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Bildungsoffensive statt "Homeschooling"!

Ein Plädoyer gegen die Sprachver(w)irrung in der Corona-Krise. Von Susanne Lin-Klitzing und Harm Kuper.

Susanne Lin-Klitzing und Harm Kuper. Fotos: privat.

GEHT ES IHNEN AUCH SO? Wir staunen über die inflationäre und falsche Verwendung des Begriffs "Homeschooling" in der Corona-Krise: Die Bezeichnung für das, was in der Zeit der Schulschließungen in Deutschland angeblich stattfand und stattfindet, was aber gar kein "Homeschooling" ist. Die korrekte inhaltliche Verwendung finden wir, wenn wir beispielsweise in die USA schauen. Dort gibt es keine Schul-, sondern lediglich eine Unterrichtspflicht. Der Unterricht kann – gesetzlich problemlos – jederzeit von den Eltern wahrgenommen werden. Das ist erklärtes Ziel der "Homeschooler". Dementgegen ist in Deutschland zwar gemäß Grundgesetz-Artikel 6 die Pflege und Erziehung der Kinder die den Eltern zuvörderst obliegende Pflicht, aber die Schule steht nach Artikel 7 unter der Aufsicht des Staates. In Deutschland gilt nicht nur eine Unterrichts-, sondern auch eine Schulpflicht. 

 

Trifft die Bezeichnung "Homeschooling" denn überhaupt die Verlagerung des Lehr-Lern-Geschehens in den häuslich-familiären Bereich während der Corona-Zeit? Vorderhand mag man an die Bildung einer sprachlichen Analogie zum "Homeoffice" denken - das im angelsächsischen Sprachraum allerdings auch weitestgehend unbekannt ist oder die Bezeichnung des Innenministeriums meint. Beschreibt "Homeschooling" zutreffend den von einem Tag zum anderen erfolgenden Rollenwechsel von Eltern zu Lehrkräften, von Kindern zu Schülerinnen und Schülern Zuhause? Organisiert sich die Interaktion in Familien unter dem Einfluss von Corona unterrichtsförmig? Glaubhaft ist vielen Berichten in den öffentlichen Medien eher zu entnehmen, dass dies nicht und allenfalls unter sehr unwahrscheinlich günstigen Umständen, aber selbst dort nur eingeschränkt der Fall ist.

 

Der Begriff "Homeschooling" steht für eine gegenüber der öffentlichen Schule dezidiert kritische Bewegung, in der curriculare Normen der Wissenschaftlichkeit, der weltanschaulichen Neutralität und der Liberalität sowie die Beschulung mit anderen in der Schule aufgekündigt und durch partikulare, oft rigide Weltanschauungen ersetzt werden sollen. Der Unterricht in häuslich-familiärer Abgeschiedenheit dient dabei nicht als Notlösung, die in Ermangelung organisatorischer Alternativen gewählt wird, sondern folgt einem Programm, das sich willentlich von der Öffentlichkeit distanziert. 

 

Eine unhinterfragte Verwendung
des Begriffs ist gefährlich

 

Selbst wenn vorausgesetzt werden könnte, dass ein solches Programm mehrheitlich nicht gemeint ist, wenn dieser Tage von "Homeschooling" die Rede ist, ist doch angesichts mancher demokratie-kritischer Umtriebe, die uns in der Vor-Corona-Zeit bewegt haben und die jetzt mit neuen Verschwörungstheorien durchaus zu befürchten sind, eine unhinterfragte Verwendung der Bezeichnung "Homeschooling" eher gefährlich und verwundert angesichts des deutlichen Wunsches der Mehrheit der Bevölkerung nach einer möglichst baldigen Rückkehr der Kinder und Jugendlichen in den staatlichen Schulunterricht um so mehr. "Homeschooling" wird nämlich längst mit einer außergewöhnlichen Stressbelastung in einer beengten Welt von Arbeitsblättern, Motivationskonflikten und verdichteter Familienarbeit konnotiert. Schlimmer noch: Die Bezeichnung "Homeschooling" vergrößert eher den (berechtigten) elterlichen Stress und elterliche Überforderung bei der Dauerunterstützung ihrer Sprösslinge wie unter einem Brennglas. Unterrichtskritische Aspekte, die sonst gegenüber Schule und dem herkömmlichen Unterricht vorgebracht werden wie mangelnde individuell eingeteilte, interessenorientierte Lernzeit der Schülerinnen und  Schüler, zu wenig kreatives Arbeiten und eigenes Problemlösen in freier Zeiteinteilung, treten unter diesem Brennglas zurück. Schule wird im Wesentlichen in ihrer kustodialen Funktion – als Entlastung der Eltern von Betreuungspflichten – erkenntlich. Aber erschöpfen sich darin ihre Werte?

 

Nein, denn die staatliche Schule in Deutschland ist der gesellschaftliche Sozialisationsort und bietet einen grundgesetzlich legitimierten Erziehungs-, Bildungs- und Kommunikationsraum für Kinder und Jugendliche. Sie ist ein Ort des Miteinanders, des Austauschs, des Wissenserwerbs, der begründeten und argumentativen Auseinandersetzung, der Einübung von demokratischen Regeln, ja auch der Einordnung in ein soziales Gefüge mit transparenten Regeln des erzogenen und erziehenden Miteinanders wie ihrer Infragestellung, die Kinder und Jugendliche mit allen Vor- und Nachteilen aus ihrer häuslichen familiären Routine und der notwendigen, in der Regel Geborgenheit vermittelnden "Beschränktheit" herausführt und sie an "fremden" Erfahrungen wachsen lässt.

 

Kinder und Jugendliche sollen in der Schule im und für den Unterricht erzogen, sie sollen im Hinblick auf ihr Lernen und Leisten beraten und beurteilt werden, und es wird zudem intendiert, dass sie sich in der Auseinandersetzung mit Bildungsinhalten in einem integrativen und demokratischen Miteinander auch selbst bilden. Das ist mehr als betreut, qualifiziert und auf Abschlüsse vorbereitet zu werden, wenngleich dies wesentliche Funktionen von Schule beschreibt, nämlich die Qualifikation, Allokation, Integration von Schülerinnen und Schülern sowie die Legitimation des demokratischen Staates und seine zunehmend bewahrend-betreuende Kustodial-Funktion in einer arbeitsteiligen Gesellschaft. Schule soll dabei immer sowohl persönlichkeitsbildende als auch gesellschaftliche Funktionen umfassen. Dann erfüllt sie ihren Sinn vollumfänglich.

 

Was fehlt(e) davon in der Corona-Zeit? Die Schule als unersetzbarer Ort der personalen Interaktion zwischen Lehrkräften und Schülern und zwischen den Schülern und Schülerinnen untereinander fehlte, ebenso in der Regel der qualifizierte Unterricht mit festen Zeiten für einen gemeinsamen Anfang und einem Ende, der einen strukturierten Lerntag mit gemeinsamen Zielen und mit einer deutlichen Abwechslung vom herkömmlichen Konsumalltag leistet.

 

Aber auch ein noch so gut angeleiteter (digitaler) Fernunterricht begleitet Kinder und Jugendliche natürlich nicht im selben Maße, wie es die Institution Schule mit ihrem Personal leistet. Selbst ein gelingender Fernunterricht unterstellt Schülerinnen und Schüler stärker ihrer eigenen Selbststeuerung und Selbstregulation (angestrebte Ziele für Schülerinnen und Schüler in der Vor-Corona-Zeit), ihrer "Eigenaufsicht" und gegebenenfalls der Aufsicht ihrer Eltern und Familienmitglieder, ohne die Voraussetzungen dafür sichern zu können. Erschwerend kam aufgrund der kultusministeriellen Anordnungen in der Corona-Zeit das zeitweilige Aufkündigen aller Verpflichtungsgrade für die Schülerinnen und Schüler hinzu. 

 

Schlussfolgerungen für den
Unterricht 
in der Zeit mit Corona

 

Die Pandemie ist (noch) nicht vorbei; wir leben nicht in einer "Nach-Corona-Zeit", sondern in einer Zeit mit Corona. Was sollte deshalb bisher aus den gemachten Erfahrungen resultieren? 

 

• Sicher gerade kein Auftrag zu einem richtig oder falsch verstandenen "Homeschooling", sondern eher eine schulische Bildungsinitiative, durch die professioneller Unterricht durch Lehrkräfte und in der Schule unter bestimmten Bedingungen - zumindest in hybrider Form – wieder stattfinden kann. 

• Neben vielem, was hier unerwähnt bleiben muss, aber auch die immaterielle Wertschätzung von Schulen und Unterricht durch professionelle Lehrkräfte in unserem demokratischen Rechtsstaat mit den vielen verschiedenen Funktionen für Kinder, Jugendliche, Eltern, den Staat.

• Gerade nicht eine solche Initiative, wie sie jetzt in Thüringen anläuft, wo der Datenschutzbeauftragte "Bußgelder für Lehrer {prüft}, die für ihren #Fernunterricht schnelle Lösungen (zoom u.ä.) gesucht haben...“, worauf Annette Theis, eine auf Twitter aktive Lehrerbildnerin und Lehrerin, in einem Tweet vom 7. Juni postwendend antwortete: "Bußgeld von 1000,- für Lehrkräfte? Kein Problem! Da ich nie wieder meine privaten Geräte für dienstliche Zwecke zur Verfügung stellen würde, käme ich zukünftig günstiger weg. Ich spare: PC, Tablet + Pencil + Adapter, Drucker/Kopierer, App-Käufe...", sondern:

• eine digitale Grundausstattung der Schulen, der Lehrkräfte und der Schülerinnen und Schüler für den Präsenzunterricht und für ein digital unterstütztes Lernen von Schreibtisch zu Schreibtisch, das im Pandemie-Fall bzw. Hotspot-Fall wie jetzt in Göttingen dazu dient, dass der Präsenz-Unterricht in ausgewählten Funktionen "ersetzt" werden kann. Genau dann werden Eltern nicht mehr zu ungewollten "Homeschoolern" werden, und genau dann ist es tatsächlich und vollends angemessen, den Begriff "Fernunterricht" statt "Homeschooling" zu verwenden. 

 

Susanne Lin-Klitzing ist seit 2017 Bundesvorsitzende des Deutschen Philologenverbandes. Seit 2007 ist sie Professorin für Schulpädagogik für die gymnasiale Lehrerbildung Universität Marburg. 

 

Harm Kuper ist seit 2006 Professor für Weiterbildung und Bildungsmanagement an der Freien Universität Berlin. Seit 2018 ist er Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft.



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Kommentare: 5
  • #1

    Elternteil (Dienstag, 16 Juni 2020 11:50)

    Nein, mir geht es überhaupt nicht so. Die Bezeichnung Homeschooling ist kein Begriff, den ich irgendwie mit Verschwörungstheorien oder weltanschaulichen Gefahren in Verbindung bringe, er bezeichnet einfach nur das, was viele Eltern in den letzten Wochen de facto gemacht haben: die Kinder zu Hause unterrichtet, meist in der Funktion der unbezahlten Hilfslehrkraft. (Wir hatten in Spitzenzeiten ca. 20 Arbeitsblätter pro Woche pro Kind zu erledigen, ohne dass die Lehrer*innen jemals angefragt hätten, wie es denn so läuft). Wollen Sie da stattdessen von "heimischer Bildungsoffensive" sprechen? (Sie bieten keinen alternativen Begriff an.)

    Die Probleme des gewöhnlichen Schulalltags werden mir hier außerdem zu stark an den Rand gedrängt: es gibt nach wie vor viel zu viele Kinder, die an und in der Schule leiden, mit ihrer grundgesetzlich legitimierten Funktion des Beurteilens und Erziehens. Das der Familienalltag hier auch noch pauschal zum "Konsumalltag" herabgewürdigt wird, ist absurd. Ich freue mich darauf, wenn für meine Kinder der Präsenzschulalltag wieder beginnt, aber das bedeutet nicht, dass ich auf beiden Augen blind bin, was unsere Schulen angeht. Diese Selbstbeweihräucherung unseres Bildungssystem finde ich befremdlich.

  • #2

    Gymnasiallehrerin - G. Kasigkeit (Dienstag, 16 Juni 2020 22:03)

    Eltern mögen die Zeit ohne Präsenzunterricht als „Homeschooling“ empfunden haben. Das ist auch verständlich und lag oft nicht an Lehrer*innen, die nicht mit DER Digitalisierung klarkamen oder „nicht wollten“. Hard- und Software ließen zu wünschen übrig, die Belastbarkeit von Verbindungen/dem Netz u.v.m. ebenso.
    Bei Schüler*innen waren fehlende Endgeräte, Koordination (Geschwister, Homeoffice der Eltern... ), Sorgen, die die Zeit mit sich brachte... an der Tagesordnung und erschwerten das Lernen zu Hause.
    Da Lehrer*innen auch Menschen sind, hatten auch sie mit den letztgenannten Herausforderungen zu kämpfen.
    Es bringt nichts, sich Vorwürfe zu machen. Die Wenigsten haben sich zurückgelehnt.
    Mit den Möglichkeiten wie am Ende des Artikels beschrieben, wäre guter Fernunterricht machbar. Endgeräte bekommen einige Schüler*innen auch gerade.
    So wären Eltern nicht in der Weise belastet wie vor wenigen Wochen noch. Sie könnten und sollten ihre Kinder lernen lassen. Sicher benötigen jüngere Kinder mehr Zuwendung und Unterstützung, größere sind selbstständiger ... Ausprobieren, Fehler machen, weiterlernen, ... alles soll sein.
    Es geht wesentlich besser mit der richtigen Ausstattung und modernem Know how. Viele Portale haben ihre Tore weit geöffnet, Verlage gaben Materialien frei... jetzt kommen die Einschränkungen, jetzt soll gezahlt werden. Der Datenschutz macht nach wie vor Probleme, Entscheidungen Verantwortlicher werden noch immer mit heißen Nadeln gestrickt und zeugen oft nicht vom Verständnis der Situation .... Es ist nicht die „Zeit nach Corona“, wir sind mittendrin!
    Wir sollten das, was funktioniert hat, sehen, es weiter und besser nutzen, wir werden einfordern, was wir brauchen (s. Artikel)!
    Erfolgreich können wir nur gemeinsam sein, liebe Eltern, es geht um Ihre und unsere Kinder. Sie sollen, wenn erforderlich, Fernunterricht bekommen und nicht „Homeschooling“.

  • #3

    Frederik O. (Mittwoch, 17 Juni 2020 09:36)

    @Elternteil

    Ich denke, dem Beitrag geht es nicht um eine Herabwürdigung der elterlichen Leistung rund um die Schulschließung in der Corona-Krise, sondern zunächst einmal um eine Korrektur der inflationären, falschen Verwendung des Begriffs 'Homeschooling'. Homeschooling meint eben nicht nur 'Unterricht zuhause', sondern ist (insbesondere in den USA) ein Kampfbegriff für eine (häufig) pseudo-libertäre Abkehr vom gesellschaftlichen Konsens. Es geht dabei eben nicht darum, sein Kind bestmögliche Bildung zu ermöglichen, sondern das eigene verquere Weltbild zu vermitteln. Über Schulen als staatlich-gesellschaftliche Institutionen vermittelte Kritik stört da nur. Völlig zurecht wird daher der Begriff des Homeschoolings und seiner Verwendung in den deutschen Medien in diesem Beitrag kritisiert.

    Vor diesem Hintergrund würde ich behaupten, dass Sie kein Homeschooling gemacht haben. Stattdessen haben Sie Ihre Kinder bei schulisch-initiierten (schulisch hier als Institution und nicht als Ort verstanden) Bildungsprozessen unterstützt. Sie kritisieren sicherlich aus gutem Grund, dass das offenbar nicht gut geklappt hat, nur: Die Schuld dafür trifft in aller Regel nicht die Lehrkräfte, sondern die Verantwortlichen in den Kultusministerien, die den digitalen Wandeln an und für Schulen (trotz nicht wenigen Warnungen und Initiativen) verpennt haben. Gut gemachter digitaler Fernunterricht (zugegeben: nicht so schmissig wie ‚Homeschooling‘) erfordert auch eine entsprechende Ausbildung und Ausstattung der Lehrkräfte. Das hat man den Schulen aber bislang größtenteils von Seiten der Bildungspolitik enthalten.

    Außerdem erkenne ich weder eine „Herabwürdigung“ des Familienalltags, noch eine „Selbstbeweihräucherung des Bildungssystems“. Schulen haben nicht nur einen Betreuungsauftrag, sie sind keine Bespaßungsanstalten, damit Eltern ihrem Beruf nachgehen können. Dazu wurden sie aber von Politik und auch von Eltern in der Corona-Krise degradiert. Das staatliche Schulsystem hat eben auch den zentralen Auftrag, junge Menschen in unsere freiheitlich-demokratische Gesellschaft zu integrieren und das geht nur im persönlichen, sozialen Austausch, am besten vor Ort.

  • #4

    M. Bergmann (Donnerstag, 18 Juni 2020 10:55)

    Ja, es ist richtig, dass der in den vergangenen Wochen betriebene Fernunterricht in den wenigsten Fällen die Bezeichnung "Homeschooling" verdient. Nicht nur die äußeren Umstände, auch das außerschulische Lernen eines Heimschülers unterscheiden sich fundamental vom pandemiebedingten Distanzlernen der letzten Wochen.

    Die Entscheidung zur Bildung zuhause wird beim Homeschooling freiwillig getroffen. Im Gegensatz zu einer plötzlichen aufgezwungenen Situation aufgrund einer das alltägliche Leben völlig verändernden Katastrophe, treffen Homeschoolingeltern die bewusste Entscheidung, die Verantwortung für die Bildung ihrer Kinder selbst zu übernehmen.
    Auch erschöpft sich das Lernen im "echten Homeschooling" nicht in der derzeitig im Corona-Fernunterricht betriebenen Abarbeitung von außen vorgegebener Unterrichtsmaterialien, sondern findet in einer individuell an das jeweilige Kind und seine Interessen angepassten Lernumgebung statt, in der die/der Lernende selbstbestimmt ihre/seine Bildung aktiv gestaltet.

    Der Begriff "Homeschooling" steht dabei mitnichten in erster Linie für eine willentliche Distanzierung von der Öffentlichkeit. In den wenigsten Fällen pflegen Homeschooler "partikulare, oft rigide Weltanschauungen". Bereits 2008 beschreibt Spiegler in seiner vom Deutschen Bundestag zitierten Ausarbeitung eine große Diversität deutscher Homeschoolingfamilien (die Eltern übrigens "relativ häufig Pädagogen"). Im vergangenen Jahrzehnt dürften sich die Mehrheitsverhältnisse weiter verschoben haben, hin zu vornehmlich pädagogischen und pragmatischen Gründen, die Familien in Deutschland zum Homeschooling veranlassen.

    Die in diesem Artikel betriebene Idealisierung und als angebliches Alleinstellungsmerkmal propagierte Sozialisierungsfunktion der Schule, möchte ich angesichts der massiven Probleme an deutschen Schulen mit Mobbing, Ausgrenzung und Gewalt, zumindest infrage stellen und verweise unter anderem auf die Pisa-Studie der OECD von 2017.
    Der immer wieder bemühten Mär angeblicher sozialer Isolation im Zusammenhang mit Homeschooling, will ich entschieden widersprechen. Ich behaupte sogar, dass die Vielfalt der sozialen Kontakte des Heimschülers mit Menschen jeglichen Alters und verschiedenartigster Herkunft, die des klassischen Schülers mit den tagtäglich immergleichen Personen in altershomogenen Gruppen bei Weitem übersteigt.
    Auch hier stimmt, dass das derzeitige pandemiebedingt innerfamiliär isolierte Distanzlernen mit dem tatsächlichen Homeschooling mit seinen zahlreichen Außenkontakten, Vereinsaktivitäten und außerhäuslichen Bildungsgelegenheiten in keiner Weise vergleichbar ist.

    Ja, "das gesamte Schulwesen steht unter Aufsicht des Staates" (Art 7 GG). Dies schließt Homeschooling jedoch keineswegs aus - möglicherweise ist sogar das Gegenteil der Fall. Zu diesem Schluss kommen zumindest mehrere verfassungsrechtliche Bewertungen (siehe z.B. Handeschell 2012).
    Es wäre aus rechtlicher Sicht ein Leichtes, die Schulbesuchspflicht aufzuheben und Homeschooling als Bildungsalternative zuzulassen. Dies sehen wir aktuell in mehreren Bundesländern, die überraschend pragmatisch von der Länderhoheit im Bildungswesen in eben dieser Hinsicht Gebrauch machen.

    Fakt ist, dass Schule in Deutschland nicht wegzudenken ist - neben ihrer nicht zu leugnenden Betreuungsfunktion, erfüllt sie einen wichtigen Bildungs- und Erziehungsauftrag, den viele Eltern nicht übernehmen können oder wollen.
    "Echtes Homeschooling" stellt deshalb auch keine Gefährdung der Legitimation der Schule dar - weshalb dessen Degradierung in diesem Artikel unnötig ist. Es wäre vielmehr wünschenswert, würde Homeschooling - wie in fast allen demokratischen Ländern weltweit - als weiteres Angebot in der Bildungslandschaft begriffen und gewürdigt.

  • #5

    J. Finger (Mittwoch, 02 September 2020 18:44)

    Ein sehr gelungener Beitrag mit wichtigen Impulsen! Es zeigt sich einmal mehr, dass ein differenzierter Blick auf Schule die Perspektive ändern kann. Dies sollte auch politisch Verantwortlichen ein Beispiel sein!