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Angst vor dem Bauchgefühl

Politiker und Lehrerverbände bremsen die Inklusion an Deutschlands Schulen aus. Ihre Argumente sprechen für sich.

Stufen schulischer Integration
Stufen schulischer Integration

ZULETZT HATTE AUCH Heinz-Peter Meidinger das M-Wort in den Mund genommen. Meidinger ist Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, er vertritt 160.000 Pädagogen, und die sind, wenn es nach ihrem Chef-Lobbyisten geht, an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit angekommen. "Was wir jetzt brauchen, ist ein Moratorium bei der Inklusion", folgerte Meidinger in einem WELT-Interview

 

Inklusion bedeutet, dass Kinder mit und ohne Behinderungen in denselben Klassen unterrichtet werden. Davon ist Deutschland weit entfernt. Aktuelle bundesweite Zahlen sind mühsam zu bekommen, doch dürfte mittlerweile rund ein Drittel aller "Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf" eine sogenannte Regelschule zu besuchen. Trotzdem sind die Förderschulen kaum kleiner geworden. Und das, obwohl die Bundesrepublik schon 2009 die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert und sich damit verpflichtet hat, das doppelte System abzuschaffen.

 

Andere Länder in Europa haben früher angefangen mit der Inklusion und schreiten schneller voran. Doch hierzulande führte schon der erreichte – mäßige  – Umsetzungsstand laut Meidinger mit dazu, "dass die letzten Grundschul-Leistungsvergleiche enttäuschend ausgefallen sind."

 

Was ist da los? Kann Deutschland Inklusion einfach nicht so gut wie die anderen? >>



>> Raul Krauthausen bezeichnet sich selbst als "Aktivist für Inklusion und Barrierefreiheit", und er hat sich neulich im Deutschlandfunk ziemlich eindrucksvoll aufgeregt. Er finde es bezeichnend, dass die Unterfinanzierung der Schulen sich entlade "in der Debatte an den Kindern mit Behinderung, die jetzt eben auch in Regelschulen natürlich wollen und natürlich auch ein Recht auf Bildung haben." Das Gerede von einem Moratorium sei ein "Armutszeugnis für die Bildungspolitik". Anders formuliert: Nicht die Kinder sind das Problem, sondern eine Bildungspolitik, die den Inklusionsgedanken sonntags aufs Podest stellt und montags finanziell verhungern lässt. 

 

Ein diesbezüglich gutes Beispiel hat vergangenen Sommer die gelb-schwarze Landesregierung in NRW geliefert, als sie kurz nach ihrem Amtsantritt ihr ganz eigenes "Moratorium" beschloss: Es solle keine Förderschule mehr geschlossen werden, bis die Voraussetzungen für gelingende Inklusion erfüllt seien. Moment mal, möchte man fragen: Wer schafft denn diese Voraussetzungen? Denn klar: Inklusion ist (wie übrigens jeder gute Unterricht) teuer. Inklusion fordert, damit sie gelingt, zusätzliche Lehrkräfte, Sonderpädagogen, Sozialarbeiter. Ist das überraschend? Ändern sich diese Kosten durch ein Moratorium?

 

Heinz-Peter Meidinger ist Leiter eines bayerischen Gymnasiums. Was auch seine Forderung nach einem Moratorium plötzlich in einem anderen Licht erscheinen lässt. An Gymnasien tendiert die Inklusionsquote im Gegensatz zu den Grundschulen noch immer gegen Null. Wenn der Chef des Lehrerverbandes sagt, ab einer gewissen Schwelle gefährde Leistungsheterogenität "mit Sicherheit den Lernfortschritt aller", redet er nicht nur, wie er selbst behauptet, über eine verfehlte, da unterfinanzierte Umsetzung der Inklusion. Er sagt zwar zu Recht, im Endeffekt brauche jede Klasse mit Inklusionsschülern eine Zweitlehrkraft". In seinen Worten kommt aber auch ein tiefsitzendes Misstrauen gegenüber dem Grundversprechen der Inklusionsbefürworter an sich zum Ausdruck.

 

Dieses Grundversprechen lautet: Ein inklusives Schulsystem wird allen Kindern gerecht, behinderten wie nichtbehinderten. Und schaut man sich die schon lange jenseits der 90 Prozent liegenden Inklusionsquoten in Ländern wie Schweden, Finnland oder Norwegen und deren (meist vor Deutschland liegenden) Rangplätze bei Pisa an, scheint ziemlich viel für die Richtigkeit dieser Aussage zu sprechen. 

 

Trotzdem ist das Misstrauen gegenüber dem Inklusionsversprechen in Deutschland weit verbreitet, vor allem unter Eltern und Lehrern, auch unter Lehrern an Förderschulen. Und seien wir ehrlich: Die Angst vor diesem Bauchgefühl ist es, die die Bildungspolitiker in vielen Bundesländern so zögerlich sein lässt bei der Umsetzung der Inklusion. Weswegen sie, was tatsächlich das Teuerste von allem ist, derzeit zwei Systeme parallel laufen lassen: die Inklusion an den Regelschulen und die traditionellen Förderschulen. 

 

Klar ist aber auch: So fährt die Politik die Inklusion im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeiung an die Wand. 

 

Dieser Beitrag erschien heute zuerst in leicht gekürzter Fassung in meiner Kolumne "Wiarda will's wissen" im Tagesspiegel. 


Abbildung von WhiteHotaru: "Stufen Schulischer Integration.svg", CC0 1.0

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Kommentare: 8
  • #1

    tmg (Montag, 26 März 2018 08:52)

    Wie kann man der völlig irrigen Auffassung seien, Inklusion würde bei nichtbehinderten Kindern zu besseren Leistungen führen? Das ist völlig absurd. Sie sollten einmal an einer Inklusionsunterrichtsstunde teilnehmen bevor sie - ohne Kenntnis der Verhältnisse - wohlfeilen Meinungsjournalismus betreiben.

  • #2

    Jan-Martin Wiarda (Montag, 26 März 2018 08:58)

    Liebe/r tmg,
    besten Dank für den engagierten Kommentar. Allerdings bitte ich genau zu lesen. Ich schreibe, das Grundversprechen der Inklusionsbefürworter laute: Ein inklusives Schulsystem wird allen Kindern gerecht, behinderten wie nichtbehinderten. "Gerecht" werden bedeutet nicht automatisch, dass nichtbehinderte Kinder dadurch bessere Leistungen erreichen. Aber der Verweis auf andere Länder zeigt: Offenbar auch nicht automatisch schlechtere. Im Übrigen bin ich fest davon überzeugt, dass Inklusion allen Kindern hilft, weil es den Blick der Schulen auf die Besonderheiten jedes einzelnen Schülers (ob behindert oder nicht behindert) schärft und das System Schule ändert.
    Im Übrigen erscheint es mir etwas leicht, gleich eine mangelnde Kenntnis der Verhältnisse zu unterstellen, wenn eine andere Meinung vertreten wird. Ehrlich gesagt habe ich angesichts Ihres Kommentars eher den Eindruck, es mit der Beschreibung des besagten "Bauchgefühls" recht gut beschrieben zu haben.
    In der Hoffnung, dass Sie meinem Blog und mir gewogen bleiben, und mit besten Grüßen
    Ihr Jan-Martin Wiarda

  • #3

    tmg (Montag, 26 März 2018 10:11)

    Lieber Herr Wiarda,

    leider argumentieren Sie erneut ungenau. Sie schreiben ''Aber der Verweis auf andere Länder zeigt: Offenbar auch nicht automatisch schlechtere (Leistungen)''. Letzteres ist eben unklar. Dass Schweden und andere Länder mit Inklusion vor Deutschland in der Pisa-Studie liegen, belegt doch nicht, dass die schulischen Leistungen nicht-behinderter Kinder durch Inklusion nicht sinken. Das wurde gar nicht untersucht. Dazu gibt es keine Studien und der gesunde Menschenverstand sagt einem bereits, dass sich das Gegenteil als wahr herausstellen würde: bei nichtbehinderten Kindern werden - im Mittel - die Leistungen sinken. Gehen Sie doch spasseshalber einmal in eine Schulstunde mit Inklusion.

    Die Chimäre der sogenannten Bildungsgerechtigkeit geistert seit geraumer Zeit in allen möglichen Varianten durch die Bildungslandschaft. Was es allerdings mit Bildungsgerechtigkeit zu tun haben soll, dass eine Randgruppe auf Kosten der Unterrichtsqualität inkludiert wird, erschliesst sich mir nicht. Das hat schon eher etwas damit zu tun, dass manche Menschen nicht in der Lage sind, die Ungerechtigkeiten auszuhalten, die mit dem Leben nun einmal verbunden sind.

    Mit den allerbesten Gruessen, TMG

  • #4

    Jan-Martin Wiarda (Montag, 26 März 2018 11:01)

    Liebe/r TMG,

    nochmals vielen Dank! Und nochmal: Ich zitiere erstens besagtes Versprechen, dass nicht auf Leistung abhebt, sondern auf "gerecht werden". Und ich sage zweitens, dass angesichts der internationalen Pisa-Ergebnisse die Annahme erlaubt ist, dass die Leistung auch der nichtbehinderten Kinder durch Inklusion nicht automatisch schlechter wird. Das ist meines Erachtens ziemlich genau argumentiert.

    Dann wiederum argumentieren Sie einerseits mit gesundem Menschenverstand, andererseits mit konkreten Erfahrungen. Für letztere bin ich immer eher zu haben als für den ersteren, weil der doch bei vielen Menschen zu recht unterschiedlichen Ergebnissen kommt. Und konkrete Erfahrungen mit inklusivem Unterricht habe ich tatsächlich immer wieder bei meinen Besuchen in Schulen vor Ort – und wenn ich Lehrern und Eltern zuhöre.

    Nichts für ungut: Gerade aus Ihrem letzten Absatz spricht doch wieder sehr viel von dem erwähnten Bauchgefühl.

    Viele Grüße
    Ihr Jan-Martin Wiarda

  • #5

    Klaus Diepold (Montag, 26 März 2018 11:03)

    Liebe/r TMG,

    "Dass Schweden und andere Länder mit Inklusion vor D"eutschland in der Pisa-Studie liegen, belegt doch nicht, dass die schulischen Leistungen nicht-behinderter Kinder durch Inklusion nicht sinken." Da müssen wir in Deutschland richtig froh sein, dass die skandinavischen Schulsystem gegen uns trotz angezogener Handbremse bei PISA immer noch vor Deutschland liegen. Man stelle sich vor, wie uns die von Inklusionsbemühungen befreiten und somit entfesselten Schüler Schwedens und Finnlands alt aussehen ließen.

    Vieles an dieser Stelle hat etwas damit was der eine oder de andere unter dem Bildungsbegriff versteht und wie sich gute/schlechte Leistung in der Schule manifestiert. Nach meiner Beobachtung haben wir in Deutschland ein Verständnis von schulischer Leistung und Bildungserfolg, der noch aus der Kaiserzeit stammt. Die ausgeprägte soziale Selektion in unserem Schulsystem ist ein weiterer Beleg dafür.

    Ich würde dafür plädieren, den "gesunden Meschenverstand" und das "Bauchgefühl" mal zu Hause zu lassen und sich ernsthaft mit den entsprechenden Herausforderungen und den zur Verfügung stehenden Faktenlage auseinanderzusetzen. Darauf aufbauend Bildungspolitik zu betreiben wäre ein Traum, der hoffentlich auch mal Realität wird.

  • #6

    tmg (Montag, 26 März 2018 18:05)

    Lieber Herr Diepold und lieber Herr Wiarda,

    träumen Sie gut.

    Beste Gruesse
    TMG

  • #7

    Lena (Dienstag, 27 März 2018 13:11)

    die Arbeit an der Inklusion ist von hinten angefangen. Wir müssen erstmal ein Schulsystem schaffen das den nichtbehinderte Kinder gerecht wird - auch davon sind wir noch weit entfernt. Die Kinder mit Behinderung zu integrieren ist der zweite große Schritt und nicht der erste. Es ist völlig verrückt Menschen mit Behinderung in eine 30 köpfige Klasse zu setzen mit der der Lehrer schon völlig überfordert ist, das wird nicht besser wenn dieser Lehrer dann auch noch einem Kind mit Behinderung gerecht werden muss. - Kommentar bezieht sich nicht wirklich auf den Artikel.

  • #8

    Susann Dohm Inklusionsbewegung Starnberg (Dienstag, 27 März 2018 22:33)

    Hallo tmg,
    ich schätze mal, Sie haben kein behindertes Kind in Deutschland, herzlichen Glückwunsch, sonst hätten sie ganz natürlich eine andere Sicht der Dinge. Sie müssen sich auch nicht hinter tmg verstecken. Es ist in Ordnung, dass sie dies so empfinden. Wenn wir nicht selbst ein behindertes Kind hätten, dann würde ich vielleicht auch so denken, weil so viele falsche Informationen zu finden sind. Denn bisher versuchen Entscheider etwas zu entscheiden und vergessen die Wichtigsten, die Eltern der behinderten Kindern mit ins Boot zu nehmen und die Eltern der nichtbehinderten Kinder und offen darüber zu sprechen. Das wäre Demokratie und mit dem Wissen was ich habe, könnte ich Ihnen erklären wie es geht und ich könnte auf jeder ihrer besorgten Fragen antworten. Leider fehlt mir ein wenig die Zeit bei drei Kindern und unserer Inklusionsbewegung.

    Sicher wirkt sich Inklusion auf ALLE Kinder positiv aus. Bei vielen nichtbehinderten Kindern hat es auch sehr positive Aspekte im sozialen Bereich. Waren Sie schon mal in einer Klasse wo Inklusion funktioniert? Ich schon und ich kann nur Positives berichten.
    Es geht auch darum, das ALLE Kinder individuell lernen dürfen. Diese leistungsorientierte Gesellschaft erdrückt viele Kinder, auch die nichtbehinderten Kinder. Kinder sollten wieder gerne in die Schule gehen dürfen und Lehrer sollten auch zufrieden sein. Dafür stimmen schon jetzt die Bedingungen nicht und das hat derzeit in Bayern überhaupt nichts mit der Inklusion zu tun, da sie überhaupt noch nicht gelebt wird (außer in wenigen Aussnahmen). Wussten Sie, dass es so und jetzt sogar noch schlimmer ist? In jeder Klasse sind ca. 5 unentdeckte Kinder mit Beeinträchtigungen und solange es keine Diagnose gibt, können die Lehrer, die Schulen keine zusätzlichen Lehrerstunden erhalten und das ist das eigentliche Problem. Weil die Eltern wie Sie Angst vor Vorurteilen haben und die Eltern von behinderten Kindern Angst, ihre Kinder könnten unter den derzeitigen schlechten Bedingungen an der Regelschule zu Grunde gehen, wird das Thema unter den Teppich gekehrt und die Kinder mit Beeinträchtigungen und die Lehrer haben die größten Probleme. Wenn wir Eltern aber versuchen es zu verändern, dann können eigentlich nur alle davon provitieren. Davon bin ich überzeugt.

    Gerne dürfen Sie mich genauer dazu befragen, da ich mich seit über 10 Jahren sehr intensiv, unzwar direkt an der Basis mit den Ängsten und Sorgen der Eltern beider Gruppen beschäftige.

    Das Hauptproblem ist bereits jetzt da ohne Inklusion. Zu wenig Geld für gute Bildung. Es ist in Deutschland nicht wichtig. Vieles wird bezahlt, aber das Wichtigste, die Kinder kommt dabei zu kurz, Behinderte wie Nichtbehinderte.

    Beste Grüße
    Susann Dohm
    Inklusionsbewegung Starnberg