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Weil eben nicht alles bleibt, wie ist

Manche sagen, die Debatte um die Digitalisierung in der Bildung sei übertrieben. Welch ein Irrtum. Wir müssen das Bildungssystem dringend auf die große Transformation vorbereiten. Sechs Thesen von Myrle Dziak-Mahler.

Foto: Dragons/Pixabay

ÜBER DIE SCHULEN wird derzeit viel geredet: Es gibt zu viele Schüler und zu wenig Lehrer, viele Schulgebäude sind marode und bei all den Problemen müssen die Schulen auch noch neue Aufgaben bewältigen. Eines der Schlagworte, über das derzeit mit am meisten diskutiert wird, ist die Digitalisierung. Deutsche Schulen stehen im internationalen Vergleich schlecht dar, wenn es um die Vermittlung von Medienkompetenzen geht. Da ist der von Bundesministerin Wanka angekündigte Digitalpakt nicht nur ein wichtiges Signal, sondern dringend notwendig – sollte er denn kommen. 

 

In die digitale Infrastruktur von Schulen zu investieren, ist zwingend – ohne Frage, aber nur ein Anfang. Das allein reicht nicht aus. Es braucht vor allem neue Konzepte, wie Unterricht angesichts komplett veränderter Bedingungen gelebt werden soll. An dieser Stelle setzt das Papier „Bildung in der digitalen Welt“ an, das Ende vergangenen Jahres von der Kultusministerkonferenz (KMK) beschlossen wurde. Dieses Papier ist an sich sehr begrüßenswert, da es normativ wirkt und eine strategische Ausrichtung definiert. Gleichzeitig formuliert das Papier Maßnahmen für Schulen und Hochschulen, die sehr konkret sind und sich im Wesentlichen auf den Einsatz digitaler Werkzeuge beschränken. Das Papier lässt allerdings eine Leerstelle an der Frage, auf welchem Weg die langfristigen Ziele erreicht werden können. 

 

Die Digitalisierung verändert unsere Gesellschaft derzeit tiefgreifend auf allen Ebenen. Ein Blick auf die sich zurzeit schnell weiterentwickelnde Forschung zur Künstlichen Intelligenz macht deutlich, wo es in naher Zukunft hingehen wird. Es werden Jobs entstehen, die sich heute niemand vorstellen kann und gleichzeitig werden viele Arbeitsplätze wegfallen. Diese Situation macht unsicher: Wie sollen wir Bildungsziele für junge Menschen bestimmen, wenn wir keine Vorstellung haben, welche Bildungsinhalte die Gesellschaft morgen und übermorgen benötigt? Und trotzdem müssen wir junge Menschen auf ihre Zukunft vorbereiten, intellektuell wie emotional. Und unter fairen Bedingungen. Der Einzug der Digitalisierung an die Schulen macht es notwendig, Schule komplett neu zu denken. 

 

Bis dato orientiert sich das Bildungssystem an den Normen- und Wertevorstellungen des 20. Jahrhunderts. Damit bereitet es Schülerinnen und Schüler für die Aufgaben der Vergangenheit, nicht aber auf eine sich zunehmend verändernde Gesellschaft und ihre Herausforderungen vor. Was wir benötigen, ist Pioniergeist. Eine Haltung, die keine Angst davor hat, das, was wir als nicht mehr zielführend erkannt haben, einfach abzustellen. Wir probieren das Neue, das Andere einfach aus, wir experimentieren. Behutsam, zugewendet, verantwortlich – und mutig. Die disruptiven Veränderungsprozesse der nächsten Dekaden werden uns nichts Anderes übriglassen. 

 

Wir brauchen deshalb einen mutigen und offenen Reformprozess – und der muss bereits in der Ausbildung der angehenden Lehrerinnen und Lehrer ansetzen. Dazu sechs Thesen:

 

1. Schule wird sich verändern

Die Digitalisierung unserer Gesellschaft führt dazu, dass Schülerinnen und Schüler eigenständiger und damit selbstbestimmter und selbstbewusster lernen. Sie finden Bildungsinhalte zunehmend außerhalb der Schule, insbesondere in sozialen Netzwerken. Unterricht an Schulen muss darauf angepasst werden, dass Schülerinnen und Schüler nach individuellem Interesse und individuellem Lerntempo lernen. 

 

2. Wir brauchen einen anderen Lehrertypus

Das Berufsbild „Lehrer/in“ wird sich ändern: Digitale Medien verändern den Unterricht, denn der Zugang zu Informationen über digitale Medien wird immer einfacher und erstreckt sich flächendeckend über die gesamte Gesellschaft. Damit verlieren Lehrerinnen und Lehrer ihren Wissensvorsprung und ihre Deutungshoheit über Unterrichtsthemen. In Zukunft wird es stärker darum gehen, den Schülerinnen und Schülern Haltungen und Herangehensweisen zu vermitteln und sich in einem partnerschaftlichen Verständnis als Lehr- und Lerngemeinschaft zu verstehen. Von der OECD wurden dazu vier Kernkompetenzen formuliert: Kreativität, Kollaboration, Kommunikation und kritisches Denken. 

 

3. Schulen mit digitaler Technik auszustatten, reicht nicht aus

Gesellschaftliche Veränderungen erfordern, Schule neu zu denken, Unterrichtsstoff anders zu vermitteln und Fächerstrukturen und Unterrichteinheiten auf neue Gegebenheiten anzupassen. Die Kompetenzen von Lehrern und Schülern müssen dahingehend gestärkt werden, dass sie in der Lage sind, die digitalisierte Lebenswelt nicht nur zu konsumieren, sondern auch zu verstehen, zu hinterfragen und zu gestalten. 

 

4. An Schulen muss Informatik gelehrt werden

Schülerinnen und Schülern müssen IT- und Online-Kompetenzen vermittelt werden. Das Erlernen einer Programmiersprache trägt zum Beispiel dazu bei, ein Verständnis für die dahinterliegenden Prozesse zu erlangen. Dieses Verständnis hilft, im Berufsleben aber auch im Alltag digitale Prozesse zu verstehen und hinterfragen zu können. Dabei müssen sich Lehrer und Schüler auf eine (Berufs-) Welt einstellen, die wir heute noch gar nicht kennen. 

 

5. Der Austausch zwischen Schülern und Lehrern muss auf Augenhöhe stattfinden

Digitalisierung demokratisiert das Bildungssystem: Diskussion und Meinungsaustausch in sozialen Medien findet in der Regel auf Augenhöhe statt. Status, Beruf, Bildungshintergrund oder Einkommen werden in den sozialen Medien nicht gelebt. Das Netz sorgt für Transparenz und macht Informationen in hoher Geschwindigkeit allen zugänglich. Der Wissensvorsprung der Eliten schrumpft. Auch in der Schule wird der Austausch auf Augenhöhe zwischen Lehrern und Schülern gelebt werden müssen.

 

6. Digitalisierung muss bereits an den Hochschulen gelebt werden

Hochschulen bilden die Lehrer von morgen aus, die wiederum Schülerinnen und Schüler auf die (Arbeits-)Welt von übermorgen vorbereiten. Darauf müssen die Lehramtsstudierenden im Studium vorbereitet werden. Das erfordert digitale Lehr- und Lernmodule, die nicht nur Methoden und Techniken vermitteln, sondern die angehenden Lehrkräfte befähigen, Schülerinnen und Schülern einen kompetenten Umgang und die Fähigkeit zu einer reflektierten Auseinandersetzung mit neuen Medien zu vermitteln. 

 

Wir brauchen in Zukunft ganz andere Bedingungen an den Schulen, weil wir ganz anders werden unterrichten müssen. Wir brauchen also nicht nur neue Medien, sondern auch neue Lernkonzepte.

 

Myrle Dziak-Mahler ist Geschäftsführerin des Zentrums für LehrerInnenbildung an der Universität zu Köln.

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Kommentare: 5
  • #1

    Bleistifterin (Mittwoch, 20 September 2017 08:57)

    Es würde ja schon helfen, wenn differenzierter mit den Begriffen umgegangen würde. Geht es um Bildung? (umfasst abstrakte Konzepte, Lese-Schreib-Textkompetenzen, Werte etc)
    Oder geht es um fachliche Ausbildung?

    Solange jedes Schulfach auf seinen "Nutzen" für "die Wirtschaft" (wer soll das sein?) abgeklopft wird, sind Inhalte automatisch veraltet.

  • #2

    Martin Lindner (Mittwoch, 20 September 2017 12:36)

    Das ist ungefähr richtig, und es ist gut, dass das die Geschäftsführerin eines Zentrums für LehrerInnenbildung schreibt. Es ist aber an vielen Stellen genauso ungenau und wolkig wie es leider eben auch sonst meist ist, wenn von "Digitalisierung der Schule" die Rede ist. Wir müssen dringend konkreter werden!

    1. SchülerInnen lernen eigenständiger und damit selbstbestimmter und selbstbewusster, Bildungsinhalte zunehmend außerhalb der Schule, insbesondere in sozialen Netzwerken, lernen nach individuellem Interesse und individuellem Lerntempo.

    Jein. Irgendwie stimmt das schon, aber das ist sehr unkonkret. In vieler Hinsicht sind SuS gerade im unübersichtlichen digitalen Raum sehr unsicher und brauchen viel Anleitung. Aber natürlich nicht von herkömmlichen Lehrpersonen, das stimmt schon.

    2. Lehrerinnen und Lehrer verlieren ihren Wissensvorsprung und ihre Deutungshoheit über Unterrichtsthemen.

    Jein: Im Prinzip ja, und das hat Folgen, aber zugleich spielt das in realen Schul-Situationen auf vielen Ebenen gar keine Rolle. Oft wäre das Vormachen und Vorleben durch die LuL gerade dringend nötig.

    4K, Haltungen und Herangehensweisen, sich in einem partnerschaftlichen Verständnis als Lehr- und Lerngemeinschaft verstehen.

    Ja. Das wäre der Kern. Und jetzt stellen wir uns ins das in schwierigeren Schul-Kontexten vor. Wie geht das? SEHR schwierig, muss dringend konkret gemacht werden.

    3. "Unterrichtsstoff anders zu vermitteln und Fächerstrukturen und Unterrichteinheiten auf neue Gegebenheiten anzupassen"

    Ja. Mehr Eigentätigkeit, Recherche, kollaboratives "Etwas-selbst-herausbringen". Schwierig genug, aber das ist ein konkreter Punkt, der einigermaßen klar ist.

    4. Informatik

    Das hängt davon ab, was man unter "Informatik" versteht. Nein, auch künftig muss nicht jede/r programmieren können. Die allermeisten müssen es nicht, und künftig eher weniger als jetzt. Und nein: Man versteht die digitale Welt nicht besser, wenn man ein Programm für einen kleinen Roboter geschrieben hat.

    Was es braucht, ist Netz- und Web-Informatik. Die Leute arbeiten in sozialen Umwelten und Informationsumwelten, die durch Internet und Web (das ist nicht dasselbe) geprägt sind. Was dazu gehört, müssen wir jetzt definieren. Niemand weiß das genau, es gibt keinen Konsens. Das ist alles viel zu schwammig.

    Und es braucht für die Arbeitswelt der Zukunft ein Verständnis für den Umgang mit Daten. Also große Mengen von Zahlen in Tabellen und Datensätzen. Da geht es eher um Excel (für Fortgeschrittene: um R) als um herkömmliches "Programmieren lernen".

    5. Augenhöhe

    Ja, ohne jede Einschränkung. Das ist sehr wichtig, und ein großer Kulturbruch. Das gilt auch und vor allem für Problemschulen und Brennpunktschulen!

    6. Digitalisierung muss bereits an den Hochschulen gelebt werden

    Ja. Das erfordert weniger "digitale Lehr- und Lernmodule" (Old School), sondern kollaborative Praxis. Digitales Arbeiten, Kommunizieren, Informieren, Wissen-aufbauen muss das Wasser sein, in dem sich zukünftige LuL wie Fische bewegen.

  • #3

    Klaus Diepold (Mittwoch, 20 September 2017 21:52)

    Ich würde auch davor warnen im allgemeinen "Digitalisierungsrausch" die Lösung im Schulfach "Informatik" zu suchen. Programmieren an sich ist vergleichsweise trivial, Beherrschung von Komplexität ist schwieriger und muss nicht durch "Informatik" im engeren Sinn angepackt werden und mit Programmieren schon gar nicht.

    Ich bin mir nach einiger Diskussion und Lektüre zur Digitalisierung der Schule überhaupt nicht mehr sicher, was man darunter eigentlich konkret versteht. iPad im Klassenzimmer kann es irgendwie nicht sein, ein Pflichtfach Informatik ebenso wenig. Unterricht ersetzen mit "googlen" klingt auch nicht richtig. Was ist denn nun damit gemeint?

  • #4

    M. Schmitz (Mittwoch, 20 September 2017 23:22)

    Ich sehe Digitalisierung vor allen Dingen als Chance: In Zeiten, wo uns Lehrer*innen fehlen, wo der frühzeitige Berufsaustritt der Regelfall ist, wo die Belastungen durch Korrekturen und fächerfremdes Unterrichten immer mehr zunehmen, sollte Digitalisierung zum beidseitigen Gewinn eingesetzt werden. Für Lehrende und Lernende! Neusseland ist da sicher ein (fast) gutes Beispiel...

    Die Lehramtsausbildung hängt hier tatsächlich hinterher. Sowohl in der ersten als auch in der zweiten Phase. Hier wird oft krampfhaft und offensichtlich unbeholfen über eine "Medien-Etikettierung" von Veranstaltungen und der Zuhilfenahme von Fremdreferenten auf die Forderung reagiert (übrigens ähnlich wie beim Umgang mit Vielfalt und Inklusion...).
    Allerdings, wer will den Dozenten und Ausbildern übel nehmen, arbeiten hier doch oft (noch ältere) Menschen, die stolz auf eine 1MG-RAM-Erweiterung ihres ersten Computers waren...

    Ich kann es immer nur betonen: Die Forderung nach Digitalisierung darf nicht zur zusätzlichen Belastung für Lehrkräfte werden! Im Moment sieht es nämlich eher danach aus.

    P.S.: Ich sehe es übrigens auch nicht ganz so wie die von mir sehr gschätzte Frau Dziak-Mahler: Kinder müssen keine Programmiersprache lernen. Damit unterschätzt man die rasante Entwicklung der Digitalisierung. Wem eine Bäckereikette gehört, muss auch nicht mehr wissen, wie man einen Mähdrescher fährt...

  • #5

    Kathrin Stenzel (Donnerstag, 28 September 2017 09:01)

    Unsere Organisation macht sich für die Kompetenzen des 21. Jahrhunderts stark - an Schulen und gemeinsam mit Lehrkräften. Wir stimmen vielen der obigen Aussagen zu, weil auch wir sehen, dass unser Schulsystem im Industriezeitalter stehen geblieben ist. Jedoch sehen wir es als absolut nicht notwendig, Schülerinnen und Schüler mit dem Erlernen einer Programmiersprache zu traktieren. Die Debatte in der Bildung muss sich unseres Erachtens darum drehen, welche Kompetenzen Schülerinnen und Schüler benötigen, um diese rasanten Veränderungsprozessen, wie wir sie jetzt im Rahmen der Digitalisierung unserer Gesellschaft erleben, mitgestalten zu können bzw. daran teilhaben zu können. Das heißt mal ganz losgelöst von den aktuellen technischen Devices und den Programmiersprachen, die in fünf bis zehn Jahren schon wieder von anderen abgelöst werden, darauf zu blicken, was es braucht, um sich eigenständig Lösungen für ein technisches Problem oder auch ein gesellschaftliches Problem zu überlegen. Es braucht also Kompetenzen, die die heutigen Schüler in die Lage versetzen, selbstbestimmt und in Teilhabe in unserer Gesellschaft agieren zu können. Das steht schon konträr zu den Schülern des Industriezeitalters. Die wurden in der Schule für ein Berufsleben geschult, dass sie 40 Jahre in einem Betrieb verbrachten, um dort die immerselbe Tätigkeit zu verrichteten.
    Kathrin Stenzel
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