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Verpasste Chance

Die Vorstellung des Bundesberichts Forschung und Innovation durch Anja Karliczek hätte die Gelegenheit sein können, in der Coronakrise mutig vorauszudenken. Doch Zukunft kommt in dem Dokument nur als blasses Gerüst vor. Ein Gastbeitrag Manfred Ronzheimer.

Foto: BMBF/Hans-Joachim Rickel.

DER BUNDESBERICHT Forschung und Innovation (BuFI) gilt als das inoffizielle Hauptbuch für den Forschungsteil des BMBF, und das ist der weitaus größere des Zwillings-Ministeriums. Er wird alle zwei Jahre mit großem Aufwand erstellt, was das Ministerium nicht alleine schafft und sich darum externe Hilfe holen muss, hier der Prognos AG, was sich in diesem Fall – Stichwort Zukunftsorientierung – nicht sonderlich ausgezahlt hat. Dazu später mehr.

 

Der BuFI ist seinem Selbstverständnis nach ein administrativer Bericht. Er stellt dar, was das Forschungsministerium wie auch andere Bundesressorts mit FuI-Aufgaben – ganz stark das Wirtschaftsministerium, das mit den das BMBF ständig um die I-Führerschaft ringt (Innovation) – in den vergangenenen zwei Jahren geleistet haben und woran sie arbeiten. Der BuFI ist ein Rechenschaftsbericht, der auf Vergangenheit und Gegenwart rekurriert. Zukunft kommt allenfalls als blasses Gerüst der Hightech-Strategie vor, mit einzelnen Leitprojekten als Sahnehäubchen.

 

Forschungsverwaltung statt Forschungspolitik

 

Die Behauptung, der BuFI stelle ein Zukunftsprogramm dar, ist reine Deklamation. Und zwar deshalb, weil er ein Verwaltungs-, ein Forschugspolitikabwicklungsbericht ist, aber kein politisches Papier, das einer gesellschaftlichen plus wirtschaftlichen und ökologischen Langrfristperspektive folgt (Vision) und diese auf den Instrumenenkasten der Wissenschaftsförderung und Innovationsstimulierung herunterbrechen würde. Die politischen Botschaften des BMBF, wenn es sie denn gab, wurden in der Vergangenheit in den Etatreden des Bundestages oder ebendort zu einzelnen Reformvorhaben formatiert. So wollte es auch der BuFI 2020 halten – und das ist unter den heutigen Bedingungen der Corona-Krise seine größte Schwäche. Und mehr noch: Über die Tatsache eines schwachen Dokuments hinaus kann es sogar dazu kommen, dass durch den BuFI 2020 die Zukunftslegitimitation des BMBF – auf jeden Fall seine Zukunftskompetenz – in Zweifel gezogen wird.

 

Zum unmittelbaren Anlass: Bundesministerin Anja Karliczek stellte den BuFI am vergangenen Mittwoch in einer coronareduzierten Pressekonferenz in ihrem Haus vor (minimale Bestuhlung, 1,50 Meter Abstand, Online-Streaming). Eine traurige Veranstaltung gegenüber den früheren Präsentationen, die ich regelmäßig miterlebt habe. Nur zwei Journalisten stellten überhaupt Fragen, was in diesem Falle noch nicht einmal auf die Schwäche des Berichts zurückzuführen ist, sondern vielmehr die katastrophale Schwäche des Wissenschaftsjournalismus zum Ausdruck bringt, der in Deutschkand immer weniger bereit ist, sich den Themen der Wisenschaftspolitik übergreifend und systematisch zuzuwenden. Mag sein, dass der medizinische Zweig des Wissenschaftsjournalismus unter den aktuell obwaltenden Pandemie-Bedingungen eine gewisse Systemrelevanz erlangt hat. Aber das ist allenfalls eine Ein-Punkt-Evidenz. Eine für den 27. Mai geplante Bundestagsanhörung zur Wissenschaftskommunikation könnte aufschlussreich werden in diesem Zusammenhang. 

 

Ein zusätzlicher Innovations-Topf von 60 Milliarden

 

Zwar hat es die Redaktionsgruppe des BuFI trotz seiner "longue durée" vermocht, die Corona-Krise zumindest semantisch in den Einleitungsteil einzufädeln. Die Ministerin selbst trug in ihrem Statement den politischen Teil mündlich bei (dokumentiert in der Video-Übertragung), unter Hervorhebung von drei Aktionslinien: Digitalisierung, Medizin und Klima. Als besonderen Coup hatte sich der Leitungsstab des BMBF die Forderung nach einem zusätzlichen 20- Miliarden-Topf für Investitionen und Innovationen ausgedacht. Sozusagen die Hauptrakete im Feuerwerk, was aber politisch un-nachhaltig verpuffte, weil kein anderer Kabinettskollege in den Folgetagen darauf einstieg. Ein Pressestatement aus dem Hause Altmaier wäre das Mindeste gewesen – oder eine Bemerkung der Kanzlerin mit Blick auf die deutsche EU-Ratspräsidentschaft. Eine interessante Frage, warum weder der eine noch die andere sich dazu bemüßigt fühlte. 

 

Karliczek verwies darauf, dass die Bundesregierung mit all ihren Ressorts pro Jahr Milliarden Euro für zukunftsbezogene Infrastruktur, Bildung und Forschung ausgebe. Angesichts der Corona-Krise halte sie es für richtig, "dass wir in den Jahren 2021 bis 2023 noch einmal die Hälfte drauflegen". Das wären pro Jahr 20 Milliarden Euro zusätzlich, bis 2023 ingesamt 60 Milliarden. Ob der Vorschlag Bestand hat, werden die jetzt anlaufenden Beratungen für den Bundeshaushalt 2021 zeigen.

 

FuE-Quote in Gefahr

 

Mit der zusätzlichen Finanzspritze könnte auch dem absehbaren Einbruch der FuE-Quote – dem Anteil der Forschungs- und Entwicklungsausgaben von Staat und Wirtschaft am Bruttoinlandsprodukt – unter Umständen Einhalt geboten werden. 2017 hatte Deutschland erstmals die für Hoch-Innovationsländer geltende 3-Prozent-Marke überschritten (2018: 3,13  Prozent) und strebte seitdem für 2025 eine FuE-Quote von 3,5 Prozent an. Allerdings dürfte die Wirtschaft corona-bedingt ihre FuE-Ausgaben eher reduzieren, so wie es auch in der Finanzkrise 2008 geschah, als die deutsche Industrieforschung um 10 Prozenzt zurückging.

 

Mit dem zuvor vom Bundeskabinett beschlossenenen BuFI konnte Karliczek ein Zahlenwerk vorlegen, in dem die bisherigen Leistungsdaten stimmen. "Wir sind in Deutschland auch dank der staatlichen Forschungsförderung in vielen Innovations-Bereichen weltweit an der Spitze", kommentierte die BMBF-Chefin. So sei etwa in der Batterieforschung auch die Rückeroberung eines Technologiefeldes gelungen, das seit den 90er Jahren verloren gegangen war.

 

Dem Bericht zufolge investierten Staat und Wirtschaft in Deutschland 2018 ingesamt 105 Milliarden Euro in Forschung und Entwicklung. Die Anzahl der Beschäftigten in Forschung und Entwicklung stieg im gleichen Jahr auf fast 708.000 Personen, was eine Steigerung um 45 Prozent in zwölf Jahren darstellt. Mit dem Zusatzgeld könnte die Forschungsministerin auch ihre neue "Prioritätensetzung" besser finanzieren, die sie für drei Bereiche ankündigte: Digitalisierung und technologische Souveränität, pharmazeutische Forschung sowie die Entwicklung von klimafreundlichen Technologien.

 

Prioritätensetzung: Was der Regierung wichtig ist

 

Bei den digitalen Anwendungen zeichne sich eine "erhebliche Dynamik" ab, von der gerade der Schulbereich erfasst sei: "Jetzt ist es Zeit, technologisch einen weiteren Sprung nach vorne zu machen", sagte Karliczek. Fragen nach einem "Digitalpakt Hochschule" zur Unterstützung der universitären Online-Lehre, beantwortete die Ministerin allerdings ausweichend. Nach dem stressigen Zustandekommen des Digitalpakts Schule stünde hier ein erneutes föderales Fingerhakeln mit den für die Hochschulen zuständigen Bundesländern an.

 

Auch beim Schwerpunkt einer „Medikamentenentwicklung als Teil der Medikamentenherstellung“ ist unterschwellig eine innovationsgeleitete Industriepolitik zu erkennen, die heute – in Abgrenzung zu USA und China – als „technologische Souveränität“ bezeichnet wird. Deutschland galt einmal als die „Apotheke der Welt“. Warum nicht wieder? Vor kurzem hatte das BMBF ein Sonderprogramm für Impfstofforschung gegen das Corona-Virus mit einem Volumen von 750 Mio Euro verkündet.

 

Auch bei der Batterieforschung – essentiell für die Elektromobilität – habe sich Deutschland binnen weniger Jahre wieder in eine internationale Spitzenposition gebracht, ergänzte Karliczek. Ihr schwebt vor, dies bei den Klimaschutztechnologien mit dem Thema „Grüner Wasserstoff“ zu wiederholen, bei dem der Strom für die Elektrolyse aus erneuerbaren Energiequellen stammt. Sie sei davon überzeugt, so die BMBF-Chefin, „dass Deutschland sich durch eine ambitionierte Zielsetzung beim Aufbau einer Grünen Wasserstoffwirtschaft weltweit an die Spitze dieses Zuikunftsfeldes setzen kann“.

 

Daten inkonsistent aufbereitet: Wo ist KI-Forschung?

 

Der vertiefte Blick in den BuFI (177 Seiten und 66 Seiten für den Datenteil) trifft auf gewisse Inkonsistenzen zwischen Datengrundlage und Bewertung. Während im Hauptband die Sichtweise der regierungsamtlichen Hightech-Strategie mit ihren durch Forschung zu bewältigenden "Großen Herausforderungen" (missionsgetriebene Forschung) dominiert, wird im Datenband die Auseinandersetzung mit den kritischen Bemerkungen der Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI) gesucht. Dort finden sich auch Grafiken, die keineswegs den deutschen Weg zum Innovationsweltmeister illustrieren, teilweise sogar im Gegenteil: So weisen die Kurven des "European Innovation Scoreboard" der EU-Kommission für Deutschland eine Verschlechterung der Innovations-Performance um 0,9 Punkte zwischen 2011 und 2018 aus.

 

Völlig hilflos hinterlässt der BuFI-Datenband den Interessierten bei der Suche nach den Erfolgen der "Künstlichen Intelligenz" (der Begriff taucht nur ein einziges Mal auf). So werden auf Seite 64 in der Tabelle "Ausgaben des Bundes für Wissenschaft, Forschung und Entwicklung nach Förderbereichen und Förderschwerpunkten" die Informations- und Kommunikationstechnologien (Gruppe G) mit FuE-Ausgaben von 801 Millionen Euro im Jahr 2017 angegeben, die sich bis 2019 auf 1,2 Milliarden erhöhten und  2020 mit 1,4 Milliarden Euro eingeplant sind. Darin sind 2020 aber die Wissenstechnologien nur mit 460 Millionen Euro vertreten (Gruppe GA). Ist das ein Schub in der KI-Forschung? Bei der Mikrosystemtechnik ist die Förderung (288 Millionen in 2020) sogar rückläufig. In Tabelle 9 auf Seite 75 (FuE-Ausgaben des Bundes und der Länder nach Forschungszielen) flossen 2017 in den Themencluster "Verkehr, Telekommunikation und andere Infrastrukturen" 509 Millionen, 2018 waren es 550 und 2019 620 Millionen Euro. Ob davon die KI-Forscher profiterten? Vielleicht eher unter dem Label "Industrie 4.0" beim Forschungsziel "Industrielle Produktion und Technologie", denn die verbuchte schon 2017 3,4 Milliarden an öffentlichen Forschungsmitteln, die sich bis 2019 auf 4,1 Milliarden erhöhten.

 

Und die Wirtschaft selbst? Die investierte 2017 nach der Tabelle 11 auf Seite 80 an eigenen Mitteln 6,9 Milliarden Euro in die FuE der Datenverarbeitungsbranche. Mit öffentlicher Förderung wurden daraus 7,7 Milliarden Euro, was sich im Jahr darauf 2018 auf 8,2 Milliarden steigerte. Damit nahm die IT-Branche einen besseren FuE-Verlauf als der deutsche Maschinenbau, der in beiden Jahren auf einem Forschungsbudget von 7,1 Milliarden stagnierte. Die Königsklasse der Industrieforschung ist selbstredend der Automobilbau. 2018 wurden dort 27 Milliarden an FuE-Mitteln investiert (2017: 25,6 Milliarden ). In diesem Volumen hätten zwei Bundesforschungsministerien Platz.

 

Neue Wege statt Pfadabhängigkeiten

 

Gerade das bevorstehende Europa-Ereignis, die deutsche Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2020, hätte Anlass geboten, anders mit dem BuFI umzugehen – ihn ausnahmsweise politisch aufzuladen. Im Moment sammmelt die Bundesregierung erbetene und unerbetene Zukunftsratschläge aus der Wissenschaft von außen ein, von Leopoldina, Helmholtz, Acatech und vielen anderen mehr. Das Desiderat ist das Zukunftsprogramm, das sich die Regierung selbst gibt – das aufzeigt, wie man aus der Krise hinausgelangen will und wie der wirtschaftliche Neuaufbau aussehen soll. Der jetzige BuFI ist in seiner Pfadabhängigkeit dem "Weiter so" verhaftet. Die Verheißung: Betreiben wir FuI weiter so wie in der Vergangenheit, dann ist wirtschaftlicher Wohlstand und sozialer Friede vorprogrammiert. Doch diese Verheißung ist eine Illusion. Es muss an vielen Stellen radikal umgedacht werden. Die Automobilindustrie ist das prominente Beispiel, ein anderes ist die Energie- und Agrarwende, aktuell drängt die Digitalisierung des Lernens in Schule und Hochschule. Pharmaforschung muss in Deutschland völlig anders werden. Überall besteht dringenden Handlungs- und Veränderungsbedarf, wobei der Austausch einzelner Technologien nicht mehr ausreicht, etwa im Verkehr Benzin durch Strom, sondern Systeme müssen komplett umgebaut werden.

 

Bei dieser Zukunftsorientierung wäre der private Think Tank Prognos AG – der auch den jährlichen hochrenommierten "Zukunftsatlas" über Deutschlands innovativste wie auch abgehängte Regionen erstellt – ein guter Partner gewesen, Deshalb wurde die Firma auch separat für das dritte Foresight-Programm des BMBF eingekauft (dessen "Vorausschau"-Performance bisher indes ein ziemlicher Schuss in den Ofen ist). Beim BuFI wäre deshalb eine Verschiebung um zwei Monate das Gebot der Stunde gewesen, um in konzentrierter Anstrengung ein erstes "Zukunftsrahmenprogramm" aus dem BMBF zu formen.

 

Das hätte dann ab Juli auch auf die EU-Ebene diffundieren können, wo, ebenfalls an einem neuen Forschungsrahmenprogramm "Horizon Europe" (mit einem Volumen von 100 bis 120 Milliarden Euro für sieben Jahre) gestrickt wird. Auch hier steht eine Neurausrichtung in Post-Corona-Verhältnissen an. Impulse aus Deutschland hätten jetzt eine Chance. Wo wird in der Bundesregierung so strategisch gedacht? Natürlich zuerst – und bei internationalen Weiterungen sowieso – im Bundeskanzleramt. Aber das BMBF als Zukunftsministerium hat nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, zehn Jahre weiter zu denken als die anderen. Der BuFI 2020 wäre dafür die passende Chance gewesen. Sie wurde verpasst.

 

Manfred Ronzheimer ist freier Journalist in Berlin mit den Schwerpunkten Forschung und Innovation.



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