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"Der Zeitdruck ist hoch"

Vor einem Monat stand Berlins Bildungssenatorin Sandra Scheeres mit dem Rücken zur Wand. Dann rief sie bei Olaf Köller an. Der Bildungsforscher soll mit seiner Expertenkommission Berlins Schulen den Weg aus der Krise weisen. Kann das gelingen? Ein Interview.

Olaf Köller. Foto: privat.

Herr Köller, Ihnen eilt der Ruf voraus, einer der herausragenden Bildungsforscher in Deutschland zu sein. Sie müssen niemandem etwas beweisen. Warum haben Sie sich trotzdem auf ein Himmelfahrtskommando eingelassen?

 

Ich kann kein Himmelfahrtskommando erkennen.

 

Berlins Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) stand vor vier Wochen massiv unter Druck, der Landeselternausschuss drohte, angesichts des erneut massiven Lehrermangels zu Schuljahrsbeginn die Zusammenarbeit mit ihr aufzukündigen. Viele Beobachter rechneten mit dem Rücktritt der umstrittenen Senatorin. Bis Scheeres verkündete: Olaf Köller wird mein Berater.

 

Die Senatorin hat mich angerufen und gefragt, ob ich eine Expertenkommission zur Verbesserung der Schulqualität leiten würde. Ein ähnliches Projekt habe ich vergangenes Jahr in Hamburg begleitet. Da war es für mich folgerichtig, dass ich auch in Berlin zusage. Als Wissenschaftler kann man sich nicht einfach rausreden und sagen: Die konkreten Probleme in der Welt sind die der Politik, nicht die der Wissenschaft. Das ist meine persönliche Überzeugung und auch das Motto der Leibniz-Gemeinschaft, zu der mein Institut gehört: "Theoria cum praxi".

 

"Wenn die Senatorin schon handeln musste, 

war das doch ein kluger Schritt"

 

Aber Sie haben der Senatorin doch vorerst den Kopf gerettet. Fühlen Sie sich nicht politisch instrumentalisiert?

 

Ich würde es anders interpretieren. Die extrem große Unzufriedenheit in und mit den Berliner Schulen hat die Senatorin zum Handeln gezwungen. Und wenn sie schon handeln musste, war es doch ein kluger Schritt, sich Expertise und Unterstützung aus der Wissenschaft zu holen. Als Wissenschaftler mache ich keine Politik, als Wissenschaftler will ich helfen, das Bildungssystem einer Stadt, das viele Probleme hat, aber auch großes Potenzial, besser zu machen. >>


Illustre Runde

Olaf Köller ist Professor für Empirische Bildungsforschung an der Universität Kiel und Direktor des Leibniz-Instituts für Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik. Heute trifft sich seine Expertenkommission zum ersten Mal, mit dabei sind unter anderem  die 

Schulpädagogin Felicitas Thiel von der FU Berlin, Michael Becker-Mrotzek vom Mercator-Institut für Sprachförderung, der ehemalige Hamburger Staatsrat Michael Voges und der DIPF-Forscher Kai Maaz, Sprecher der Autorengruppe Bildungsbericht.



 

>> Noch bevor es losging, gab es Aufregung. Die CDU-Opposition teilte vor zwei Wochen mit, die "vollmundig angekündigte Qualitätskommission" der Senatorin scheine bisher nur auf dem Papier zu stehen. Sie hätten eine Einladung zur Anhörung im Bildngsausschuss abgesagt, Begründung: Die Kommission stehe "noch nicht einmal im Ansatz". Was war das los?

 

Ich musste den Termin absagen, weil ich an dem Tag eine nicht verschiebbare Sitzung in der Universität Kiel hatte. 

 

Heute trifft sich die von Ihnen geleitete Kommission nun zum ersten Mal. Die Senatorin ist aber schon seit 2011 im Amt. Eine reichlich späte Erkenntnis, dass sie Unterstützung braucht?


Klar, die Einsetzung einer Expertenkommission kommt sehr spät. Aber eines will ich auch mal sagen: Die Misere der Berliner Schulen war schon da, bevor Frau Scheeres Senatorin wurde. Spätestens seit der Pisastudie von 2003 und dem folgenden Vergleich der Bundesländer wissen wir, dass Berlin, was die Schulqualität angeht, anderen erheblich hinterherhinkt. Das mag teilweise mit der demografischen Zusammensetzung der Schülerschaft zusammenhängen, aber sich auch mit nicht gut funktionierenden Strukturen.

 

"Dass wir keinen Trend nach oben beobachten,
heißt nicht, dass nichts passiert ist"

 

Frau Scheeres hat die Misere geerbt, sie hat es aber auch in acht Jahren nicht vermocht, die Situation zu verbessern.

 

Wir können in den vergangenen Jahren keinen Trend nach oben beobachten, das ist richtig. Was aber nicht heißt, dass seit 2003 nichts passiert ist. Im Gegenteil: Die von mir geleitete Expertenkommission trifft auf ein Bildungssystem, das relativ viele vernünftige Reformen durchlaufen hat. Jetzt kommt es darauf an sicherzustellen, dass die Erträge der Reformen bei den Schülerinnen und Schülern ankommen.

 

Das klingt paradox. Viele gute Reformen, aber nichts ist besser geworden?

 

Nehmen wir die Reform der Schulstruktur in der Sekundarstufe I, die Einführung des Zwei-Säulen-Systems. Als Bildungsforscher sind wir uns alle einig, dass die Fusion der nichtgymnasialen Schulformen der richtige Schritt ist, in Berlin und anderswo, um insbesondere die weniger leistungsstarken Schüler besser fördern zu können. Die Einführung der Integrierten Sekundarschule in Berlin war also richtig. Doch wird Schule nicht allein dadurch besser, dass sie draußen ein anderes Schild an die Tür schrauben. Dafür müssen Sie zugleich die Lehrkräfte in die Lage versetzen, auch bei einer veränderten Schülerschaft qualitativ hochwertigen Unterricht machen zu können. Hinter jeder Reform stehen Menschen, die man weiter professionalisieren muss, damit sie mit der Reform umgehen können. Eigentlich eine triviale Erkenntnis.

 

Das klingt nach einem harschen Vorwurf an die Adresse von Scheeres und ihrem Vorgänger Jürgen Zöllner.

 

Es handelt sich hier aber nicht um eine Berliner Besonderheit, sondern um ein generelles Problem der Bildungspolitik, das wir seit Jahrzehnten beobachten: Eine Veränderung der Schulstruktur führt isoliert zu keinerlei Verbesserung des Unterrichts. Auch wenn Schulen mehr Autonomie, also mehr Eigenständigkeit erhalten, wenn sie ihre eigenen Lehrpläne und Programme aufstellen dürfen, ist das schön, bringt aber nur etwas, wenn wir die Lehrkräfte parallel so professionalisieren, dass sie die neuen Möglichkeiten vernünftig nutzen können. Wir reden von massiven Investitionen in die Fort- und Weiterbildung.

 

"Mein Eindruck ist nicht, dass es im
Berliner Schulsystem an Geld mangelt"

 

Wir reden also von deutlich mehr Geld?

 

Mein Eindruck ist nicht, dass es im Berliner Schulsystem an Ressourcen mangelt. Mit Ausgaben von 8900 Euro pro Schüler liegt die Hauptstadt auf Platz eins im Bundesvergleich. Doch offenbar klappt das Zusammenspiel der Akteure noch nicht optimal.

 

Viel Geld, und die Abläufe funktionieren nicht? Wenn eines die Verantwortung der Senatorin ist, dann doch wohl das!

 

Wir sollten aufhören, den Schwarzen Peter immer nur der Politik zuzuschieben. Nicht alle Probleme lassen sich durch Top-Down-Ansagen lösen. Wir müssen auch fragen, wie sich die Zusammenarbeit der Schulen mit dem Landesinstitut für Schule und Medien, dem LISUM, optimieren lässt. Ist zum Beispiel der starke Fokus des LISUM auf die Fortbildung von Führungskräften so angemessen? Was kann umgekehrt die Schulaufsicht leisten? Auch das Institut für Schulqualität (ISQ) ist möglicherweise nicht so eingebunden in die Kommunikation, wie es sein sollte.

 

Wie meinen Sie das?

 

Das ISQ erhebt zum Beispiel allerlei Daten in den Schulen, doch mir ist nicht wirklich klar, was sie dann eigentlich mit den Daten anstellen. Systematische Erhebungen sind dann sinnvoll, wenn man das Wissen der unterschiedlichen Akteure anschließend richtig verknüpft und so für eine systematische Schulentwicklung einsetzt – und für die Professionalisierung der Lehrkräfte. Wenn wir alle Informationen zusammenbringen, wird es auch möglich, den politischen Handlungsbedarf zu priorisieren, anstatt alles irgendwie gleichzeitig machen zu wollen.

 

Als Scheeres‘ Vorgänger Jürgen Zöllner 2011 aufhörte, ein echter Star der Bildungspolitik, mutmaßten viele, jetzt habe die Berliner Bildungsverwaltung sogar Zöllner kleingekriegt.

 

Wenn Sie damit sagen wollen, die unterschiedlichen Player in der Berliner Bildungslandschaft und in der Verwaltung hätten schon viele Senatoren überlebt, dann kann ich dem nicht widersprechen. Deshalb besteht ja unsere größte Herausforderung darin, sie alle an einen Tisch zu setzen. Ich will nicht behaupten, dass ich mich wirklich schon mit den Berliner Machtstrukturen auskenne, aber ich bin sicher, genau das ist die einzige Chance, die wir haben: die unterschiedlichen Systeme in einen vernünftigen Informationsaustausch miteinander zu bringen.

 

"Die Sitzung der Kommissionen sollen
auf keinen Fall in ewiges Palaver ausufern"

 

Ist das auch der Grund, warum es neben der Kommission der Expertenkommission eine Praxiskommission geben soll? Sitzen da all die zu bearbeitenden Akteure drin?

 

Als Expertenkommission werden wir zunächst den Status Quo erarbeiten, eine ehrliche Bestandsaufnahme der Stärken und Schwächen des Berliner Schulsystems. Daraus werden wir eine Reihe von Empfehlungen ableiten. Die Praxiskommission werden wir dann um Rückmeldungen zu unserer Bestandsaufnahme, aber auch zu unseren Empfehlungen bitten. Ihre Mitglieder können uns zum Beispiel sagen, ob wir etwas im komplexen Berliner System übersehen haben. Die Sitzungen der Kommissionen sollen auf keinen Fall in ein ewiges Palaver ausufern, aber es ist schon wichtig, dass wir einen Konsens über die gegenwärtige Situation und die Optionen erzielen.

 

In der Praxiskommission sitzen Vertreter von Landeschulbeirat, von Landeseltern- und Landesschülerrat und des Landesausschusses für das pädagogische Personal. Außerdem das LISUM, das ISQ, das Sozialpädagogische Fortbildungsinstitut, die GEW, die Unternehmensverbände, die Kinder- und Schülerläden, Vertreter der Schulaufsicht, von Schulleitungen und der Senatsverwaltung für Bildung. Mal ehrlich: Fürchten Sie nicht, dass das Interesse einiger Akteure vor allem darin besteht, Ihre Empfehlungen von vornherein klein zu schleifen?

 

Das kann ich mir nicht vorstellen. Es ist auch nicht so, dass der Abschlussbericht von allen geschrieben wird. Sondern es ist klar geregelt: Die Expertenkommission verfasst und verantwortet die Empfehlungen. Sicherlich werden wir die Rückmeldungen einarbeiten. Es wird aber nicht unsere Aufgabe sein, das, was die Praxiskommission uns einflüstert, zu Papier zu bringen. Meine Erfahrung aus Hamburg sagt mir ohnehin: Es wird gar keinen großen Dissens geben.

 

Wirklich nicht? Sagten Sie nicht, dass die Akteure bislang zu wenig kommunizieren? Vielleicht hatten sie ja gar kein Interesse, an einem Strang zu ziehen.

 

Doch, das haben sie, da bin ich mir ganz sicher. Wir können aber alle dazulernen, wie es besser gehen kann. In der Vergangenheit sind viele richtige Forderungen gestellt worden, aber alle gleichzeitig, so dass am Ende zu wenig richtig umgesetzt wurde. Da müssen wir auch als Expertenkommission aufpassen, dass wir nicht mit 50 Empfehlungen herauskommen, sondern dass wir klare Prioritäten benennen, damit sich auch schnell sichtbare Erfolge erzielen lassen.

 

"Große Sammellisten mit zu vielen
Empfehlungen überfordern das System"

 

Das Qualitätspaket, das Senatorin Scheeres erst Anfang des Jahres geschnürt hatte, sollte ihr auch schon mal Luft verschaffen. Erstellt hat es offenbar allein ihre Verwaltung, und am Ende kamen 39 Punkte dabei raus.

 

Und Frau Scheeres‘ Vorgänger Zöllner hatte mal ein Programm mit 30 Punkten. Das funktioniert so nicht. Nicht dass Sie mich falsch verstehen: In dem Qualitätsprogramm von Frau Scheeres stecken viele richtige Ansätze drin, zum Beispiel die Stärkung von Deutsch- und Mathematikunterricht. Doch die wichtigen Punkte gehen unter zwischen anderen Zielen, die meines Erachtens weniger zentral, auf jeden Fall nicht so prioritär zu behandeln sind. Das ist immer die Gefahr von großen Sammellisten, dass man sich nicht auf das Wesentliche konzentriert und das System überfordert. Die Zahl unserer Empfehlungen wird sich daher im einstelligen Bereich bewegen, ich sage mal: Es werden so fünf bis neun sein. Und sie werden so gestaltet sein, dass man sie in vertretbarer Zeit umsetzen kann. Genauso haben wir das in Hamburg auch gemacht.

 

Wie schnell ist "in vertretbarer Zeit"?

 

Der Zeitdruck ist natürlich hoch. Mein Ziel ist, dass wir noch in diesem Jahr erste zu priorisierende Empfehlungen vorlegen und versuchen, Ende des ersten Quartals oder im zweiten Quartal 2020 unseren Bericht fertig zu haben. Bis dahin werden sich die Experten sicherlich fünf- bis zehnmal treffen, damit verschränkt wird es Sitzungen mit der Praxiskommission geben.

 

Was genau wollen Sie eigentlich noch herausfinden? Eigentlich wissen doch alle, was im Moment den Kern der Berliner Misere ausmacht. Es fehlen tausende ausgebildeter Lehrer, die Politik hat die Bedarfsplanung in den Sand gesetzt und muss nun auf unzureichend vorbereitete Seiteneinsteiger zurückgreifen. Daran werden Sie auch als Expertenkommission wenig ändern können.


Moment! Das Problem der Seiteneinsteiger hat nicht nur Berlin. Die Frage ist auch hier, wie ich damit umgehe. Begleite ich die Seiteneinsteiger so, dass sie ihren Job gut machen können?

 

"Der Spirit, der in Hamburg alle zusammengeführt hat, 

ist auch in Berlin möglich"

 

In Berlin werden diese Lehrkräfte nach einem vierwöchigen Crashkurs in die Schulen geschickt.

 

Und das ist vermutlich zu kurz. Noch wichtiger ist, dass wir eine berufsbegleitende Ausbildung brauchen, wozu man sehen muss, ob man die nötigen Freiräume in Form von Stundenermäßigungen schaffen kann. Genau zu dieser Frage, zur Frage der langfristigen Professionalierung der Seiteneinsteiger, werden wir sicherlich eine Empfehlung vorlegen.

 

Und wenn Sie am Ende doch scheitern, wenn Sie schöne Empfehlungen beschließen, die nichts ändern? Wenn selbst ein Olaf Köller sich an Berlin die Zähne ausbeißt?

 

Der Spirit, der in Hamburg alle zusammengeführt hat, ist auch in Berlin möglich. Ich glaube, dass alle Akteure an einem Strang ziehen können, dass sie alle an einem Strang ziehen wollen, von den Lehrerverbänden über die Senatsverwaltung und die Opposition bis hin zu den Landesinstituten. Jeder in Berlin muss ein Interesse daran haben, dass es endlich aufwärts geht mit den Berliner Schulen. Die Arbeit in den Kommissionen wird umso leichter werden, wenn sich dieser Spirit durchsetzt. Und wenn es doch schiefgeht? Ich habe keine Prognose, was dann ist. Ich weiß nur, dass das sehr schade wäre angesichts des großen Potenzials, das Berlin hat, und angesichts der Strukturen, die die Bildungspolitik bereits geschaffen hat.

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