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Bleibt beim Digitalsemester

Je älter die Lernenden, desto eher kann man ihnen Distanz
beim Unterricht zumuten. Die Hochschulen sollten daher den Lockerungsversuchen widerstehen. 

ES IST, ALS HABE jemand einen Schalter umgelegt. Mitte März lieferten sich die Bundesländer einen Wettstreit, wer am schnellsten am meisten gesellschaftliche Bereiche herunterfahren kann. Seit ein paar Tagen, so scheint es, gibt es einen Preis für denjenigen Ministerpräsidenten, der am schnellsten die meisten Restaurants, Kneipen und Fitness-Studios an den Start bringt. Und bei einigen Regierungschefs klingen die mitgelieferten Beteuerungen – "Nur unter Abstandswahrung! Nur unter Beachtung besonderer Hygieneregeln!" – so heruntergeleiert, dass man Zweifel an ihrer Ernsthaftigkeit haben muss.

 

Aus der Perspektive eines Bildungsjournalisten positiv anzumerken ist, dass nach wochenlangem spitzenpolitischen Desinteresse auch die Belange von Kita- und Schulkindern wieder eine Rolle spielen. Kitas und Schulen laufen mit ihrer geplanten Öffnung in Stufen zwar zumeist weiter dem allgemeinen Trend hinterher.

 

Doch je weiter sich dieser Trend Richtung Öffnungsorgien dreht, desto segensreicher ist es, dass im Bereich der Bildung zwar auch vieles reichlich chaotisch losgeht – es aber ausgerechnet dank der oft so ungeliebten Kultusminister zumindest den ausformulierten Anspruch an ein überlegtes Vorgehen und an übergreifende Sicherheitsstandards gibt. 

 

Die Warnungen vor einer zweiten Infektionswelle sind nicht von der Hand zu weisen, ebenso wenig, dass Kitas und Schulen darin eine treibende Rolle spielen könnten. Zwar ist das Ansteckungsrisiko, das Kinder für sich und andere spielen, von der Forschung längst nicht abschließend geklärt, doch in jedem Fall bleibt es eine Abwägung: Das Recht jedes Kindes auf Bildung, auf Teilhabe und soziale Kontakte versus die dadurch ausgelöste Pandemierisiken für die Gesellschaft. Eine Abwägung, die freilich bei anderen oft weniger in Frage gestellten Öffnungen – etwa von Kneipen und Fitness-Studios – ebenso getroffen werden sollte. 

 

Die Antwort in der Bildung muss lauten: Je jünger die Kinder sind, je mehr ihre Bildung am Anfang steht und je angewiesener sie sind auf Unterstützung außerhalb der Familie, desto höher ist ihr Recht auf Rückkehr in Kitas und Schulen zu werten, und desto mehr dürfen sie auch ein Stückweit gesellschaftliche Solidarität einfordern beim Tragen der dadurch entstehenden Risiken. Weiter gedacht bedeutet dieser Satz: Je älter die Lernenden werden, desto mehr Lernen über Distanz kann ihnen zugemutet werden. 

 

Es braucht einen
Digitalpakt Hochschule

 

Das gilt in den höheren Klassenstufen, das gilt umso mehr für Formen der hochschulischen Bildung. Zumal die Forschung in die Richtung deutet, dass gerade die jungen Erwachsenen extrem zur Ausbreitung des Virus beitragen. Während sich also besonders die Schulen rasch der neuen Corona-Normalität einer – pädagogisch noch auszuklügelnden – Mischung aus Präsenzstunden und Homeschooling annähern sollten, sollte die Hochschulen den bereits spürbaren Versuchungen widerstehen. 

 

Den Versuchungen und Versuchen, vor denen auch der Präsident der Hochschulrektorenkonferenz (HRK), Peter-André Alt, bereits warnt: das digitale Semester im Fahrwasser der Lockerungen doch irgendwie mittendrin zu einem Präsenz-Semester light mit digitalen Anteilen ummodeln zu wollen. Nicht nur, weil die Studierenden sich aufs Digitalsemester eingestellt haben und viele, selbst wenn sie wollten, gar nicht so schnell an ihren Studienort zurückkehren könnten. Viel entscheidender ist: Hochschulen sind Großveranstaltungen, die Kontaktdichte in vielen Mensen und Vorlesungen erinnert eher an Fußballstadien als an Kaffeekränzchen. Die Abwägung der dadurch entstehenden Infektionsgefahren gegen die – bei allen Orientierungsbedürfnissen – größeren Selbstverantwortlichkeit junger Erwachsene muss daher zwangsläufig anders ausfallen an etwa an Kitas und Grundschulen. Sie kann auch deshalb, weil die Hochschulen in den vergangenen Wochen Beachtliches geleistet haben bei der Digitalisierung der Lehre.

 

Bei allem, was den Studierenden und Hochschulen deshalb zugemutet wird und zugemutet werden muss, gerät die Politik immer stärker unter Zugzwang. Von Politikerkomplimenten, sie hätten den Sprung zur virtuellen Lehre trotz teils widriger Technik mit Bravour gemeistert, können sie sich nicht die nötige Infrastruktur, die Geräte und Lizenzen kaufen. Dafür braucht es jetzt einen Digitalpakt Hochschule, eine gemeinsame Anstrengung von Bund und Ländern. Immerhin diskutieren Wissenschaftsminister diskutieren eine solche auf Initiative Berlins. Zu Recht: Wenn die Hochschulen in der Krise ihre Verantwortung gegenüber der Gesellschaft wahrnehmen, muss die Gesellschaft das gleiche für die Hochschulen tun. 

 

Dieser Beitrag erschien zuerst in meiner Kolumne "Wiarda will`s Wissen" im Tagesspiegel.



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Kommentare: 1
  • #1

    Sophie (Montag, 11 Mai 2020 12:35)

    Sehr geehrter Herr Wiarda, ich habe Ihren Artikel gelesen und obwohl ich Ihnen teilweise zustimme, bin ich als Studentin der Agrarwissenschaften an der HU Berlin sehr verärgert über die jetzige Situation. Wie viele meiner Kommilitonen stehe ich vor meiner Abschlussarbeit. Da es in den Naturwissenschaften üblich ist, Feldversuche, Laborversuche oder Gewächshausversuche durchzuführen und man zum Teil auf die Jahreszeit und Wetterbedingungen angewiesen ist, ist die völlige Schließung der Universität für mich unbegreiflich. Es ist nunmehr nicht möglich jedes Fach zu digitalisieren! Viele Doktoranden, Masteranden und Bacheloranden stehen nun ohne Versuchsergebnisse dar, seitens der Profs wird vorgeschlagen, diese aufs nächste Jahr zu verschieben womit sich das Studium oder die Promotion unnötig in die Länge zieht! Ich würde mir wünschen, dass dieser Aspekt auch berücksichtigt wird!