Ausgerechnet Bethel

Europas größtes Sozialunternehmen will die einzige inklusive Sekundarschule Bielefelds schließen. Eltern und Schüler wollen sich damit nicht abfinden: Die Geschichte einer Protestbewegung.


Foto: privat
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HUNDERTE GELADENE GÄSTE waren dabei, als Europas größtes Sozialunternehmen vergangene Woche in sein Jubiläumsjahr startete. 150 Jahre "von Bodelschwinghsche Stiftungen Bethel", passend dazu präsentierte der Starfotograf Jim Rakete wenige Meter vom Berliner Reichstag entfernt fünfzig Porträts behinderter, kranker und schutzbedürftiger Menschen. "Wir sind viele", so ist die Ausstellung überschrieben. 18 000 Mitarbeiter hat die kirchliche Stiftung heute deutschlandweit, sie arbeiten in Krankenhäusern, Senioren- und Behindertenheimen und in Werkstätten. Der Umsatz liegt bei über einer Milliarde Euro.

In Bielefeld, Bethels Keimzelle und bis heute größtem Standort, ist die Stimmung weniger feierlich. Der Stiftungsvorstand hat im September von einem auf den anderen Tag verkündet, dass Bethels einzige Schule für Behinderte und Nichtbehinderte geschlossen werden soll, die erst 2013 gegründete inklusive Sekundarschule. Die Proteste der Eltern und Schüler halten die Stadt in Atem. In der Weihnachtszeit haben sie auf dem größten Platz der Stadt Weihnachtslieder gesungen und getrommelt, die Schülersprecher wurden im Radio und im Fernsehen interviewt. Sie haben Protestvideos bei Youtube eingestellt, eine Online-Petition gestartet, über 10 000 Unterschriften gesammelt und 499 Luftballons mit Postkarten steigen lassen, für jeden Schüler eine. Dazu gab es jede Woche eine Schüler-Mahnwache vor dem Vorstandsgebäude. Beim Tag der offenen Tür stehen Kamerateams vor den Schultoren und dürfen nicht rein, weil Bethel jedes Gespräch mit Journalisten untersagt hat. Es ist ein PR-Gau für eine Einrichtung, die in den vergangenen 150 Jahren deutschlandweit Inbegriff geworden ist für kirchliche Diakonie, seit 1867 das Haus Ebenezer die ersten Epilepsiekranken aufnahm. Wie konnte es so weit kommen?

 

Die Geschichte begann, als sich im Mai 2016 ein Ingenieurbüro in der Schule meldete. Die Stiftung hatte die Bauexperten beauftragt, sich die maroden Klassenräume anzusehen und den Sanierungsbedarf zu schätzen. Denn auch wenn die A und B genannten Gebäude des Schulkomplexes, gebaut in den fünfziger Jahren, nach außen einen soliden und gepflegten Eindruck machen, bröckeln innen die Wände, die Toiletten sind heruntergekommen. Und eine inklusive Schule ohne Rollstuhlrampen und Aufzüge, das wissen alle, lässt sich nicht aufrechterhalten. Das sieht auch der Bethel-Vorstand so und sagt, er habe für die Baumaßnahmen 10 Millionen Euro eingeplant. Jetzt geht es also bald los, denken sie in der Schule, als die Bauexperten aufkreuzen. Danach geschah ein paar Monate lang nichts. So scheint es zumindest.

 

Anfang September dann, Schüler und Lehrer waren gerade aus den Sommerferien zurückgekehrt, berief die Schulleitung die Eltern zu einer außerordentlichen Versammlung ein. Der Bethel-Vorstand habe beschlossen, die Schule auslaufen zu lassen. Die gegenwärtigen Schüler könnten noch ihren Abschluss machen, doch werde niemand mehr neu aufgenommen. Als Grund führt Bethel das Votum der Bauexperten an. Gebäude A und B seien nicht mehr zu retten, müssten neu errichtet werden, das koste 20 Millionen Euro, und das sei leider zu viel.

 

Das Aus wegen einer Investitionslücke von 10 Millionen Euro? "Wir empfanden das Vorgehen von Bethel als unglaublich kaltschnäuzig", sagt Jutta Fedrowitz. Sie ist Vorsitzende der Elternvertretung der Sekundarschule und des Gymnasiums Bethel, das Bethel ebenfalls betreibt und das nicht von der Schließung bedroht ist, obwohl zum Teil dieselben Lehrer dort unterrichten und es dieselben baufälligen Gebäude mit der Sekundarschule teilt. Doch die Schulen verstehen sich als Verbund, teilen sich auch die Elternvertreter. Fedrowitz' Tochter besucht die 10. Klasse des Gymnasiums. Eigentlich gibt es nur einen entscheidenden Unterschied zwischen beiden Schulen. Das öffentlich-stiftische Gymnasium wird inklusive Lehrerpensionen vom Land finanziert, die Sekundarschule muss Bethel zum Teil selbst zahlen. Ebenfalls in den Gebäuden beherbergt sind Teile eines Berufskollegs, an dem Bethel zum Teil seinen Nachwuchs an Erziehern, Sozialhelfern und Heilpädagogen ausbildet. Auch das Berufskolleg soll nicht geschlossen werden. >>



 >>  "Darum hatten wir von Anfang an den Verdacht, da stimmt was nicht in der Argumentation", sagte Olaf Kleinekathöfer, dessen Sohn die Sekundarschule besucht und der zu Fedrowitz' engsten Mitstreitern zählt. Kleinekathöfer ist Banker und hat alle Zahlen, die Bethel über die vergangenen Monate vorgelegt hat, nachgerechnet. 10 Millionen zusätzlich, das koste die Stiftungen 970 000 Euro Finanzierungskosten jährlich, bezifferte der Vorstand die Lücke. Immer wieder fragte Kleinekathöfer nach, wie man auf diese Beträge komme, angesichts des gegenwärtigen Zinsniveaus seien sie überhaupt nicht nachvollziehbar. Bis, so berichtet Kleinekathöfer, die Geschäftsführerin des Stiftungsbereichs Schule und der zuständige Controller eines Tages in einer gemeinsamen Sitzung mit Schulleitern und Eltern zugegeben hätten, dass auch laufende Kosten, Lehrergehälter und Altersrückstellungen miteingerechnet worden seien.

 

Bethel will das nicht bestätigen. Und auch nicht, was die Elternvertreter sonst noch erzählen: dass sie dem Vorstand andere Modelle vorgeschlagen hätten, wie sie von den 20 Millionen Sanierungskosten herunterkommen. Drei, vier Millionen weniger seien drin. "Doch immer hieß es, 10 Millionen ist die Obergrenze, kein Euro mehr", sagt Kleinekathöfer. "Da war uns klar, die wollen nicht." Als einziges Zugeständnis folgte Bethel der Bitte der Stadtverwaltung, die Schließung um ein Jahr zu verschieben.

 

Je größer die Wut der Bürger wird, desto mehr steigt der Druck auf die Stadt Bielefeld, ihrerseits etwas zu unternehmen. Denn Bethels Sekundarschule ist die einzige in der Stadt. In Rekordzeit wurde ein Bürgerbegehren in die Wege geleitet, dass die Stadt jetzt eine eigene Sekundarschule einrichten müsse, und nachdem die städtischen Schulpolitiker zunächst einen Appell nach dem anderen gen Bethel schickten, handelten sie Anfang Dezember. Der Schulausschuss verkündete, dass zum Schuljahr 2018/2019 gleich drei neue Sekundarschulen gegründet werden sollen, eine davon im Stadtteil Gadderbaum, wo Bethels weitläufiger Campus, eine Art Stadt in der Stadt, liegt.

 

Wird das eine neue Schule? Und wenn ja, werden die Lehrer parallel in beiden Schulen unterrichten? Oder wird die Stadt Bethel notgedrungen ein Millionengeschenk machen, damit die Stiftungen die Sekundarschule weiter betreiben? Ziel sei es, bis zum 3. Februar ein Gesprächsergebnis zu erhalten, sagte Bielefelds Oberbürgermeister Pit Clausen vergangene Woche. Bethel und die Stadt seien sich einig, formulierte er vage, dass "bestimmte Rahmenbedingungen verändert werden müssen, wenn sichergestellt werden soll, dass die von Bodelschwinghschen Stiftungen die Trägerschaft fortsetzen können".

 

Weitere Erklärungen werde es bis dahin nicht geben, fügte Clausen schmallippig hinzu. Dass sie im Rathaus ungehalten sind über die Art und Weise, wie Bethel sie vor vollendete Tatsachen gestellt hat, hatte der Oberbürgermeister schon beim städtischen Neujahrsempfang deutlich gemacht. Doch bei "allem Verständnis für möglichen Ärger und Enttäuschung", sagte er, sei es wichtig, nicht aus den Augen zu verlieren, wie wichtig die "Institution Bethel ist".

 

"Für Menschen da sein", so lautet das Motto der Stiftung, von der viele sagen, sie habe mit ihrem Taktieren auf dem Rücken der Menschen ihren Haushalt sanieren wollen. "Von denen kann man in Sachen kaltblütigem Verhandlungsgeschick noch was lernen", sagt ein an der Sache nicht beteiligter Beamter im Düsseldorfer Schulministerium. Sobald die Entscheidungen gefallen seien, sei auch Bethel selbst gern zu einem öffentlichen Kommentar bereit, meinte ein Bethel-Sprecher. Die Eltern machen erst mal weiter mit ihren Protestaktionen. Bis der Stadtrat die Schulpläne abgesegnet hat, Bethel sagt, wie es weitergeht und endlich auch die Schulleitung reden darf. Sie planen jetzt auch eine Fotoausstellung mit 50 Gesichtern, sagt Jutta Fedrowitz. "Gesichter unserer Schüler. Damit sie den Vorstand und die Stadt daran erinnern, um wen es hier geht."

Dieser Artikel erschien zuerst am 26. Januar 2017 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. 

 

Nachtrag am 03. Februar 2017:
Gestern am späten Nachmittag kam die Nachricht: Die Sekundarschule Bethel soll bleiben, gaben die Stadt Bielefeld und die von Bodelschwinghschen Stiftungen in einer gemeinsamen Erklärung bekannt. Die Stadt wolle sich an den notwendigen Investitionen mit maximal 3,8 Millionen Euro beteiligen. Außerdem sollen vom Schuljahr 2018/2019 an nur noch zwei statt bislang drei Parallelklassen aufgenommen werden.  Durch die Verkleinerung würden die anstehenden Investitionen in die Schulgebäude reduziert, hieß es. Der Stadtrat und der Verwaltungsrat Bethel müssen noch zustimmen. Damit kommt der Poker um die inklusive Schule zu einem positiven Ende – womit das offensichtliche Kalkül Bethels, die Stadt zum Mitinvestieren zu zwingen, zugleich aufgegangen ist. Dass die Schule mit verringerter Schülerzahl fortgeführt werden soll, dürfte die Elternvertreter zudem in ihren Vermutungen bestätigen: Es sei Bethel von Anfang an auch um eine Senkung der laufenden Kosten gegangen, sagen sie. Auf der Website der Stiftung sucht man die gute Nachricht übrigens bis jetzt (Freitagmorgen, acht Uhr) vergeblich. 

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Kommentare: 1
  • #1

    Olaf Kleinekathöfer (Donnerstag, 02 Februar 2017 10:04)

    Lieber Hr. Wiarda,
    gerade weil Bethel inzwischen eine bundesweit agierende soziale Einrichtung ist und aus ganz Deutschland Spender den Stiftungen aus diakonischen Beweggründen Gelder überweisen, kann und darf hier auch Verantwortungsbewußtsein und Ehrlichkeit seitens der agierenden Bethelspitzen erwartet werden und nicht nur wirtschaftliches Kalkül. Es handelt sich schließlich nicht um einen Konzern bei dem es um die Maximierung des Unternehmenswertes geht, sondern um Werteorientierung. Eine gerade erst von kurzen gegründete Schule, die ideal den inklusiven Grundgedanken umsetzt, darf nicht plötzlich als 'wertvernichtendes Geschäftsfeld' angesehen werden und aus Wahrung der Spenderinteressen geschlossen werden. Bethel betont, dass ja ein Großteil der Spender außerhalb von Bielefeld-Bethel wohne und nicht für eine allgemeinbildende Ersatzschule in Bethel spende. Dies mag stimmen, macht aber den moralischen Anspruch, den man an einen evangelischen Schulträger haben darf nicht zunichte. Als Unterstützer zum Erhalt der Sekundarschule bedanke ich mich bei Ihnen, dass Sie unserem Anliegen auch bundesweit ein Gesicht gegeben haben. Ich bin mir sicher, dass auch viele Spender ein solches Verhalten aus Bethel nicht erwartet hätten.
    Viele Grüße aus Bielefeld sendet,
    Olaf Kleinekathöfer.