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Die guten Beispiele sind da

Die Politik fährt die Inklusion nicht an die Wand. Aber auch die Gesellschaft und die Schulen müssen ihre Verantwortung wahrnehmen. Ein Gastbeitrag von Sybille Volkholz.

Foto: Max Pixel
Foto: Max Pixel

MIT DER UN-Konvention haben behinderte Menschen weltweit ihren Anspruch auf gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe verbindlich artikuliert und mit der Ratifizierung hat auch die Bundesrepublik diesen Anspruch anerkannt und sich zu seiner Umsetzung verpflichtet. Damit ist nicht nur die Politik gefordert, die Rahmenbedingungen entsprechend zu gestalten, sondern ebenso alle Bürgerinnen und Bürger, ihren Teil zu einem besseren Zusammenleben beizutragen. Es geht nicht darum "eine Randgruppe auf Kosten anderer zu inkludieren" (so ähnlich formuliert es ein Kommentator zu Jan-Martin Wiardas Artikel), sondern um ein Menschrecht, und das steht nicht zur Disposition.

 

In vielen Bundesländern hat die gemeinsame Erziehung von Kindern mit und ohne Behinderung schon lange Tradition, in Berlin hat diese Entwicklung vor mehr als 30 Jahren begonnen. Es gibt also Schulen mit einem enormen Erfahrungsschatz, die bei der Weiterentwicklung zu inklusiven Schulen helfen können. Vielfach wird in der Öffentlichkeit der Eindruck erweckt, hier solle neben der Vielzahl von Reformen der vergangenen Jahre  nun noch eine weitere oben drauf gesetzt werden.  So ist es nicht, es geht um eine kontinuierliche Weiterentwicklung. 

 

In Berlin besuchen mittlerweile mehr als 68 Prozent der Kinder mit sonderpädagogischen Förderbedarf Regelschulen. Dieser Trend hat kontinuierlich zugenommen und wird auch voraussichtlich so weitergehen. Natürlich ist die Politik gefordert, die entsprechenden Rahmenbedingungen zu setzen, das passiert auch, wenn auch nach Ansicht vieler nicht in ausreichendem Ausmaß. 

 

So erhält zum Beispiel eine dritte Klasse in der Grundschule mit einer Frequenz von 25 Schülerinnen und Schülern, davon zwei mit Förderbedarf "Geistige Entwicklung" (GE) und drei mit Förderbedarf "Lernen oder Emotional-Sozial oder Sprache" 25,5 zusätzliche Lehrerstunden neben den regulären 24 zur Erfüllung der Stundentafel. Es könnten also alle Unterrichtsstunden mit zwei Lehrkräften besetzt werden. Auf Antrag kann die Schule noch für die GE-Schüler*innen Schulhelfer zur ergänzenden Pflege und Hilfe bekommen. Und wenn die Schule Ganztagsschule ist, wie fast alle Berliner Schulen, dann haben sie noch Anspruch auf 20 Wochenstunden Unterstützung durch Facherzieher*innen für Integration. 

 

Wenn die Schule eine Schwerpunktschule zum Beispiel für Kinder mit Förderbedarf "Geistige Entwicklung", würde sie noch erheblich mehr personelle Unterstützung bekommen. Es ist allerdings die Entscheidung der Schule, wie sie die zusätzlichen Ressourcen einsetzt. Zudem erhält sie Mittel aus dem Bonusprogramm und Verfügungsfonds, die ebenfalls genutzt werden können.

 

Wie gesagt: Die Ansichten darüber, was angemessen ist, gehen auseinander. Aber es kann nicht, wie Jan-Martin Wiarda es tut, davon gesprochen werden, dass die Schulen mit dieser Entwicklung allein gelassen werden oder dass "Inklusion systematisch an die Wand gefahren" werde. Bei bundesweit 35 Prozent inklusiv beschulter Kinder ist der politische Wille zur Umsetzung der UN-Konvention offensichtlich noch sehr unterschiedlich ausgeprägt. Aber die Länder, in denen dies besser verfolgt wird, sollten beachtet werden.

 

Im letzten Bildungstrend wird die Verschlechterung der Schülerleistungen auch auf die Inklusion zurückgeführt, und Peter Meidinger, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, forderte daraufhin ein Moratorium der Inklusion. Die Frage wird gestellt, ob Kinder ohne Behinderungen in ihren Leistungen durch Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf beeinträchtigt würden.

Es hat vor Jahren auch die Diskussion gegeben, ob Mädchen ohne Jungen zu besseren Leistungen kämen. Die Diskussion ist – Gott sei Dank – wieder eingeschlafen. Fakt ist, dass Kinder und Jugendliche unterschiedlich sind und auch unterschiedlich lernen. Aber sie sind so, wie sie sind, und Aufgabe der Schule ist es, alle optimal zu fördern.

 

Für die Umsetzung der UN-Konvention sind viele verantwortlich. Politiker*innen für die Rahmenbedingungen, aber auch die Pädagog*innen vor Ort sind für die Gestaltung der Schule, für den Unterricht, den förderlichen Umgang mit Kindern und Jugendlichen verantwortlich. Zur Professionalität gehört es auch, auf gesellschaftliche Veränderungen angemessen pädagogisch zu reagieren. Es gibt eine gemeinsame Verantwortung aller Erwachsenen für das gute Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen in diesem Land. Und es gibt auch eine gesellschaftliche Verantwortung von Bürgerinnen und Bürgern, zu einem gedeihlichen Zusammenleben beizutragen. An diesen Zielen sollten wir uns alle orientieren. Und dazu kann es auch helfen, wenn positive Beispiele häufiger hervorgehoben werden.

 

Sybille Volkholz ist Grünen-Politikerin und Bildungsexpertin. Von 1989 bis 1990 war sie Bildungssenatorin in Berlin. Sie ist Vorsitzende des Fachbeirats Inklusion in der Hauptstadt.      

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Kommentare: 3
  • #1

    Mannheimer Studi (Mittwoch, 04 April 2018 11:05)

    Ich kenne Inklusion leider nicht aus eigener Anschauung, doch wenigstens aus den Erzählungen der Mutter, die sie seit 25 Jahren an einer Gesamtschule in NRW lebt. Ich bin also nicht Experte, aber hoffentlich überdurchschnittlich informiert. Die Personalbesetzung, die im Beitrag aus Berlin berichtet wird, scheint mir in etwa so hoch zu sein, wie sie es in NRW vor der flächendeckenden Einführung der Inklusion ebenfalls war. Besagte Ausweitung in die Breite (jede Schule war unter Rot-Grün Inklusionsschule; Schwarz-Gelb dreht das zurück) hat aber zu einer drastischen Ausdünnung der "Doppelbesetzung" geführt - und das auch an den Inklusionsschulen, die diese unter diesen guten Bedingungen Jahrzente gute Arbeit geleistet haben. Die Mutter hat damals entsprechend dagegen opponiert und ist von Ministerin Löhrmann als Bedenkenträgerin und Blockiererin abgetan worden, trotz des "enormen Erfahrungsschatzes", den auch die grüne Autorin lobt. Man muss wohl feststellen, dass die Bildungspolitik nicht nur in Partikularismus zersplittert ist, sondern sich die Kompetenz für dieses wichtige Thema nicht an das Parteibuch gebunden fühlt.

  • #2

    Siegfried Arnz (Mittwoch, 04 April 2018 16:42)

    Ich unterstütze die Ausführungen von Sybille Volkholz nachdrücklich und ohne Einschränkung! Danke!

  • #3

    anne (Donnerstag, 05 April 2018 15:56)

    Es stimmt, dass die Umsetzung des gemeinsamen Unterrichts an vielen Schulen gut funktioniert. Aber noch 1-2 Ergänzungen zu den Ausführungen von Frau Volkholz: Auch in Berlin gibt es das Phänomen, dass immer mehr SchülerInnen einen sonderpädagogischen Förderbedarf diagnostiziert bekommen. Damit steigt automatisch die Integrationsquote, jedoch zeigt sich, dass die Exklusionsquote (Anteil derjenigen, die an Förderschulen unterrichtet werden) nur wenig sinkt. Insofern ist die Frage, ob dies wirklich ein guter Indikator ist, um die Umsetzung von Inklusion/Integration zu messen.

    Des weiteren ist auch die Frage, inwiefern die veranschlagten Ressourcen tatsächlich für den gemeinsamen Unterricht genutzt werden. Viele Berliner Lehrkräfte berichten, dass diese Zusatzstunden dazu genutzt werden, um den bereits vorhandenen Lehrkräftemangel z.B. aufgrund von Krankheitsfällen, auszugleichen, aber diese Stunden nicht für den gemeinsamen Unterricht genutzt werden.