"Die größte wissenschaftliche Krise aller Zeiten"
Eine Gruppe internationaler Forscher warnt in der "Stockholm Declaration" vor dem Zusammenbruch des Wissenfundaments moderner Gesellschaften – und fordert eine weltweite Reform des wissenschaftlichen Publizierens. Ein Interview mit dem Mitinitiator Bernhard Sabel.
Der Neuropsychologe und Hirnforscher Bernhard A. Sabel (links) ist Professor für Medizinische Psychologie an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg und Gründer der gemeinnützigen Sciii gGmbH. Der frühere Vorsitzende des Deutschen Hochschulverbandes in Sachsen-Anhalt engagiert sich seit Jahren gegen Wissenschaftsbetrug und Fake-Publikationen. Neben ihm steht Mitinitiator Dan Larhammar. Der Zellbiologe war zwischen 2018 und 2022 Präsident der Königlich Schwedischen Akademie der Wissenschaften und kämpft ebenfalls gegen wissenschaftliche Desinformation. Foto: Patrik Lundin.
Herr Sabel, am heutigen Mittwoch erscheint in Royal Society Open Science die sogenannte "Stockholm Declaration", die Sie gemeinsam mit Dan Larhammar, dem früheren Präsidenten der Königlich Schwedischen Akademie der Wissenschaften, verfasst haben. Sie fordern darin nicht weniger als eine "Reformation des wissenschaftlichen Publizierens" – weg von Großverlagen, wo vor allem der Profit im Vordergrund steht, hin zu gemeinnützigen, wissenschaftsgeleiteten Modellen. Glauben Sie wirklich, dass ein solcher Systemwechsel möglich ist?
Glauben ist hier nicht das richtige Wort. Aber ich hoffe darauf, dass Taten folgen, und zwar global. Wenn die Königlich Schwedische Akademie ein solches Dokument diskutiert und unterstützt, dann ist das die beste Chance, die wir haben. Einzelne Erklärungen oder Initiativen gab es viele, sie haben nichts Grundlegendes verändert. Deswegen wollten wir das Thema so hoch hängen wie möglich. Keine Institution der Welt genießt in der Wissenschaft eine größere Akzeptanz.
Aber was genau soll dieses Papier bewirken? Ein weiteres Manifest unter vielen – was ändert das konkret?
Ich weiß, dass viele Erklärungen folgenlos geblieben sind. Aber hier ist die Ausgangslage eine andere: Die Royal Swedish Academy of Sciences ist die Institution, die die Nobelpreise vergibt – sie steht für wissenschaftliche Exzellenz und Unabhängigkeit. Wenn von dort ein Appell kommt, dann hat das Gewicht. Und wir stehen nicht allein. Die Royal Society in London, die Chinese Academy of Sciences und auch die Leopoldina sind im Austausch. Wenn solche Akademien gemeinsam handeln, kann daraus eine echte Bewegung entstehen – eine "coalition of the willing" für wissenschaftliche Integrität.
Unter den Erstunterzeichnern finden sich international führende Köpfe: etwa der Psychologe und ERC-Vizepräsident Gerd Gigerenzer, DFG-Vizepräsident und Max Planck Vorstandsmitglied Peter Seeberger, die Fälschungsaufdeckerin Elisabeth Bik, die mexikanische Physikerin Ana María Cetto, Chefredakteur Roland Seifert und der britische Geologe Geoffrey Boulton vom International Science Council. Auch je ein Vertreter aller 10 Abteilungen der Königlich Schwedischen Akademie waren Teilnehmer der Diskussion – von der Ökonomin Anna Dreber Almenberg bis zum Biologen Nils-Göran Larsson. Die Erklärung ist also kein Einzelappell, sondern das Ergebnis einer ungewöhnlich breiten Allianz internationaler Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler.
"Das ist keine Übertreibung, das ist eine systemische und
globale Bedrohung für unsere intellektuelle Infrastruktur."
Sie sprechen in der Erklärung von der "größten wissenschaftlichen Krise aller Zeiten". Ist das nicht überzogen?
Nein, leider nicht. Wir erleben jedes Jahr Hunderttausende von Fake-Arbeiten in der Literatur, industriell produziert von sogenannten paper mills. Dazu kommen manipulierte Zitationsmetriken, gekaufte Autorenschaften, gefälschte Daten und inzwischen auch KI-generierte Texte. Das ist keine Übertreibung, das ist eine systemische und globale Bedrohung für unsere intellektuelle Infrastruktur. In der Erklärung nennen wir es "the greatest scientific fraud of all time". Und ich wüsste nicht, was größer wäre. KI macht's möglich.
Sie beschreiben das als Teil einer "Reputationsökonomie", in der Zitationszahlen und Publikationsmengen die Währung des Erfolgs sind. Warum ist das so gefährlich?
Weil es Wissenschaft pervertiert. Wenn Quantität mehr zählt als Qualität, dann wird Fälschung attraktiv. Die Folge ist, dass das Vertrauen in Forschung insgesamt erodiert. Wir sprechen in der Stockholm Declaration von einem drohenden "knowledge collapse" – also einem Zusammenbruch des Wissensfundaments, auf dem alles aufbaut. Wenn KI-Systeme künftig mit gefälschten Daten trainiert werden, verlieren wir jede Orientierung, was wahr ist und was nicht.
Viele in der Wissenschaftspolitik würden sagen: Aber wir unternehmen doch längst etwas. In Deutschland etwa gibt es zum Beispiel das DEAL-Projekt.
DEAL war der Versuch der deutschen Wissenschaftsorganisationen, über Verträge mit den Großverlagen den Zugang bezahlbar zu halten und Richtung Open Access umzubauen. Aber die eigentliche Krise liegt tiefer. Es geht nicht nur um die Frage, wer wie viel verdient, sondern um die "Verschmutzung des Wissens" selbst. DEAL ändert nichts daran, dass Publikationszahlen explodieren und die Qualität sinkt. Und die großen Verlage, die trotz DEAL weiter Gewinne von bis zu 40 Prozent erzielen, tragen Mitverantwortung. Ich sage nicht, dass niemand verdienen darf. Aber Gewinne, die aus Steuergeldern stammen, sollten in die Wissenschaft zurückfließen – zum Beispiel für Gutachter oder Forschungsförderung.
Sie fordern in der Deklaration eine "Rückführung der Kontrolle über das Publizieren an die akademische Gemeinschaft". Wie soll das konkret aussehen?
Indem wir uns von kommerziellen Geschäftsmodellen lösen und auf nachhaltige, gemeinnützige Strukturen setzen – diamond open access heißt das: frei lesen, frei publizieren, unter der Kontrolle der Wissenschaft selbst. Der Maßstab muss wieder wissenschaftliche Exzellenz sein, nicht Zitationsmetriken. Deshalb fordern wir: "Merit quality, not quantity." Wer gute Arbeit leistet, soll Anerkennung bekommen – nicht, wer viel produziert.
"Wir brauchen eine echte Kulturveränderung,
und die kann nur global gelingen."
Und was ist mit der europäischen CoARA-Initiative? Sie hat rund 800 Unterzeichner-Organisationen und will unter anderem die Bewertungskriterien von Wissenschaft verändern – weg von Zitationszahlen, hin zu qualitativen Kriterien. So wie Sie auch.
CoARA hat gute Prinzipien formuliert, aber die Initiative bleibt zu vage und viel geändert hat sich nicht. Solange die Anreizsysteme gleich bleiben, wird sich wenig ändern. Eine Zahl ist schnell interpretiert – hoher Zitationsindex, also gute Forschung. So einfach funktioniert Wissenschaft aber nicht. Wir brauchen eine echte Kulturveränderung, und die kann nur global gelingen. Deshalb haben wir die Stockholm Declaration ganz bewusst international angelegt.
Und das soll den großen Unterschied machen? Warum?
Weil der Druck mittlerweile so groß ist, dass sich die Wissenschaft selbst gefährdet. Eine administrative Bequemlichkeit, alles in Zahlen zu messen, stößt an ihre Grenzen. Hoher h-Index, viele Publikationen – das galt lange als Qualitätsmerkmal. Aber inzwischen wird das System durch KI und Fälschungen unterlaufen. Wir brauchen den Mut, diese Spirale zu durchbrechen. Zum Beispiel, indem man Bewerber auffordert, nur zehn ihrer wichtigsten Arbeiten vorzulegen. Das ist ehrlich und überprüfbar.
"'Lügen ist nicht verboten', hat mir ein Jurist einmal gesagt –
und er hatte recht. Wir müssen das ändern."
In der Deklaration gehen Sie noch weiter: Sie sprechen von gesetzlichen Maßnahmen, um "fraudulent publishing" zu sanktionieren. Ist das nicht ein gefährlicher Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit?
Ganz im Gegenteil. Es schützt die wissenschaftliche Freiheit, denn Lug und Trug schafft Intransparenz und beraubt uns der freien Meinungsäußerung. Jede Regel kann missbraucht werden. Aber keine Regel zu haben, ist schlimmer. Im Moment ist Fälschung rechtlich kaum fassbar. "Lügen ist nicht verboten", hat mir ein Jurist einmal gesagt – und er hatte recht. Wir müssen das ändern. Wer bewusst gefälschte Daten veröffentlicht, wer von paper mills kauft, begeht keinen Kavaliersdelikt, sondern einen Angriff auf das Gemeinwohl. Wenn für ein Medikament Steuergeld fließt und sich später herausstellt, dass die zugrunde liegenden Studien erfunden waren, dann muss das Konsequenzen haben.
Sie schlagen deshalb einen "Fraud Tag" vor, Integritätsregister, Whitelists für Zeitschriften. Wer soll das kontrollieren – die Staaten oder die Wissenschaft selbst?
Beides. Es braucht unabhängige, nicht von Verlagen finanzierte Kontrollinstanzen, die Fälschungen systematisch aufspüren und öffentlich machen. In der Deklaration fordern wir, dass solche Institutionen gemeinnützig organisiert und international vernetzt werden. Vergleichbar mit Sicherheitsprüfungen in der Autoindustrie: Die Autos zertifiziert auch nicht der Hersteller selbst.
Warum sollten Regierungen plötzlich Interesse an einer Reform haben, die den großen Verlagen schadet?
Das ist eine berechtigte Frage. Ich bin Realist. Aber auch Politikerinnen und Politiker wollen sich nicht länger dem Vorwurf aussetzen, Steuergeld in ein System zu pumpen, das Betrug begünstigt. Und je sichtbarer das Problem wird – durch KI, durch Skandale, durch öffentliche Debatten –, desto größer wird der Handlungsdruck. Es geht ja nicht um Kontrolle von außen, sondern um die Wiederherstellung von Vertrauen. Und das liegt im Interesse aller. Es ist die Basis unserer intellektuellen Infrastruktur.
Hinter Ihrer Reformforderung steckt auch ein demokratiepolitisches Motiv. Sehen Sie die Glaubwürdigkeitskrise der Wissenschaft als Gefahr für die Demokratie?
Unbedingt. Jede Form von Desinformation schränkt Freiheit ein – auch die Wissenschaftsfreiheit. Wenn die Öffentlichkeit den Unterschied zwischen echter und gefälschter Forschung nicht mehr erkennen kann, dann öffnen wir Wissenschaftsfeinden Tür und Tor. Deshalb sage ich: Wissenschaft muss frei sein, aber auch wahrhaftig. Nur wenn wir die Wahrheit besser kennen, ist sie wirklich frei.
Kommentare
#1 - Ein Detail
Zum Beispiel, indem man Bewerber auffordert, nur zehn ihrer wichtigsten Arbeiten vorzulegen. Das ist ehrlich und überprüfbar.
Nur zehn? Niemand wird bei 20, 100, 200 Bewerbern pro Postdocstelle oder Professur, oder auch nur einer Shortlist von 10 Bewerbern, zehn Arbeiten pro Person lesen. Das ist völlig illusorisch und daher eben gerade nicht überprüfbar. Selbst wenn das möglich wäre, was ist mit den restlichen Arbeiten, die nicht vorgelegt werden müssen? Ist es egal wenn die unredlich erzeugt sind?
Das absolut Mindeste ist, das alle Verfasser einer jeden als betrügerisch entlarvten Veröffentlichung nicht mehr im öffentlich finanzierten Wissenschaftssystem arbeiten dürfen.
#3 - UK Beispiel
Im UK Research Excellence Framework kann jede Wissenschaftlerin nur ihre 4 Publikationen über einen Zeitraum von 5 Jahren einreichen, und muss für jede kurz erklären, was der Impact in Wissenschaft und Praxis war und citations gelten ausdrücklich nicht als "impact" und dürfen nicht erwähnt werden. Ausserdem kann man Fallstudien von langfristigem Impact einreichen, wo die Publikation bis zu 15 Jahren zurückliegen kann. Ermutigt zur Qualität statt Quantität.
#4 - Strukturreform
Wunderbar, damit ist die schon seit Jahren dringend notwendige Strukturreform des Wissenschaftssystems hoffentlich bald auf dem Weg. Denn auch wer nicht mehr Teil des Uni- und Hochschulsystems ist kann ein guter Wissenschaftler oder eine gute Wissenschaflterin sein, wir haben das schliesslich alle mal gelernt. Aber so gross denken Meriten- und Belohnungsbasierte Systeme nicht. Dieser Artikel hier https://www.forschung-und-lehre.de/karriere/wer-kommt-an-die-spitze-4340
beschreibt diese Schieflage. Und ja aus meiner Sicht gibt es die Lösung für diese Publikationskrise nur, wenn das Wissenschaftssystem komplett neu gedacht wird. Wir, die nicht mehr in den Institutionen dazu gehören sind >90% der Wissenschafter jeder Generation. Ohne uns gibt es keine gute Lösung.
#4.1 - Strukturreform
Ein erster Schritt wäre die komplette Erneuerung des innerwissenschaftlichen Gutachterwesens. Es beruht allein auf Vertrauen in die Qualität und die Ernsthaftigkeit ehrenamtlicher Arbeit, doch immer weniger "Profis" (m/w/d) sind bereit, ihre kostbare Zeit dementsprechend ins System einzuspeisen. Wären fachlich (noch) kompetente, jedoch nicht mehr im Wissenschaftsbetrieb tätige und entsprechend unabhängige und (allerdings von wem?) honorierte "peer reviewer" nicht vertrauenswürdigere Ansprechpartner? Jedenfalls müssten sie weder auf Kollegen Rücksicht nehmen noch mögliche Konkurrenten fürchten. Als Außenseiter des Wissenschaftsbetriebes hätten sie auch einen nüchterneren Blick auf Vertrauenswürdigkeit, Relevanz und Qualität einer ihnen zur Begutachtung vorgelegten Arbeit.
#5 - Max 10 Paper pro Jahr je PI
Zweifellos eine wichtige Initiative. Der DEAL funktioniert überhaupt nicht. Er hat die Gewinne der Großverlage nicht vermindert und dafür die Publikationskosten signifikant erhöht. Öffentliche Repositorien können eine gute Alternative sein. Um hier die Publikationsflut eindämmen zu können, sollte jeder Autor auf maximal 10 Paper pro Jahr erscheinen dürfen.
#6 - Springer
Ich habe einen Springer-Band heruntergeladen und gelesen, der mit KI ins Englische übersetzt worden war. Die KI hatte leider im ganzen Band durchgehend Deep Learning falsch übersetzt als 'in depth learning', aufgefallen war das niemand der zig Wissenschaftler als Herausgeber. Meine Anfrage bei Springer, den Fehler wenigstens online zu berichtigen, lief dort ein wenig im Kreis blieb ohne Ergebnis, von Entschuldigung mal ganz zu schweigen. Springer profitiert also vom Publizieren von Produkten, die sub standard sind. Die Reputationskrise ist für mich auch real.
#7 - Open Access?
Die Intention ist zweifellos lobenswert und wichtig. Allerdings scheitert diese Initiative fuer mich an der ersten Huerde - ein Paper, welches hinter einem internen Log-In verborgen ist, wird sich schwer tun, globalen Impakt haben.
Waere schoen, wenn zumindest diese technische Huerde zeitnah ueberwunden werden koennte.
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