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Der Notnagel hält nicht ewig

Der Hau-Ruck-Umstieg auf die Online-Lehre ist gelungen. Wer deshalb glaubt, man könne aus der Ausnahmesituation einen Dauerzustand machen, wird weder dem Wesen einer Universität gerecht – noch anspruchsvoller Digitaldidaktik. Ein Gastbeitrag von Andreas Musil.

Andreas Musil, 48, ist Professor für Öffentliches Recht und Vizepräsident für Lehre und Studium der Universität Potsdam. Foto: Karla Fritze.

DAS LAUFENDE SEMESTER hat schon viele Namen bekommen, Digitalsemester ist einer davon. Und das sicherlich zu Recht, wurden doch an fast allen Hochschulen die meisten Lehrveranstaltungen im Hau-Ruck-Verfahren in digitale Formate überführt. Ich habe das vorher so nicht für möglich gehalten und bin sehr stolz auf unsere flexiblen Lehrenden und Studierenden. Ohne das beispiellose Engagement Vieler wäre dieses Semester ein Null-Semester geworden, wie es teilweise auch propagiert worden war. Erste Evaluationen zeigen, dass die neuen Lehrformen teilweise recht ordentliche Zufriedenheitswerte bekommen. Da ist zwar noch Luft nach oben, aber es musste ja auch alles sehr schnell gehen.

 

Aber wie geht es jetzt weiter? Wird es im Herbst ein weiteres Digitalsemester geben? Sollten wir das wollen? Einige Hochschulleitungen haben schon einmal verkündet, dass man wegen der guten Erfahrungen den jetzigen Modus beizubehalten beabsichtige. Ich denke demgegenüber, dass wir so bald wie möglich wieder in einen weitgehenden Präsenzmodus zurückkehren sollten, ohne natürlich auf die neu errungenen Digitalkompetenzen verzichten zu müssen. Das hat im Wesentlichen drei Gründe.

 

Hochschulische Lehre eignet sich nur
bedingt für eine echte Digitalisierung

 

Der erste, dem ich mich als Vizepräsident für Lehre und Studium besonders verpflichtet fühle, ist ein didaktischer: Hochschulische Lehre eignet sich in den Formen, wie wir sie kennen, nur in begrenztem Umfang für eine echte Digitalisierung. Langsam beginnt sich die Erkenntnis durchzusetzen, dass Lehre vor allem dem Kompetenzerwerb zu dienen habe, was natürlich den Wissenserwerb mit einschließt. Kompetenzen werden in einem komplexen Prozess der Interaktion zwischen Lehrenden und Lernenden erworben. Auch die Interaktion der Lernenden untereinander ist ein wesentliches Element. Dieses soziale Moment lässt sich digital nur schwer nachbilden.

 

Besonders problematisch ist eine Digitalisierung sicherlich bei Formaten, in denen praktische Arbeit oder der Erwerb manueller/motorischer Fähigkeiten im Vordergrund stehen. Aber der Befund didaktischer Hürden lässt sich auch bei ganz normalen hochschulischen Lehrformaten erheben. So merkt man schnell, dass eine im reinen online-Format angebotene Vorlesung zu Ermüdungserscheinungen führen kann, sei der Dozent auch noch so gut. Es bedarf also einer didaktisch aufwändigeren blended-learning-Kultur, um einen guten Lernfortschritt zu erreichen.

 

Im Übrigen stimmt es meines Erachtens nicht, dass Präsenzvorlesungen ein überlebtes Format seien, das man gut digital substituieren könne. Im Gegenteil ist gerade die Vorlesung besonders schwer digital nachzubilden, findet doch der Kompetenzerwerb hier vor allem durch die schon beschriebene Interaktion statt. Unbenommen ist die Beobachtung, dass auch Präsenzvorlesungen didaktisch besonders herausfordernd sind. Trotzdem bilden sie nach wie vor das Rückgrat vieler Studiengänge – vor allem in der Anfangsphase – und schaffen Raum für die Identifikation mit dem Fach und den Austausch mit den dieses vertretenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. In einer Massenuniversität sind sie zudem schlicht unverzichtbar, um allen Studierenden ein gutes Lehrangebot machen zu können.

 

Hochwertige digitale Lehre kostet viel Zeit und Geld – 
das muss man sich dann auch als leisten können und wollen

 

Damit ist bereits der zweite Aspekt angesprochen: die Ressourcenfrage. Wer glaubt, dass digitale Lehre zu Kosteneinsparungen führen könne, der irrt. Dies ginge höchstens, wenn man unter digitaler Lehre vor allem das Bereitstellen von Inhalten auf Lernplattformen mit einigen Elementen gelegentlicher Interaktionen wie Chats und Ähnlichem verstünde. Das ist aber nach meinem Verständnis keine zukunftsfähige digitale Lehre, sondern allenfalls eine Notlösung.

 

Gute digitale Lehre sieht anders aus. Seit Jahren erarbeiten engagierte Lehrende mit Unterstützung von Spezialistinnen und Spezialisten für e-Learning neue Lehr- und Lernformate, die den Eigenarten digitaler Kommunikation gerecht zu werden suchen. Die Ergebnisse sind beeindruckend. Nahezu alle Hochschulen haben für ihre Dozierenden auf der Basis dieser Erkenntnisse Unterstützungsseiten im Internet zur Verfügung gestellt, auf denen Beispiele guter Online-Lehre zu finden sind. Schaut man sich die Seiten genauer an, stellt man fest, dass gute Digitallehre viel Zeit kostet, und das nicht nur am Anfang.

 

Deshalb erproben wir an der Universität Potsdam gerade Möglichkeiten der Anrechnung solcher Zusatzarbeit auf das Lehrdeputat. Das muss man sich aber als Hochschule leisten können und wollen. Ich bin mir nicht sicher, ob das Erfordernis erheblicher zusätzlicher Ressourcen, und zwar auf Dauer, bereits allen Entscheiderinnen und Entscheidern in Politik und Hochschulen präsent ist. Ich favorisiere eine maßvolle und abgestimmte Implementierung digitaler Elemente in die Hochschulcurricula. So können die Vorteile guter Konzepte der digitalen Lehre voll zum Tragen kommen. Wollte man hingegen das, was als Notnagel dieses Semester gut gehalten hat, einfach ungeprüft weiterlaufen lassen, käme digitale Lehre vermutlich schnell in Verruf. Die Chancen des Digitalsemesters wären verspielt.

 

Es droht die Erosion der Hochschule
als Ort des sozialen Miteinanders

 

Und es gibt noch einen dritten – einen institutionellen – Grund für eine schnelle Rückkehr zur Präsenzlehre. Universitäten und Hochschulen habe ihre Existenzberechtigung als Orte der Bildung, der Kultur und des sozialen Miteinanders. Sie scheinen aus unserer Gesellschaft nicht mehr wegzudenken. Aber es gibt auch Gefährdungen. Die fortschreitende Akademisierung bringt paradoxerweise gewisse Erosionserscheinungen für die Stellung der angestammten Bildungseinrichtungen Universität und Fachhochschule mit sich.

 

Vor allem die Universitäten haben in den vergangenen Jahren viel von ihrer Exklusivität verloren. Das mag man unter vielen Aspekten begrüßen. Es muss aber meines Erachtens weiterhin so sein, dass man als junger Mensch zur Uni geht, und zwar physisch, um bestimmte Fächer zu studieren. Das muss auch für die Politik eine Selbstverständlichkeit bleiben. Diskussionen, die im politischen Raum den Eindruck erwecken, man könne Vieles auch über Fernhochschulen und digitale Lehrgänge abwickeln, wären auf lange Sicht fatal. Ich bin ebenso gegen Überlegungen, künftig die Lehrlast vor allem bei den Fachhochschulen zu verorten, um an Universitäten mehr forschen zu können. Das widerspräche der Einheit von Forschung und Lehre und würde die Universitäten auch im Wettbewerb um staatliche Ressourcen schwächen.

 

Im Ergebnis sollten sich die Hochschulen in der Pandemie auch ihrer Stärken als Präsenzeinrichtungen für die Bildung vor allem junger Menschen bewusst werden. Es gibt insoweit keinen signifikanten Unterschied zwischen Kindern und jungen Erwachsenen: Auch junge Erwachsene lernen am besten auf der Grundlage sozialer Interaktion und müssen bald die Möglichkeit haben, wieder bei uns präsent zu sein.

 

Solange Corona nicht besiegt ist, müssen wir vorsichtig bleiben. Auch ich bin daher für den breiten Einsatz digitaler Formate, solange und soweit dies notwendig ist. Doch es wäre zu einfach, mit der heißen Nadel gestrickte Konzepte und Formate perpetuieren zu wollen. Das schadet mehr, als es nützt – vor allem der digitalen Lehre selbst.



Wie wird das Wintersemester?

Siehe zu der Debatte auch den Beitrag
der Düsseldorfer Unirektorin Anja Steinbeck:

Anwesenheitspflicht? Anwesenheitsrecht!


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Kommentare: 4
  • #1

    Ruth Himmelreich (Freitag, 05 Juni 2020 10:48)

    Leider geht es zumindest in meinem Bundesland nicht darum, ob man im Herbst ein Digitalsemester "will", sondern dass man es absehbar machen muss. Wir werden im Herbst immer noch ein backlog von Prüfungen und nicht abgehaltenen Praxisveranstaltungen aus dem Sommer haben, die nachgeholt werden müssen. Dazu der Prüfungs- und Praxisbetrieb des Wintersemesters und die Einschränkung, dass man die ganz großen Formate mit 500+ Teilnehmern voraussichtlich noch nicht wird durchführen können. Wie soll das alles auf den verfügbaren Flächen dargestellt werden, wenn man nicht weiterhin alles digital macht, was nur geht?

    Dazu möchte die Politik trotz des hohen Aufwands der digitalen Lehre nichts an der Lehrverpflichtungsverordnung ändern - klar doch, weil sonst die Studienplatzkapazität nach unten gehen würde. Das müsste sie eigentlich auch, wenn man die Studierenden, die man hat, gut betreuen möchte, was künftig noch schwieriger wird. Oder man gibt mehr Geld ins System, was man auch nicht will. Daher macht die Politik die Augen zu und stopft das System ordentlich voll. Hauptsache, die Leute kriegen einen Studienplatz, und die Eltern machen deswegen keinen Ärger - wie es dann tatsächlich mit der Studienqualität aussieht, ist ja Wumpe.

  • #2

    tmg (Freitag, 05 Juni 2020 14:10)

    Ich sehe es so wie Frau Himmelreich. Es gibt gute Gründe,
    im Herbst große Teile des Lehrbetriebs weiter digital ablaufen zu lassen. Dazu gehört auch, dass völlig unklar ist, wie die Infektionslage im Herbst aussehen wird. Solange der Impfstoff nicht vorhanden ist, werden auch viele Hochschullehrer im fortgeschrittenen Alter wie ich auf Präsenzlehre lieber verzichten.

    Inzwischen mehren sich ja die Stimmen besorgter Kollegen, die Befürchtungen äußern, Hochschulleitungen könnten im 'Coronahandstreich' das Format der Präsenzlehre substantiell attackieren. Ich unterstütze die angegebenen Argumente pro Präsenzlehre ausnahmslos, teile aber nicht die Befürchtungen der Kollegen. Keine Hochschulleitung wird ernsthaft versuchen, ihre Universität in eine Fernuniversität Hagen umzuwandeln.
    Meine eigene, jetzt knapp zweimonatige Erfahrung mit Online Lehre in Mathematik per live über zoom + IPad gehaltener Vorlesung und live über zoom abgehaltenen Übungen, ist absolut ernüchternd. Technisch funktioniert alles. Aber es kommt zu fast keiner Kommunikation mehr, alle werden zu völlig isolierten Einzelkämpfern. Für (sehr) gute und disziplinierte(!) Studenten ist das unproblematisch. Alle anderen erleben jetzt ihr blaues Wunder. Insofern: nichts wie zurück zur Präsenzlehre - sobald es risikofrei geht.

  • #3

    tutnichtszursache (Samstag, 06 Juni 2020 20:58)

    Als jemand, der immer wieder mit (innerlich) geöffnetem Mund voller Erstaunen dasteht, wenn Digitalisierungs- Aficionados von den unabwendbaren Vorzügen digitaler Hochschulen schwärmen, erlaube ich mir die Hoffnung, dass nach den Erfahrungen des Sommersemesters 20 (ff.?) mehr Leute als bisher lautstark widersprechen werden, wenn behauptet wird:
    * Digitale Lehre ist die (einzige) Zukunft
    * Digitale Lehre ist billiger und einfacher
    * Digitale Lehre ist didaktisch unübertrefflich
    * Alles Analoge ist rückständiger, bald verschwindender Quatsch.

    All sowas behaupten nämlich die Digitalisten, v.a. wenn sie unter sich sind, unablässig und glauben leider auch selbst daran. Widerspruch haben sie nach meinem Eindruck bisher selbst kaum geerntet. Stattdessen haben die meisten geschwiegen, wenn die Digitalisierungselogen gesungen wurden, und sich ihren Teil gedacht. Auch ich selbst habe irgendwann meine zaghaften Versuche, kritische Anmerkungen zu machen, eingestellt - zu schnell gilt man als hoffnungslos rückständiges Relikt.

    Wie gesagt, diese Kommunikationssituation von "vor Corona" ändert sich hoffentlich bald. Beiträge wie dieser hier sind Balsam auf die Seele.

  • #4

    Ruth Himmelreich (Montag, 08 Juni 2020 10:45)

    Persönlich kenne ich keinen "Digitalisten", der behauptet, die Digitalisierung mache die Lehre billiger. Wenn das so einfach wäre, könnte man ja alles per MOOC organisieren; die Digital Natives kümmern sich selbstbestimmt und frei um ihre Bildung und der Steuerzahler freut sich auch.

    So funktioniert es aber nur bei einem ganz geringen Prozentsatz der Studierenden - der typische Studienstiftler käme damit zurecht. Der große Rest braucht aber Betreuung, die digital mindestens so aufwendig ist wie in Präsenz. Eher noch mehr, denn Sie müssen die fehlende soziale Interaktion, die die Studis zusätzlich bei der Stange hält, auch noch ausgleichen.