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Föderales Hauruck

Die Bundesregierung öffnet allen Schulen, die es brauchen, den
Zugang zu der von ihr geförderten Schul-Cloud. Für viele Standorte bedeutet das dringende Hilfe in der Not. Doch die großzügige Geste 
wirft auch Fragen auf.

Foto: Screenshot der Cloud-Startseite.

AUCH ANJA KARLICZEK hat, wie etliche ihrer Kollegen im Bundeskabinett, in den vergangenen Tagen ein bemerkenswertes Tempo vorgelegt. 150 Millionen für ein neues Forschungsnetzwerk gegen Covid-19. Neue BAföG-Regeln in Corona-Zeiten. 100 Millionen Euro Digital-Soforthilfe aus dem Digitalpakt. Und zuletzt: Die Öffnung der HPI-Schul-Cloud für alle. 

 

Einige Maßnahmen gehen womöglich immer noch nicht weit genug, wie Kritiker zum Beispiel beim BAföG bemängeln. Die CDU-Bundesforschungsministerin selbst hat versprochen, wo nötig, kurzfristig nachzusteuern. Doch schon jetzt zählt eine Erkenntnis zu den ermutigenderen Begleiterscheinungen der Pandemie: Wenn die Politik in Deutschland muss, kann sie schnell agieren. Sogar in der Bildung. Plötzlich scheinen dort sogar Dinge möglich, die in normalen Zeiten ausgeschlossen wären. Unter anderem weil in normalen Zeiten die Kultusminister der Länder viel stärker auf ihre Bildungshoheit pochen würden.

 

Und doch darf die Krise nicht davon abhalten, auch den verteilten Wohltaten mit ein paar kritischen Fragen zu begegnen. Zum Beispiel mit dieser: Werden in der Not Tatsachen geschaffen, die einen neuen bildungspolitischen Zustand auch nach Corona zementieren? Und selbst wenn man dies inhaltlich begrüßen mag, sind sich dessen eigentlich alle bewusst?

 

Karliczek: Die Zuständigkeit der Länder wird
"selbstredend" nicht in Frage gestellt

 

Um es konkret zu machen: Am Freitag teilte Anja Karliczek mit, künftig könnten alle Schulen, denen weder eine Landes-Cloud noch eine kommunale Lern-Plattform zur Verfügung steht, die vom Hasso-Plattner-Institut (HPI) entwickelte Schul-Cloud nutzen. Auch auf offene Bildungsinhalte, so genannte Open Educational Resources (OER),  solle mittels der Cloud zugegriffen werden. Die Ministerin betonte, die Zuständigkeit der Länder für die Schulen und damit auch für digitale Lehrinhalte werde dadurch "selbstredend nicht in Frage gestellt. Es geht um Soforthilfen für Schulen in einer nie dagewesenen und bislang kaum vorstellbaren Notlage." Deshalb sei das Angebot auf die Dauer der Krise beschränkt. Genauso wie die BMBF-Ankündigung vom Tag zuvor, mit Digitalpakt-Geldern des Bundes auch Bildungsinhalte zu finanzieren. Das Geld habe sie den Ländern zugewiesen, um die derzeit nötigen IT-Kapazitäten zu schaffen, sagte Karliczek.

 

Die 100 Sofort-Millionen aus dem Digitalpakt hatte die Kultusministerkonferenz (KMK) übrigens noch per Pressemitteilung begrüßt, auch wenn noch gar nicht genau klar ist, wie das Geld tatsächlich kurzfristig ausgegeben werden soll. Das Cloud-Angebot hingegen ließ der Bildungsminister-Club bislang unkommentiert.

 

"Alles ist in der gegenwärtigen 

Situation besser als nix"

 

Was wahrscheinlich die ehrlichste Reaktion ist: Nein sagen zu Karliczeks Angebot können die Kultusminister nicht angesichts der teilweise niederschmetternd schlechten Digital-Lage ihrer Schulen. Aber allzu frenetische Zustimmung könnte signalisieren, dass sie den Einfall des Bundes in die Zuständigkeit der Länder auch noch gutheißen. Wie es ein Bildungsforscher, der namentlich nicht genannt werden will, formuliert: "Alles ist in der gegenwärtigen Situation besser als nix. Das Dilemma ist ja, dass vielen Länder keine Alternative zur Verfügung steht und sie deshalb hilflos auf dieses Produkt zugehen."

 

Aber was ist nach der Krise? Werden dann die Schutztore des Bildungsföderalismus wieder hochgezogen, und diejenigen Schulen, die jetzt Zugang zur HPI-Schul-Cloud erhalten, müssen sich wieder ausloggen – und warten, bis ihre eigenen Bundesländer etwas Nutzbares präsentieren? Unwahrscheinlich. So könnte aus der befristeten zentralen Notlösung am Ende eine Dauerlösung werden. Wie gesagt: Man kann das gutheißen. Als den flächendeckenden digitalen Durchbruch, den der Bildungsföderalismus bislang nicht hinbekommen hat. Aber man sollte so ehrlich sein. 

 

Andere Fragen sind nicht weniger drängend. Was zum Beispiel ist mit dem Vergaberecht? Die HPI-Schul-Cloud mag die vom Bund in ihrer Pilotphase geförderte sein, aber das einzige kommerzielle oder Open-Source-System ist sie nicht. Wurde das HPI-System überhaupt schon einmal unabhängig evaluiert? Trifft es die jetzt nötigsten Bedarfe der Lehrkräfte? Zu vielen Konkurrenzprodukten existieren solche Studien Experten zufolge bereits. Wie alternativlos ist also der Einsatz öffentlicher Gelder an dieser Stelle? Und rechtfertigt die Not, falls jetzt freihändig Millionen ohne Ausschreibung in ein bundesweites Projekt fließen sollten – ohne vorhergehende Abstimmung mit Personalräten oder Datenschützern?

 

Lässt sich die Cloud einfach so auf 
viele tausend Schulen hochskalieren?

 

Vielleicht wird es ja auf all dies gute Antworten geben in den nächsten Tagen. Jedenfalls kann keiner sie alle sofort verlangen. Zumindest erklärungsbedürftig erscheint allerdings auch, von den gegenwärtig angeschlossenen bundesweit 128 MINT-EC-Schulen und den in mehreren Ländern (an-)laufenden Pilotprojekten innerhalb kürzester Zeit auf die Nutzung der Cloud an potenziell vielen tausend Schulen hochskalieren zu wollen – und auf die damit einhergehende Datenströme. Vor dem Wochenende teilte das BMBF mit: Die Voraussetzungen, um das System "in großem Umfang auszuweiten", seien bereits geschaffen. Es könne "schnell ausgerollt und wie in einem Baukasten-System" an die unterschiedlichen Bedarfe der Schulen angepasst werden. Doch wer garantiert den dauerhaften Betrieb in diesem Umfang? Sind die Serverkapazitäten gesichert? Die Wartung und der nötige Support? Gibt es hierzu Verabredungen und Garantien – und wenn ja, von wem? 

 

Und schließlich: Reicht es die Lehrer, mit sogenannten Webinaren, die es bereits gibt, in die Cloud einzuführen? Braucht es nicht ausführlichere Fortbildungen zur Nutzung von OER und Co? Wer organisiert die und berät die Schulen individuell? Immerhin: Das HPI hat bereits angekündigt, über die Lernplattform "Lernen.cloud" Kurse und Best-Practice-Lehrbeispiele anzubieten. Aber reicht das? Was machen die Länder und Kommunen ihrerseits? Schließlich hatten gerade diejenigen Länder und Kommunen, deren Schulen jetzt als erstes auf die HPI-Cloud zugreifen dürften, schon bisher die größten Schwierigkeiten mit der Digitalisierung ihrer Schulen. 

 

Zwei Gewinner bei Karliczeks überraschendem Stunt gibt es auf jeden Fall schon jetzt: die Ministerin, die sich als tatkräftig präsentiert. Und das Hasso-Plattner-Institut, das die einmalige Gelegenheit erhält, seine Cloud bundesweit als Standard zu etablieren. Ob auch die Schulen von der Hauruck-Aktion am Ende ebenso profitieren werden, ist offen. Wenn sie es tun, was zu wünschen ist, gibt es am Ende immer noch einen Verlierer: den Bildungsföderalismus. Das freilich werden vermutlich die wenigsten bedauern. 



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