundidee ist: Die Lehrkraft erstellt zusammen mit der KI einen Erwartungshorizont. Also eine Liste von Kriterien, die bei der Korrektur eine Rolle spielen sollen – von der Inhaltsangabe über die Deutungshypothese bis zur sprachlichen Analyse. Diese Kriterien können frei eingegeben oder hochgeladen werden, zum Beispiel ein Bewertungshorizont, den man ohnehin erstellt hätte. Die KI ergänzt auf Grundlage des Fachs, der Jahrgangsstufe, des Bundeslands und der Schulart eigene Vorschläge – basierend auf Fachanforderungen und KMK-Standards. Daraus entsteht ein Grundgerüst, das die Lehrkraft anpasst, gewichtet und überprüft.

"Es ist wie ein Erstkorrektor, der einem Arbeit abnimmt – 
aber die Verantwortung bleibt bei der Lehrkraft."

Und dann wird das System mit den Klassenarbeiten gefüttert?

Genau. Auf dieser Basis werden die Schülertexte vorkorrigiert. Die Texte können handschriftlich oder digital hochgeladen werden. Wichtig: Es wird keine Note vergeben, sondern Kriterien bewertet und Textstellen hervorgehoben. Die Lehrkraft kann überprüfen, ergänzen, ändern. Sie bekommt eine Struktur, Textbausteine für ein Feedback – und das spart enorm Zeit. Es ist wie ein Erstkorrektor, der einem Arbeit abnimmt – aber die Verantwortung bleibt bei der Lehrkraft. Zusätzlich gibt es die Möglichkeit, Feedback in mehreren Sprachen auszugeben – zum Beispiel auf Türkisch, Arabisch oder Spanisch. Damit können auch Eltern, die sprachliche Barrieren haben, ihre Kinder gezielt unterstützen.

Was ist, wenn Schüler eine schluderige Handschrift haben? Kapituliert das System dann?

Sie meinen die Arbeiten, die man sich beim Korrigieren immer bis zum Schluss aufhebt, weil sie am meisten Konzentration und Aufwand erfordern? Nein, die Anwendung kommt auch damit klar. Stellen, wo der Handwritten-OCR unsicher ist, hebt das System hervor, sodass die Lehrkraft sie gezielt überprüfen kann.

Welche Aufgabentypen funktionieren überhaupt?

Praktisch alle textbasierten Aufgabenstellungen. Die schulischen Anforderungsbereiche I bis III sind abgedeckt: Reproduktion, Transfer und Reflexion. Also nicht nur Faktenwissen, sondern auch Argumentationsketten, Urteile, Textaufbau. Die KI erkennt zum Beispiel, ob Übergänge fehlen, ob eine Deutungshypothese wieder aufgegriffen wird, ob Fachbegriffe korrekt genutzt werden. Nicht nach einem simplen "Richtig/Falsch"-Schema, sondern differenziert – und detailliert beschrieben. So kann die Lehrkraft transparent nachvollziehen, was und wie die KI bewertet und entscheiden, ob ihre eigene Bewertung davon abweicht. Das hilft auch bei der Selbstreflexion. Warum bewerte ich strenger oder milder als die KI?

Und das geht für alle Fächer?

Für alle außer Mathematik. Sprach- und textbasierte Fächer funktionieren sehr gut, Fremdsprachen, Geschichte, Geografie, Wirtschaft und Politik, sogar die Naturwissenschaften. Bei Mathe war am Anfang das Problem, dass die KI noch keine zuverlässigen Ergebnisse liefert. Das hat sich inzwischen zwar geändert, aber praktisch scheitert das System noch an der Texterkennung. Handschriftliche Mathe-Lösungen sind selten linear: Hier ist eine Nebenrechnung eingefügt, da eine Skizze. Sobald die Software auch mit diesen komplexen Layouts klarkommt, nehmen wir auch die Mathematik dazu.

Sehen Sie da denn keine Interessenkonflikte? Schulleiterin – und Unternehmensgründerin?

Nicht, solange ich sauber trenne, in welcher Rolle ich spreche. Wenn ich als Schulleiterin auftrete, ist klar: Ich vertrete die Schule. Wenn ich als Gründerin spreche, dann in meiner Rolle im Start-up. Das war für die Bildungsverwaltung nachvollziehbar und wurde auch akzeptiert. Ich habe insgesamt mehr Unterstützung erlebt als Widerstand. Übrigens haben wir bislang keinen einzigen Cent Profit gemacht. Keiner von uns macht das hauptberuflich, das läuft alles nebenher: ein Herzensprojekt.

In der Anfangsphase, sagen Sie, haben Sie nur mit fiktiven Klausuren gearbeitet. Wann haben Sie mit echten Schüler-Klassenarbeiten angefangen?

Erst später, in der Alpha-Phase. Wir haben Lehrkräfte einbezogen, die wir kannten, anfangs etwa 25 Kolleginnen und Kollegen aus ganz unterschiedlichen Schularten und Fächern – aber nie an unserer eigenen Schule. Die Kolleginnen und Kollegen haben das System ausprobiert, uns Rückmeldungen gegeben, und wir haben die Anwendung gemeinsam Schritt für Schritt weiterentwickelt.

Welche Erfahrungen machen die Lehrkräfte bei der Nutzung Ihrer Software?

Ganz grundsätzlich gilt hier wie immer: Man darf sich nicht blindlings auf eine KI verlassen. Wer einmal frei bei ChatGPT ausprobiert hat, eine Arbeit korrigieren zu lassen, merkt schnell: Die Rückmeldungen klingen gut, sind aber oft falsch. Genau deshalb ist unser Ansatz ein anderer: Wir schaffen den Kontext, wir arbeiten mit Erwartungshorizonten, wir verhindern so gut wie möglich, dass die KI Dinge erfindet und dazudichtet. Aber hundertprozentig ausschließen lässt es sich nicht.  Darum bleibt die Verantwortung bei der Lehrkraft. Sie muss geschult sein, wissen, wie KI funktioniert, und darf die Ergebnisse nicht unkritisch übernehmen. Transparenz und Verantwortung sind die Schlüssel.

Und wie reagieren Schülerinnen, wenn sie erfahren: Meine Arbeit wurde mit KI-Unterstützung korrigiert?

Viele sind sehr kritisch. Wenn sie das mithilfe der KI geschriebene Feedback zu ihrer Arbeit erhalten, prüfen viele erst mal ganz genau nach: "Habe ich das wirklich so geschrieben, wie die KI behauptet?" Das ist neu. Früher hat man die Arbeit ohne jeden Kommentar zurückbekommen – oder nur mit einem kurzen. Das ausführliche Feedback regt zur intensiven Auseinandersetzung mit der Korrektur und der eigenen Arbeit an. Ich finde das positiv. Voraussetzung für die Nutzung der Anwendung ist, dass damit seitens der Lehrkraft transparent gegenüber Lernenden und Eltern umgegangen wird.

"Die Rückmeldung war von Anfang an: '
Das brauchen wir dringend.'"

Seit Februar sind Sie im Live-Betrieb, das heißt?

Es gibt Nutzer:innen in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Wir sehen: Es wird viel korrigiert. Sonst hätten wir auch gar nicht weitergemacht. Die Rückmeldung war von Anfang an: "Das brauchen wir dringend." Besonders wertvoll ist die Zusammenarbeit mit dem Internat Louisenlund, unserem Haupt-Praxispartner. Von dort bekommen wir kontinuierliche Rückmeldungen aus der Anwendung im Unterricht, und das hilft enorm, die Anwendung weiterzuentwickeln. Ein Ergebnis ist zum Beispiel: Die Einschätzungen der KI liegen meist sehr nah an den Lehrerbewertungen.

Eine Privatschule als Praxispartner. Kein Zufall, oder?

An einer Privatschule sind die Genehmigungswege kürzer. Grundsätzlich ist es so: Wenn Lehrkräfte eine neue Anwendung nutzen wollen, müssen sie prüfen, ob sie auf der Whitelist des Landes steht oder ob sie eine Genehmigung einholen müssen. Wir versuchen, die Barrieren möglichst niedrig zu halten: Wir kommen ohne jegliche personenbezogenen Daten aus. Wir brauchen nur Fach, Jahrgang, Schulart und Bundesland – mehr nicht. Keine Namen, keine Profile, kein Training der KI mit den Daten. Das Ganze ist datensparsam und läuft auf Servern in Deutschland. Trotzdem tun sich die staatlichen Strukturen schwerer. Mehrere Bundesländer sprechen mit uns, prüfen die Möglichkeiten. Aber noch keines hat gesagt: "Wir machen das jetzt." Umgekehrt aber haben wir auch noch nie das Signal aus der Bildungsverwaltung bekommen: "Das dürfen Sie nicht." Im Gegenteil, die Neugier ist groß.

Allerdings sind Sie nicht die Ersten mit einer solchen Idee gewesen. Eine kurze Internetrecherche ergibt eine Hülle und Fülle an KI-Korrekturhilfen und -assistenten, die entweder schon online sind oder sich in Entwicklung befinden, darunter von Start-ups bis zu alteingesessenen Bildungsverlagen. Warum glauben Sie, dass es da noch Ihren "Noten Copilot" braucht?

Weil er nicht nur irgendein weiteres KI-Tool ist, sondern ein speziell für den Bildungsbereich entwickeltes System, das Lehrkräfte rechtssicher, fundiert und praxisnah unterstützt. Lehrkräfte sollen nicht nur Zeit sparen, sondern ihre fachliche und pädagogische Entscheidungshoheit behalten. Genau darauf ist Noten Copilot ausgelegt.

Konkret: Was haben Sie, was die anderen nicht haben?

Wir kombinieren Datensparsamkeit mit fachlicher Tiefe und praktischer Relevanz. Wir berücksichtigen die föderalen Unterschiede und die Vorgaben der Kultusministerkonferenz, stellen den richtigen Kontext her und legen größten Wert auf DSGVO-Konformität. Die Bewertungen orientieren sich an den Qualitätsstandards der KMK und den jeweiligen Fachanforderungen, sie sind konsistent, vergleichbar und mehrsprachig verfügbar – ein klarer Vorteil in heterogenen Lerngruppen. Zusätzlich generiert Noten Copilot individualisierte Übungsvorschläge, die gezielt auf die Entwicklungsfelder einzelner Lernender eingehen. Hinzu kommt: Wir entwickeln die Anwendung mit und für Lehrkräfte. Ihre Rückmeldungen fließen kontinuierlich in die Weiterentwicklung ein – für eine Lösung, die fachlich belastbar und zugleich einfach zu bedienen ist.

"Wichtig ist uns auch die wissenschaftliche Begleitung durch eine Universität, 
die untersuchen möchte, wie das System genutzt wird."

Wie geht es weiter?

Wir haben uns erfolgreich bei einem Accelerator-Förderprogramm für Start-ups hier in Schleswig-Holstein beworben. Wir wollen weitere Partner gewinnen und sind dabei, eine GmbH zu gründen. Wichtig ist uns auch die wissenschaftliche Begleitung durch eine Universität, die untersuchen möchte, wie das System genutzt wird, ob es wirklich Zeit spart, ob Feedback besser wird. In diesem Forschungsbereich liegen auch international noch kaum Ergebnisse vor.

Muss sich Ihre Schule Sorgen machen, dass Sie bald in die Wirtschaft abwandern?

Sicher nicht. Das Projekt ist eine Herzensangelegenheit, aber nicht mein Hauptberuf. Ich bin sehr gerne Lehrerin und Schulleiterin. Ich habe heute Morgen eine sechste Klasse unterrichtet, und wenn ich vor den Schülern stehe, weiß ich, wo ich hingehöre.

Kommentare

#1 -

Wolfgang Kühnel | Mo., 29.09.2025 - 15:59

"Darum bleibt die Verantwortung bei der Lehrkraft. Sie muss geschult sein, wissen, wie KI funktioniert, ..."

Und wie KI funktioniert, das muss dann Teil des Lehramtstudiums werden. Und weil das Lehramtsstudium polyvalent sein muss, können Absolventen auch in der KI herstellenden Industrie arbeiten, wenn sie keine Lust auf Schule und deren Bürokratie haben. Oder sie entwickeln Lernsoftware. Das wird den Lehrermangel verstärken. Dafür gibt's den KI-Boom:

https://www.tagesschau.de/wirtschaft/unternehmen/internetwirtschaft-deutschland-100.html

Der nächste Schritt wird dann sein, Lehrer weitgehend durch Lernsoftware zu ersetzen. Diejenigen Lehrer, sie sich am besten damit auskennen, werden mit der Wartung der Systeme betraut und unterrichten immer weniger, und das auch nur als Lernbegleiter zur Lernsoftware. Noch 50-100 Jahre weiter haben wir dann Schulen ohne Lehrer, aber mit einer unternehmerisch agierenden Schulleitung (genannt "educational government"), mit einer kompetenzorientierten Controlling-Abteilung für die vielen Tests (deren Ergebnisse mit der Schüler-ID gesammelt werden) und natürlich einer KI-Abteilung;  für Problemfälle noch ein paar Psychologen und/oder Sozialpädagogen (quasi als Auslaufmodelle), die notfalls die Glückspille gegen Depressionen verabreichen. Roboter ersetzen Hausmeister und Hausreinigung. Schöne neue Welt!

Hier wird schon mal angedeutet, wie die digitale Zukunft aussehen könnte, man beachte die "gamifizierte Weiterbildung auf dem individuellen Lernpfad":

https://govtechschool.de/

#2 -

Josef König | Mi., 01.10.2025 - 10:30

Moin,


interessant wird die Konsequenz sein, wenn Schüler/innen dazu übergehen, selbst diese KI für die Vorkorrektur zu nutzen oder wie bereits üblich KI für die Hausaufgaben einzusetzen … 

 

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