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Ein neues Miteinander an den Hochschulen

Ein "Nichtsemester" wegen Corona? Warum die Petition dazu
so wichtig ist – und warum darin eine Chance steckt, die über
die Krise hinausreicht.

Foto: Screenshot der Petition.

DER ZUG SCHEINT nicht mehr aufzuhalten, und das ist gut so. Es ist gerade mal eine Woche her, dass Ulrich Radtke, Rektor der Uni Duisburg-Essen und Vizepräsident der Hochschulrektorenkonferenz (HRK,) im Deutschlandfunk ein "Nichtsemester" ins Gespräch brachte. Drei Professorinnen griffen die Idee auf und entwickelten sie über einen Offenen Brief zur Online-Petition weiter. Letzter Stand: 2400 Unterzeichner, Unterstützung unter anderem auch von Studierendenverbänden wie dem fzs und der Bildungsgewerkschaft GEW. 

 

Auch Politiker und Wissenschaftsorganisationen schlossen sich der Forderung an. Der Sprecher für Forschung, Wissenschaft und Hochschule der grünen Bundestagsfraktion, Kai Gehring, schrieb in einem Brief an Bundesbildungsministerin Karliczek: "Ferner ist zu prüfen, ob das laufende Semester für Studierende nicht auf die Regelstudienzeit angerechnet wird und sich entsprechend nicht negativ auf die Bafög-Bezugsdauer auswirkt." Und Berlins Wissenschaftsstaatssekretär Steffen Krach (SPD) sagte im Interview hier im Blog, er würde lieber von einem "Kreativ-Semester" sprechen, "in dem alle Seiten aber vor allem sehr kulant und fair miteinander umgehen sollten", dazu gehöre für ihn auch, "dass dieses Semester beim BAföG nicht als regulär gewertet werden darf". Woraus für ihn folge, "dass wir allerlei Fristen verlängern müssen, von der Hausarbeit, über Abschlussarbeiten und Prüfungen, bis hin zu Promotionsfristen, Tenure-Track-Verfahren, Forschungsprojekten, und Stipendien." 

 

Leistungspunkte: ja. 

Existentielle Ängste: nein.

 

Auch die HRK führte gestern per Pressemitteilung die von ihr selbst ausgelöste Debatte weiter, Vizepräsident Radtke bekräftigte: "Ein Nachteilausgleich, etwa durch Nicht-Anrechnung des Semesters auf die Studienzeit oder durch die Verschiebung von Prüfungszeitpunkten, ist für alle Studierenden, besonders aber für sozial schwächere oder durch Pflege und Erziehung gebundene Studierende überaus wichtig." Grundsätzlich müsse das Sommersemester 2020 aber unbedingt als regulärer Teil des Studiums oder der Qualifizierung anerkannt werden. 

 

Der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) sprang der HRK bei. Das Sommersemester, das "im gesellschaftlichen Ausnahmezustand" stattfinden werde, solle nicht auf BAföG- oder Regelstudienzeit angerechnet werden, da wegen der Corona-Epidemie absehbar keine normale Präsenzlerhe möglich sein werde. DAAD-Präsident Joybrato Mukherjee sagte: "Wir würden die aktuellen Vorschläge zudem als Optionssemester benennen wollen, das im Gegensatz zum obligatorischen Regelsemester vielfältige Möglichkeiten bietet, digitale Lehr- und Prüfungsformate zu erproben und bereits vorhandene Formate auszubauen." Die internationalen Studierenden in Deutschland müssten in ihrer sozialen Lage besonders in den Blick genommen werden, dafür sollten die Hochschulen vom Staat Mittel erhalten, um  besonders betroffenen Personen ein "Überbrückungsgeld" zahlen zu können. 

 

Nichtsemester, Kreativsemester, Optionssemester: Wenn der Wettstreit um die Umsetzung der Idee nur halb so engagiert wird wie der um ihre Bezeichnung, dann könnte dieser in der Geschichte des wiedervereinigten Deutschlands einmalige Studienabschnitt sogar zum Gewinn für alle Beteiligten werden. Ganz in dem Sinne, wie es die Erstautorinnen in ihrer "Nichtsemester"-Petition formuliert haben: "Studierende sollen selbstverständlich die Möglichkeit haben, Leistungspunkte erwerben, Prüfungen zu absolvieren und Abschlussarbeiten zu schreiben. Doch: "Nur wenn das Semester nicht (regulär) zählt, ist gesichert, dass denjenigen, die die schlechtesten Voraussetzungen haben oder im Verlauf des Sommers neuen Belastungen ausgesetzt sein werden, keine Nachteile entstehen." 

 

Wenn die existentiellen Ängste weg sind, dann können alle aufspielen und ganz so, wie Mukherjee es beschreibt, die "vielfältigen Möglichkeiten", die sich in dieser Ausnahmesituation bieten, "zu erproben". Aber nur dann. Weshalb jetzt die Wissenschaftspolitiker in allen Bundesländern und auf Bundesebene gefragt sind. Sie müssen die rechtlichen und finanziellen Voraussetzungen für das "Nichtsemester" schaffen. Gefragt sind auch RektorInnen überall im Land. Sie sollten dem Fingerzeig "ihrer" HRK folgen und  gemeinsam mit ihren Hochschulen ausbuchstabieren, was ein "Kreativsemester" in den nächsten Wochen und Monaten ausmachen kann. 

 

Was die Petition zusätzlich so wertvoll macht,
ist das Selbstverständnis der Unterzeichnerinnen

 

Gemeinsam mit ihren Hochschulen: Denn was den Offenen Brief, die Petition und all die darunter geleisteten Unterschriften zusätzlich wertvoll macht, ist auch das Selbstverständnis der Professorinnen, das darin zum Ausdruck kommt. Zunächst betonen sie, dass sie sich als verbeamtete Professorinnen ihrer Privilegien und Verantwortung in dieser Krise bewusst seien. Weshalb sie sich nicht für sich selbst starkmachen, sondern für all diejenigen, die, wie sie schreiben, "am stärksten" belastet seien: "erwerbstätige Studierende, Studierende und Lehrende mit Care-Verpflichtungen, ausländische Studierende mit Visums- und Aufenthaltsauflagen, prekär und befristet Beschäftigte in den Hochschulen." Und die Initiatorinnen schließen ihre Petition mit einem Versprechen: "Selbstverständlich kommen wir als Lehrende unseren Pflichten gern und unter Einsatz all unserer Kräfte nach."

 

Die drei engagierten Professorinnen heißen Paula-Irene Villa Braslavsky, Andrea Geier und Ruth Mayer. Doch zum Glück gibt es viele, sehr viele wie sie im Lande. Mit ihnen kann ein Aufbruch gelingen, der sogar die Coronakrise überdauern könnte. An dessen Ende ein neues Miteinander an den Hochschulen stünde. Eine schöne Fantasie? Vielleicht –aber gerade in diesen Tagen muss auch eine solche erlaubt sein.


Neue BAföG-Regeln für Studentenjobs im Sozialbereich

In einer ersten Reaktion auf die "Nichtsemester"-Petition verwies das BMBF auf die bereits ergriffenen ersten Maßnahmen. Man prüfe "laufend", was  noch nötig sei, um die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie für die Studierenden weiter abzufedern. 

 

Bereits gestern hatte Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU)  in einem Brief an alle Bildungs- und Wissenschaftsminister die krisenbedingten BAföG-Änderungen erläutert. Die Bewältigung der COVID-19-Pandemie sei die "in alle Lebensbereiche vordringende, größte Herausforderung der noch jungen Geschichte der Bundesrepublik Deutschland", schrieb sie.

 

Eine Vielzahl an Auszubildenden und Studierenden sei in besonderer Weise von den Einschränkungen des öffentlichen Lebens betroffen. Deshalb habe sie schon vor zwei Wochen klargestellt: Auch wenn Schulen und Hochschulen geschlossen seien, erhielten BAföG-Geförderte weiter ihr Geld. "Niemand soll sich wegen der Corona-Pandemie um seine BAföG-Förderung Sorgen machen müssen." Auch für Auszubildende und Studierende, die sich mit BAföG-Förderung im Ausland aufgehalten hätten oder immer noch dort seien, sehe der entsprechende Erlass "zahlreiche Erleichterungen" vor.

 

Besonders lobt Karliczek alle jungen Menschen, die sich derzeit "im Gesundheitsbereich und in sozialen Einrichtungen" engagierten. Für die BAföG-Empfänger unter ihnen dürften keine Nachteile entstehen, wenn sie für ihre so wichtige Arbeit eine Bezahlung erhielten. "Deshalb wollen 

wir das BAföG anpassen." Normalerweise ist es so, dass Einkünfte bei BAföG-Empfängern auf das ganze Jahr angerechnet werden und je nach Höhe  die BAföG-Zahlungen des gesamten Jahres schmälern. Künftig soll das zusätzliche Gehalt aus Jobs in Medizin und Pflege nur noch die BAföG-Zahlungen in denjenigen Monaten schmälern, in denen die jungen Leute tatsächlich arbeiten. Das Kabinett habe die Gesetzesänderung am Montag beschlossen, wenn Bundestag und Bundesrat zustimmten, so Karliczek, könne die Regelung rückwirkend zum 1. März in Kraft treten

 

Studierendenverbänden geht diese Lösung indes nicht weit genug. Der Bundesverband der Pharmaziestudierenden in Deutschland (BPhD) schrieb heute in einem Offenen Brief an Karliczek und Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU), Spahn habe auf der Pressekonferenz am 23. März gesagt: "Wer mit anpackt im Kampf gegen das Virus, dem wird seine Entlohnung, die er dafür bekommt, nicht auf das BAföG angerechnet." Die vom Bundeskabinett beschlossene Regelung sei nun aber eine andere. "Wir bitten Sie daher um eine schnelle Klarstellung, mit welcher Regelung die Studierenden zu rechnen haben, und fordern Sie auf, den Gesetzesentwurf dahingehend zu überarbeiten, dass die Entlohnung der Studierenden in keiner Form auf das BAföG angerechnet wird."

 

Schon gestern hatte Karliczek ihren Brief mit der Versicherung beendet, sie werde "die bisher ergriffenen Maßnahmen beim BAföG fortlaufend überprüfen und anlassbezogen weitere erforderliche Maßnahmen ergreifen". 




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Kommentare: 4
  • #1

    Marco Winzker (Mittwoch, 25 März 2020 17:51)

    "Wenn der Wettstreit um die Umsetzung der Idee nur halb so engagiert wird wie der um ihre Bezeichnung,"

    Worte und Bezeichnungen sind wichtig, das wissen wir doch alle. Und gerade wenn man sich momentan nicht persönlich sieht, prägt ein erstes Wort, eine Überschrift umso stärker. Es sitzen gerade viele engagierte Lehrende und HD-Supporter daran, wie man sinnvolle Möglichkeiten zum Studieren anbieten kann. Die bisher verwendeten Worte hören sich für mich nach "geht ja gar nicht, hat ja sowieso keinen Zweck" an. Letzte Woche gab es vom Hochschulforum Digitalisierung das Online-Event "Hochschulbildung und Corona: Was wir schon tun - was sonst noch geht". Über 600 Teilnehmer/innen und ich denke, die meisten sind mit der Meinung rausgegangen, das etwas geht.

  • #2

    René Krempkow (Mittwoch, 25 März 2020 19:15)

    Angesichts der Coronovirus-Pandemie wird eigentlich nur - wie in einem Brennglas - noch deutlicher als sonst, dass all diejenigen, die, wie sie schreiben, ´am stärksten´ belastet seien: ´erwerbstätige Studierende, Studierende mit Care-Verpflichtungen, ausländische Studierende´, sowie übrigens tendenziell auch Nichtakademikerkinder.
    Dies zeigte sich allerdings auch schon vor der aktuellen Corona-Sondersituation in einem häufige(re)n De-facto-Teilzeitstudium solcher Studierenden. Und dieses wiederum ist einer der stärksten fächerübergreifend relevanten und zugleich von den Hochschulen mindestens teilweise beeinflussbaren Einflussfaktoren auf die Studiendauer, wie eine in Kürze erscheinende bundesweite Analyse anhand von über zehntausend Bachelorabsolventen ergibt (www.researchgate.net/publication/339954145).
    Die Abiturnote als am häufigsten genutzer (wenngleich umstrittener) Indikator für "Studierfähigkeit" spielt demgegenübere nur eine relativ geringe Rolle. Und je nach Fächerkultur spielen auch bestimmte Aspekte der Studienqualität eine Rolle, was wiederum Handlungsmöglichkeiten für Hochschulen und Hochschulpolitik nahelegt.

    Für die Hochschulpraxis bedeutet dies: Würde man für Studierende deutlich mehr und flexiblere Teilzeitstudienmöglichkeiten anbieten und sie diese auch mit entsprechend dazu passenden BAföG-Regelungen nutzen können, so resultierte daraus ein deutlich höherer Anteil Studierender in der Regelstudienzeit. Das gilt vor allem für diejenigen Hochschulen mit für ihre Studierenden möglichst gut passenden Angeboten. Und dies wiederum dürfte angesichts des Hochschulpakt-Nachfolgeprogramms von Bund und Ländern, in dem die Studierenden in der Regelstudienzeit der wichtigste Finazierungsindikator sind, künftig noch bedeutsam(er) werden. ;-)

  • #3

    rayblossom (Donnerstag, 26 März 2020 17:09)

    Sehr geehrte Lehrende,

    wenn das ernsthaft Ihre Forderung ist, dann wäre es meine, dass dann ab sofort alle Unterzeichner dieses Briefes in Kurzarbeit gehen. Da das rechtlich vermutlich nicht möglich ist, dann verzichten Sie doch bitte ab sofort auf 40 % Ihres Nettogehaltes, zusätzlich gedeckelt noch durch die Beitragsbemessungsgrenze. Da Sie ja offensichtlich nicht mehr arbeiten wollen und Ihnen "erschwerte Bedingungen" offensichtlich nicht zugemutet werden können, die derzeit für viele andere Berufsgruppen sicherlich noch viel schwerwiegender sind (man denke nur an Pfleger, Krankenschwestern, Ärzte, Kassiererinnen etc, die auch noch ihre persönliche Gesundheit riskieren. Wenn Sie also Ihre Arbeitsleistung nicht mehr erbringen möchten, dann bitte auch auf das Gehalt verzichten! Alles andere wäre ein Schlag ins Gesicht all derjenigen, die jetzt gezwungenermaßen in Kurzarbeit sind (aber gerne arbeiten würden), denen als Selbstständige alle Aufträge weggebrochen sind oder die zur kritischen Infrastruktur gehören und deshalb jetzt bei gleichem Gehalt vielfach sogar mehr arbeiten müssen.

    Oder haben Sie sich das so vorgestellt, dass Sie jetzt einfach mal (natürlich nur für die armen Studierenden) ein halbes Jahr pausieren und das (durchaus sehr üppige) Professorengehalt aber weiter fließt?

    Sollten Studierende übrigens ähnliche Aufrufe verfassen oder sich diesem Aufruf anschließen, dann gilt sinngemäß das Gleiche. Wie wäre es dann mit Aussetzung des BAföG? Wenn ihr dann lieber ein Semester nichts macht, statt unter erschwerten Bedingungen einfach weiter zu studieren? So wie viele andere in diesen Zeiten auch weiterarbeiten. Oder dann eben als Erntehelfer aufs Feld (gilt übrigens für die Professoren oben genauso!). Dort werden dringend Arbeitskräfte gebraucht, die Studenten sollten jung, kräftig und belastbar sein (na gut, das gilt für die Professoren im Durchschnitt vermutlich eher weniger), da könntet ihr also durchaus was Sinnvolles für die Bauern und damit für die Gesamtbevölkerung leisten. Und dann kann auch gerne das BAföG weiter fließen...sogar mit kleinem Zuschlag ;-)

  • #4

    Achim Stenzel (Freitag, 27 März 2020 12:41)

    Da Worte Fakten schaffen, ist der Begriff "Nicht-Semester" fatal. An vielen Hochschulen arbeiten viele Menschen seit 14 Tagen in erheblichem Umfang daran, dass ein wie auch immer geartetes Sommersemester stattfinden kann. Die Hochschulen finden auch Wege, Fristen und Termine felxibel an die aktuelle Situation anzupassen. Was ich vermisse, ist ein klares Statement der Bildungsministerin: Alle, die im Sommersemester Bafög beziehen, erhalten ein Semester Förderung obendrauf. Ohne Einzelfallprüfung, ohne Abwägung über das im Sommer im Endeffekt tatsächlich absolvierte Pensum. "Wir" schmeißen den Klinikkonzernen, die in den vergangenen Jahren ordentlich verdient haben, Milliarden dafür hinterher, dass sie nun auf einmal Patienten versorgen müssen, die nicht so lukrativ sind, weil es keine Fallpauschalen für COVID19 gibt. Da sollten ein paar voraussetzungsfreie Bafög-Millionen doch auch abfallen.