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Das Experiment mit der Ferne

Die Universitäten sollten die Erfahrungen des Digitalsemesters aufarbeiten und Schlussfolgerungen für die Zeit nach Corona ziehen. Auch für künftige Berufungsverfahren. Ein Gastbeitrag von Roger Erb.

Roger Erb ist Professor für die Didaktik der Physik und Vizepräsident für Studium und Lehre der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Foto: Uwe Dettmar.

DIE UNIVERSITÄT ist der Ort, um neue Entwicklungen anzugehen. Sie ist der Ort, um die dafür nötigen Voraussetzungen zu erörtern, um Experimente zu planen und ihre Folgen zu diskutieren. Als Forum vielseitiger Kommunikation kann die Universität zielgerichtet auf gesellschaftliche Herausforderungen reagieren und Fragen aufnehmen. 

 

Krisen wie die Auswirkungen der Virus-Pandemie sehen wir natürlich auch an einer Universität mit Bestürzung, aber zugleich erkennen wir die Vielfalt der Herausforderungen als Gelegenheit. Vielleicht begründet aus der langen Tradition unserer Einrichtungen, vielleicht wegen unseres Vertrauens in die inneren Mechanismen im Spannungsfeld von Meritokratie, Selbstverwaltung und Mitbestimmung haben wir ein Interesse, neue Fragen nicht nur pragmatisch, sondern auch grundsätzlich zu bearbeiten – verbunden mit einem gewissen Argwohn, vorschnell oder "agil" zu agieren.

 

Genau diese gemischten Gefühle erleben wir gerade auch, was die Situation von Studium und Lehre angeht, also einen wesentlichen Teil unserer Kernaufgaben. Wir können sie nicht mehr so gewährleisten,  wie es erforderlich wäre und wie wir es gewohnt sind. Es zeigt sich, dass wir auf den plötzlich notwendig gewordenen Formatwechsel von der Präsenzlehre hin zur Fernlehre nur unzureichend vorbereitet waren. 

 

Wir haben wie immer ausgiebig beraten,
nun hat uns die Wirklichkeit überholt

 

Wie jedes grundsätzliche Problem, so haben wir Universitäten auch die Möglichkeiten virtueller Lehre in der Vergangenheit ausgiebig beraten und die für eine vorsichtige Ergänzung der Präsenzlehre notwendige Infrastruktur geschaffen. Trotz des Beharrungsvermögens gab es Veränderungen im Lehrbetrieb. Wir nehmen die Studierenden heute stärker als Lernende wahr und haben uns getraut, unser Portfolio an Lerngelegenheiten zu erweitern. Sehr viel grundsätzlicher haben wir allerdings nicht diskutiert.

 

Nun hat uns die Gegenwart überholt. Durch die Kontaktbeschränkungen war es notwendig, die Facetten virtueller Lehre ohne ausreichende Analyse in die Tat umzusetzen. Für synchrone Lehre wurden Videokonferenzsysteme angeschafft, für asynchrone Formate Beispiele kommuniziert. Mündliche Prüfungen finden nun auch aus der Ferne statt, für Klausuren wird noch nach Lösungen gesucht. Prüfungsordnungen haben wir angepasst, um alternative Prüfungsformen zu erlauben und um Erleichterungen für die Studierenden zu ermöglichen. 

 

Das alles hat unerwartet gut geklappt, jedenfalls bislang. Und natürlich können wir im Augenblick zur Beurteilung nur heranziehen, was überhaupt an Lehre angeboten wird – wieviel davon tatsächlich dem Studienerfolg nutzt, dagegen noch kaum. Sicher wird einiges an Wissensvermittlung und Kompetenzaufbau auf der Strecke bleiben, ganz abgesehen davon, dass die dringend erwünschte und von uns erwartete Sozialisierung der Studierenden in die Wissensgesellschaft in der momentanen Lage kaum geleistet wird. 

 

In Form eines Offenen Briefes haben daher Kolleginnen und Kollegen an die Bedeutung der Präsenzlehre erinnert. Und zwar nicht nur für diejenigen Fächer, die schon aus praktischen Gründen bestimmte Lehrveranstaltungen nur vor Ort anbieten können: Man denke beispielsweise an Experimentalpraktika in den Naturwissenschaften. Sondern natürlich benötigen nahezu alle Fächer Lehrveranstaltungen, die den direkten Kontakt beinhalten – eine Form des Austauschs, der sich durch eine Videokonferenz nicht ersetzen lässt, da sich darin die Bandbreite menschlicher Kommunikation nicht wie in einem unmittelbaren Gespräch wiederfinden kann. 

 

An die Bedeutung der Präsenzlehre zu erinnern ist gut –
in unmittelbarer Gefahr ist sie aber nicht

 

Doch droht tatsächlich die Gefahr, dass die Präsenzlehre verloren geht? Kaum sind Lehrende anzutreffen, die sich nicht die Rückkehr zur Präsenzlehre wünschen – und zwar so schnell wie möglich. Und auch wer nicht mehr so stark in die Lehre eingebunden ist, verspürt in jeder virtuellen Gremiensitzung, welchen Wert der direkte Kontakt hat. Es ist daher gut, an die Bedeutung der Präsenzlehre zu erinnern, eine unmittelbare Gefahr besteht zum Glück aber nicht.

 

Wir dürfen dennoch diese ungewohnte Lehr- und Studiensituation nicht unreflektiert verstreichen lassen. Schon jetzt, während diese Exploration noch andauert, müssen wir die Entwicklung aufarbeiten. Wir müssen jetzt Evaluationsinstrumente bereitstellen, um Studierende und Lehrende zu ihren Erfahrungen mit der virtuellen Lehre zu befragen. Unter dem Evaluationsvorbehalt müssen wir Neues wagen, was die virtuelle Lehre selbst betrifft.

 

Wir müssen aber auch die Frage beantworten, wo sie die Präsenzlehre sinnvoll ergänzen kann, und auch, was sich an der Präsenzlehre selbst ändern muss. Es stellt sich erneut die Frage, wo Prüfungsformate wirklich gut zu Inhalten und Formen der Lehrveranstaltungen passen und wo nicht.

 

Ebenso spannend ist, wo Anwesenheitspflicht sich wirklich als ein probates Mittel herausstellt, um den Lernprozess zu fördern, und über welche Kompetenzen Studierende verfügen müssen, um erfolgreich an virtueller Lehre teilnehmen zu können. Wir benötigen einen Ausbau der hochschuldidaktischen Stellen, um gezielt Fragestellungen zu untersuchen, etwa den Erfolg von Unterstützungsstrukturen oder die Wirkung von Blocklehrveranstaltungen.

 

Und wir müssen die Kompetenzen, die Kolleginnen und Kollegen in Sachen virtueller Lehrformate mitbringen, bei Berufungen stärker in den Blick nehmen. Leistungen in der Forschung lassen sich dank etablierter Mechanismen leichter beurteilen als in der Lehre. Aber wir können und sollten uns während der Berufungs-Hearings und anhand eingereichter Konzepte erklären lassen, wie Bewerberinnen und Bewerber um Professuren Forschung und Lehre zusammendenken wollen. Und die Bereitschaft, an der Weiterentwicklung der Lehre zu arbeiten, können wir vielleicht sogar besser erkennen, wenn wir uns Beispiele virtueller Lehre anschauen.

 

Deshalb sollten wir uns bei jedem Berufungsverfahren Einblick geben lassen, wie Kandidatinnen und Kandidaten an ihrer bisherigen Hochschule die Präsenzlehre virtuell ergänzt haben, welches Portfolio sie sich aufgebaut und wie sie die Kommunikation mit den Studierenden betrieben haben.  

 

Wenn uns gelingt, das Engagement in der Lehre  – und gerade auch in der virtuellen Lehre – zukünftig stärker in Berufungsverfahren abzubilden, dann haben wir wirklich etwas gelernt aus dem Experiment mit der Ferne.


Wie geht es weiter mit der digitalen Lehre?

Siehe zu der Debatte auch diese Beiträge:

 

Anja Steinbeck: Anwesenheitspflicht? Anwesenheitsrecht!  (03.06.20)

Andreas Musil: Der Notnagel hält nicht ewig (05.06.20)

Jan-Martin Wiarda: Protest gegen ein Phantom (08.06.20)

Jan-Martin Wiarda: Im Hörsaal zu Hause (24.06.20)


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