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Leopoldina legt Stellungnahme zu Coronavirus vor

Die Nationalakademie der Wissenschaften empfiehlt einen dreiwöchigen deutschlandweiten Shutdown – und warnt zugleich vor den Folgen einer längeren weitgehenden Stilllegung des öffentlichen Lebens in Deutschland.

Foto: Christian Schwägerl.

DIE NATIONALAKADEMIE LEOPOLDINA hat heute Empfehlungen zum Umgang mit der Coronavirus-Pandemie vorgelegt. Im Kern rät sie zu einem deutschlandweiten Shutdown von etwa drei Wochen, der verbunden mit "konsequenter räumlicher Distanzierung aus wissenschaftlicher Sicht" geboten sei. Des Weiteren heißt es in der Stellungnahme: "Alle Anstrengungen der nächsten Wochen und Monate sollten darauf gerichtet werden, dass pharmazeutische Interventionen und Schutzmaßnahmen im öffentlichen Raum verfügbar werden und Kapazitäten zur Testung von Verdachtsfällen und Einreisenden vorhanden sind." In der Zeit des etwa dreiwöchigen Shutdowns müssten Vorbereitungen für das kontrollierte und selektive Hochfahren des öffentlichen Lebens und der Wirtschaft getroffen werden. 

 

Im Mittelpunkt müsse der Schutz der besonders durch Corona gefährdeten Menschen stehen. Deshalb müsse eine massive Überlastung des deutschen Gesundheitssystems bestmöglich verhindert oder zumindest abgemildert werden, um die notwendige intensivmedizinische Versorgung zu gewährleisten.

 

Von einer kompletten Ausgangssperre, wie sie zurzeit auch diskutiert wird, halten die Forscher offenbar wenig. Notwendige und gesundheitserhaltende Aktivitäten müssten auch während des Shutdowns möglich bleiben, steht in der Stellungnahme. In der die Stellungnahme begleitenden Pressemitteilung wird zusätzlich erläutert: Mit einem "temporären Shutdown" sei eine "bundeseinheitliche stringente Ausgangsbeschränkung bis mindestens nach Ostern" gemeint. Dann wäre die Situation neu zu evaluieren. Das geforderte Shutdown bedeute kein Arbeits- oder Einkaufsverbot und auch "keine Unterbindung von Spaziergängen im Familienkreis". 

 

Gleichzeitig warnen die Forscher vor einer längeren umfassenden Stilllegung des öffentlichen Lebens. Es sei derzeit von einer Entwicklungszeit von mindestens vier bis sechs Monaten für Medikamente und von neun bis 12 Monaten für Impfstoffe auszugehen. Dabei sei zu bedenken, "dass die weitgehende Stilllegung des öffentlichen Lebens aufgrund der zu erwartenden, mitunter gravierenden sozialen und ökonomischen Konsequenzen sowie der möglichen negativen physischen und psychischen Auswirkungen auf die Gesundheit nicht über einen so langen Zeitraum aufrechterhalten werden kann".

 

Katja Becker, Christian Drosten und
Heyo Kroemer unter den Unterzeichnern 

 

Der dreiwöchige Shutdown, zu dem die Leopoldina rät, würde in etwa mit der bislang geplanten Dauer der generellen Schulschließungen korrespondieren. Zu der überwiegend aus Medizinern bestehenden Arbeitsgruppe, die die adhoc-Stellungnahme in Rekordzeit erarbeitet hat, gehören unter anderem DFG-Präsidentin Katja Becker, die eine hoch dekorierte Molekularbiologin ist, der Charité-Virologe Christian Drosten, Leopoldina-Präsident Gerald Haug und Charité-Vorstandvorsitzender Heyo Kroemer. 



Am morgigen Sonntag wollen die Ministerpräsidenten mit der Bundeskanzlerin über weitergehende Maßnahmen beraten. Die Stellungnahme der Nationalakademie, die sich zuletzt häufiger in politisch brisanten Fragen zu Wort gemeldet hatte, wird hierbei sicherlich eine wichtige Rolle spielen – die Bedeutung der wissenschaftlichen Expertise für die Entscheidungen der Politik hatte Kanzlerin Merkel zuletzt in ihrer Fernsehansprache am Mittwoch betont. Vor allem wurde in den den Leopoldina-Empfehlungen deutlich, dass die Forscher einen weitgehenden Shutdown zum jetzigen Zeitpunkt für geboten halten – allerdings nur mit einer Befristung.

 

Handlungsempfehlungen müssten, wann immer
es neue Erkenntnisse gebe, angepasst werden

 

Auch zur Datenlage äußern sich die Wissenschaftler. Für die Wirksamkeit und Notwendigkeit der unterschiedlichen Maßnahmen gebe es "wissenschaftliche Hinweise, andere werden aufgrund von Hochrechnungen und politischen Überlegungen vorgeschlagen".  Später heißt es: "Die hochdynamische und so noch nicht da gewesene Situation" berge Unsicherheiten und erforderte unkonventionelle Lösungen, deren Auswirkungen und nicht intendierte Nebenwirkungen in ihrer Tragweite größtenteils nicht vollständig vorhergesehen werden könnten. "Hier ist eine Wissenschaft und kontinuierlich abgestimmte Vorgehensweise notwendig", appelliert die Leopoldina an die Politik. "Die Wissensgrundlage ändert sich ständig, und Handlungsempfehlungen müssen im Licht neuer Erkenntnisse angepasst werden."

 

Die Coronavirus-Pandemie, endet die Leopoldina-Stellungnahme, habe "die Welt, wie wir sie kennen, innerhalb kürzester Zeit grundlegend verändert." Wenn Gesellschaft, Wirtschaft, Politik und Wissenschaft nun an einem Strang zögen und zielgerichtet auch zu unkonventionellen Lösungen bereit seien, "werden wir auch diese Herausforderung meistern." Die Leopoldina werde diesen Prozess aktiv begleiten.

 

Bundesforschungsministerin Anja Karliczek (CDU) bezeichnete die Leopoldina-Empfehlungen als "wertvollen Beitrag". Wissenschaftlicher Rat sei "in diesen überaus dynamischen Wochen und Monaten mehr denn je gefragt". Das BMBF unterstütze die Corona-Forschung mit Hochdruck. Weiter sagte Karliczek: "Es geht darum, die Biologie des Virus besser zu verstehen und die Forschung nach einem Impfstoff und nach geeigneten Medikamenten für die von ihm ausgelöste Lungenerkrankung voranzutreiben."  Der CDU-Forschungspolitiker Stefan Kaufmann sagte, er sei sich sicher, dass Bundeskanzlerin und Ministerpräsidenten morgen den Rat der Lepoldina zum deutschlandweiten temporären Shutdown beherzigen würden. Brandenburgs Wissenschaftsministerin Manja Schüle (SPD) kommentierte auf Twitter, der intensive Austausch zwischen Wissenschaft und Politik sei insbesondere in dieser Krise der Schlüssel, sie zu meistern. "Diese Stellungnahme sollten wir sehr ernstnehmen."

 

Hier geht es zum Volltext der Leopoldina-Stellungnahme.



Was noch in der Stellungnahme steht

Der Dreiklang, den die Wissenschaftler der Leopoldina-Arbeitsgruppe für die nächsten Monate empfohlen haben, lautet: "Eindämmung der Epidemie, Schutz besonders gefährdeter und systemrelevanter" Personengruppen und eine gezielte Kapazitätserhöhung im medizinischen Versorgungssystem, sprich: mehr Intensivbetten, mehr Beatmungsplätze.

 

Zur Eindämmung der Epidemie gehören neben dem geforderten temporären Shutdown unter anderem auch ein Ausbau der Test- und Labormöglichkeiten und, damit die vorhandenen Testkapazitäten bestmöglich eingesetzt werden, deren Steuerung durch eine zentrale Datenplattform. 

 

Auch der beschleunigten Entwicklung von Medikamenten und Impfstoffen und der "Dynamisierung" der notwendigen Zulassungsverfahren messen die Wissenschaftler wenig überraschend eine besondere Bedeutung zu. Zudem fordern sie "breite und altersgerechte Aufklärungskampagnen über Medien", was die Erkrankung, ihre Ausbreitungswege und die gebotenen Eindämmungsmaßnahmen angeht. Auch solle die wissenschaftliche Expertise genutzt werden, um die Akzeptanz der notwendigen Maßnahmen zu erhöhen und um die psychischen und physischen Folgen des Shutdowns und der räumlichen Distanzierung abzufedern. Schließlich sollten Stigmatisierungen von Erkrankten verhindert werden.


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Kommentare: 5
  • #1

    Regina (Sonntag, 22 März 2020 03:21)

    Flatten the curve is the only
    thing we want to achieve through temporary social distancing.

  • #2

    Dr. Hartmut Bredereck (Sonntag, 22 März 2020 14:19)

    Der Leipoldina- Präsidend Haug ist kein Mikrobiologen, sondern Klimaforscher. Nach Amtspbernahne hatte er nichts eiligeres zu tun, als sich der FfF- Bewegung anzubiedern...

  • #3

    Jan-Martin Wiarda (Sonntag, 22 März 2020 14:23)

    Danke für den Hinweis! Die falsche fachliche Zuordnung bei Herrn Haug war gestern der Eile geschuldet. Bitte entschuldigen Sie den Fehler. Wird korrigiert. Beste Grüße!

  • #4

    Utz Lang (Sonntag, 22 März 2020 20:24)

    Die Leopoldina empfiehlt also, bildlich gesprochen, dass man beim Abstieg in den dunklen Keller sehr langsam gehen, den unbekannten Weg hinab laufend erkunden soll, bis man (hoffentlich) den erhellenden Lichtschalter findet.

  • #5

    Hartmut Bredereck (Montag, 23 März 2020 13:10)

    Ich möchte mich für den stark fehlerhaften Kommentar entschuldigen. Ich habe ihn unter widrigen Bedingungen ins Smartphone eingetippt.