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"Allzu missverständlich"

Die Wissenschaftspolitik will kein "Nichtsemester" und setzt trotzdem viele Forderungen der gleichnamigen Petition um. Das ist kein Widerspruch.

ES WAR WIE ein Reflex. Ein Nichtsemester?, versicherten die Wissenschaftsminister und Hochschulrektoren in Interviews und Hintergrundgesprächen: Auf keinen Fall! Von der Petition gleichen Namens hielten sie daher nicht viel. Auch ihre am Freitag gefassten KMK-Beschlüsse für ein flexibles Sommersemester wollten viele Wissenschaftsstaatssekretäre, ohne das explizit zu machen, als Absage an ein "Nichtsemester" verstehen sehen.

 

Doch wenn man sich die KMK-Beschlüsse dann ansah, stellte man fest: Zum Teil klangen sie wie direkt aus der inzwischen von mehr als 13.000 Menschen unterschriebenen "#Nichtsemester"-Petition übernommen. 

 

Verständnis für die Lage der Studierenden in Zeiten von Corona? Ja, klar! Keine Anrechnung des Sommersemesters auf Regelstudienzeit und BAföG? Unbedingt, setzen wir uns für ein! Prüfungen soweit wie möglich? Ja, aber keiner soll bestraft werden, wenn er oder sie wegen der Pandemie weniger Leistungspunkte/Credits als vorgesehen schafft.

 

Nur eines wollten die Minister auf jeden Fall verhindern: dass das Semester gar nicht stattfindet. Dass an sich mögliche Lehrveranstaltungen und Prüfungen absichtlich ausgesetzt werden. Daher die emphatische Ablehnung des "Nichtsemesters". 

 

Dass es gar kein Semester gibt, hatte die Petition
zum Nichtsemester gar nicht verlangt

 

Allerdings hatte genau das, wie ich bereits am Freitag schrieb, die Petition in ihrer ursprünglichen Fassung auch nie verlangt – "sondern im Gegenteil viele Forderungen erhoben, die die Wissenschaftsministerien jetzt umsetzen wollen".

 

Heute schreibt auch Christine Prußky im ZEIT-Newsletter WISSEN3: "Das Semester komplett in den Wind zu schießen, hatte niemand je als Lösungsweg vorgeschlagen. Trotzdem schlich sich die Idee in die Semesterdebatte ein, infizierte sie fast wie ein Virus". Und Prußky fragt: "Wie konnte es dazu kommen?" 

 

Womöglich ist die Erklärung ganz einfach. Eine der Initiatorinnen der Petition und des ihr zugrunde liegenden Offenen Briefes lieferte sie bereits am Freitag auf Twitter. "Der Begriff ist, Selbstkritik!, allzu missverständlich", schrieb die Münchner Soziologieprofessorin Paula-Irene Villa Braslavsky. Hat das "Nichtsemester" schlicht die falschen Assoziationen geweckt?

 

Die Nachfrage müsste allerdings lauten: Bei wem? Den Politikern zu unterstellen, sie hätten die Petition nicht gelesen, greift zu kurz. Wahrscheinlicher ist, dass Politiker und Rektoren Angst hatten, der Begriff könnte sich an den Hochschulen zum geflügelten Wort entwickeln und bei einigen Lehrenden als Vorwand genutzt werden zum Nichtstun.

 

Den Siegeszug der Idee hat ihre
Bezeichnung nicht aufhalten können

 

Zumindest sprechen manche Kommentare, die in diesen Tagen hinter vorgehaltener Hand aus den Leitungsetagen der Hochschulen dringen, für diese Deutung: Ja, es gebe eine Vielzahl sehr engagierter Professorinnen und Professoren, die alles in ihrer Macht Stehende täten, um möglichst schnell möglichst viele ihrer Lehrveranstaltungen online anbieten zu können. Es gebe aber auch eine Menge Hochschullehrende, die sagten: Das kann technisch nicht klappen. Oder auch: Ich kann und will das nicht. Vor allem, wird dann oft hinzugefügt, in den Geistes- und Sozialwissenschaften!

 

Solche Einschätzungen lassen sich nicht nachprüfen. In jedem Fall spricht aus ihnen ein Misstrauen gegenüber dem eigenen Lehrkörper. Und ob berechtigt oder nicht: Die Erstunterzeichnerinnen der #Nichtsemester-Petition müssen sich diesen Schuh ganz sicher nicht anziehen. Den Begriff haben sie nämlich ausgerechnet aus einem Deutschlandfunk-Interview mit dem Vizepräsidenten der Hochschulrektorenkonferenz, Ulrich Radtke, übernommen. Der damit übrigens auch keine Absage an Lehrveranstaltungen und Prüfungen gemeint hatte.

 

Ja, womöglich hätte ein anderer Begriff der Debatte besser gestanden, und in den vergangenen Wochen sind auch dafür genug Vorschläge gemacht worden: Flexi-Semester, Kreativsemester, Optionssemester. Berlins Senat spricht inzwischen vom besonderen "Berliner Sommersemester". Dem Siegeszug der Idee hinter der Petition freilich hat die so heftig abgelehnte Bezeichnung nicht geschadet. Und das ist, so sollte man denken, die eigentliche Hauptsache. 



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Kommentare: 1
  • #1

    Karla K. (Dienstag, 07 April 2020 08:07)

    Lieber Herr Wiarda,

    vielen Dank, dass Sie das Thema noch mal aufgreifen.

    Mit Blick auf die Reaktionen machte es tatsächlich den Anschein, dass viele Hochschulleitungen den offenen Brief überhaupt nicht gelesen (oder Idee und Inhalte nicht erfasst) hatten. Vielleicht war es aber auch so, dass viele von ihnen schlicht den Zug verpasst hatten, und sie dies nun realisierten:

    Da meldeten sich doch auf einmal die Menschen aus der Hochschule heraus, die die Krisensituation und die sich abzeichnende Auswirkungen erfasst hatten, und zeigten Leitplanken für das Sommersemester auf. Das ist ja nun auch ein bisschen anmaßend. Stimme der Hochschulen sind doch die Hochschulleitungen. Wie gut, dass es für diese einen Ansatzpunkt gab, das Anliegen sowie dessen Initatorinnen und Unterstützer*innen zu diskreditieren und sich zeitgleich die grundlegenden Elemente der Idee zu eigen zu machen. Neben dieser Fragwürdigkeit als solcher ist es schon beachtlich, welche Wichtigkeit die Situation von Studierenden für Hochschulleitungen auf einmal bekommt - mancher nimmt man's ab, bei mancher führt's zu Stirnrunzeln. Wie nachhaltig das dann sein wird, bleibt abzuwarten.

    Erschreckend ist die gleichzeitige Arroganz und Ignoranz vieler Hochschulleitungen ihren wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen gegenüber - davon sind immer noch um die 90 % befristet beschäftigt. Nun sollen sie innerhalb kürzester Zeit mit oberster Priorität ihre Lehre "digitalisieren" - regelmäßig aber ohne adäquate technische Infrastruktur bzw. mit datenschutzrechtlich fragwürdigen Instrumenten, geschweige denn, dass sich die Hochschulleitungen in der Vergangenheit in der Fläche um die Vermittlung des erforderlichen didaktischen Knowhows gekümmert hätten (das bisherige Engagement einzelner und solitäre "Leuchtturmprojekte" können den Missstand und die Versäumnisse in der Fläche nicht überstrahlen). Gleichzeitig können derzeit viele Beschäftigte nicht an ihren Qualifizierungsvorhaben arbeiten - denn viele Hochschulen sind schlicht geschlossen. Wo ist die Hochschulleitung, die ihren befristet Beschäftigten die corona-bedingte Verlängerung ihres Vertrages zusagt?

    Bleiben Sie gesund!
    Ihre Karla K.