Protest gegen ein Phantom
Ein Offener Brief heizt die Diskussion um die Rückkehr
der Hochschulen zum Präsenzbetrieb an. Doch der Debatte fehlt
die empirische Grundlage.
RUND 2000 UNTERZEICHNER hat der Offene Brief "Zur Verteidigung der Präsenzlehre" bislang gefunden. Ohne digitale und virtuelle Formate hätte sich das Sommersemester 2020 nicht durchführen lassen, konzedieren die Autoren, aber: "Wir weisen auf die Gefahr hin, dass durch die aktuelle Situation die herkömmlichen Präsenzformate an Wertschätzung und Unterstützung durch die Hochschulleitungen, die Bildungsministerien und die Politik verlieren könnten, eine Unterstützung, die sie in der Zeit nach Corona dringend brauchen werden." Der Vorsitzende des Deutschen Hochschulverbandes (DHV), Bernhard Kempen, der nicht unter den Unterzeichnern ist, kommentierte in der FAZ: "Wir sind keine Fernuniversitäten und wollen das auch nicht sein." Die Hochschullehrer, die der Hochschulverband vertrete, wollten nicht bei der digitalen Lehre bleiben.
Womit Kempen zugleich andeutet: Erstaunlich viel Wind für eine Debatte, die man eigentlich nur als Phantomdiskussion bezeichnen kann. Die Erstautoren des Offenen Briefes warnen vor einer angeblichen Bedrohung der Präsenzlehre, die sich empirisch in keiner Weise belegen lässt. Im Gegenteil: Die allermeisten ProfessorInnen, Studierenden und – ja, auch – Rektorate wünschen sich dringend zu einem gemeinsamen Lehren und Lernen vor Ort zurück. Gleichzeitig ist kein einziger öffentlicher Aufruf eines Rektorats, eines Bildungsministers oder einer Hochschulpolitikerin bekannt, zugunsten des Digitalen die Präsenzlehre zu schleifen.
Dass die Hochschulrektorenkonferenz (HRK) beschlossen hat, trotz der allmählichen Corona-Lockerungen das begonnene Sommersemester weitgehend im Digitalmodus zu Ende zu führen, ist dazu kein Widerspruch, sondern eine verantwortungsbewusste Entscheidung. Wie hätten denn zum Beispiel auf die Schnelle all die Studierenden in die Unistädte zurückkehren sollen? Das ist – neben den ganz anderen Massenverhältnissen an einer durchschnittlichen Hochschule – der wichtigste Grund, warum die Rückkehr zum Präsenzunterricht nicht wie an den Schulen funktionieren kann.
Dass etwa die Universität Oxford bereits angekündigt hat, auch das nächste Semester rein online stattfinden zu lassen, ist ebenfalls kein Indiz, dass eine vergleichbare Situation in Deutschland bevorstehen könnte. Britische, amerikanische oder australische Universitäten bewegen sich in einem internationalen Markt teilweise hoher Studiengebühren, von denen sie extrem abhängen. Sie müssen deshalb schon aus Marketinggründen sehr schnell und sehr früh Klarheit fürs Herbst-/Wintersemester schaffen. Die Wettbewerbssituation vorrangig staatlich finanzierter Hochschulen wie der deutschen ist eine andere; sie treffen ihre Entscheidungen grundsätzlich bedächtiger – was, vorsichtig formuliert, nicht immer ein Ausweis ihrer Strategiefähigkeit ist. Aber in diesem Fall lässt sich aus dem Vorbild Oxford & Co für sie wenig bis nichts ableiten. In Wirklichkeit hängt alles von der weiteren Entwicklung der Corona-Infektionszahlen bis zum Spätsommer ab.
Gut gemachte Digital-Lehre ist kein Sparmodell
Die demonstrative Sorge, Bildungspolitiker könnten die weitgehend gelungene Adhoc-Digitalisierung des Sommersemesters als Anlass zum Sparen nehmen – nach dem Motto: Ging doch auch so –, setzt folgendes voraus: dass man entweder selbst der Meinung ist oder aber von Bildungspolitikern annimmt, sie seien der Meinung, dass Online-Lehre eine billigere Alternative darstelle. Gut gemacht ist sie das aber keineswegs. Gut gemacht ist digital unterstützte Lehre immer eine Integration von Präsenzangeboten und online vermittelten, hochwertig produzierten Inhalten. Von einer "Fernuniversität" könnte das nicht weiter entfernt sein.
Dass den Hochschulen mittelfristig Einsparungen drohen könnten, ist indes nicht von der Hand zu weisen. Dagegen müssen sie sich rechtzeitig wappnen. Mit der digitalen Lehre allerdings hat das rein gar nichts zu tun.
Deutschland hat aus der Not heraus ein Stückweit – mehr nicht – Boden gut gemacht gegenüber digital weitaus fortgeschritteneren (und beileibe nicht schlechter finanzierten) Hochschulsystemen wie etwa den skandinavischen, wobei am Ende eben doch vieles Hauruck und nicht langfristig aufgesetzt war hierzulande. Aus diesem vor Corona längst überfälligen Aufbruch gleich eine Bedrohung der Präsenzlehre abzuleiten, hat insofern etwas Absurdes. Der Soziologe Armin Nassehi schrieb über den Offenen Brief auf Twitter: "Eine gratismutige Verteidigung von etwas, das niemand in Frage stellt. Ein bißchen wie Impfpflicht."
Die viel größere Gefahr besteht darin, dass sich da einige ProfessorInnen (und hoffentlich nicht einmal die Mehrheit der 2000 UnterzeichnerInnen) sehnlichst wünschen, nach der Ausnahmesituation wieder zum Altbekannten zurückkehren zu können. Endlich wieder reine Analog-Lehre machen zu dürfen. Womöglich wäre es Zeit, gegen diese Gefahr einmal eine Petition auf den Weg zu bringen.
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Wie wird das Wintersemester?
Siehe zu der Debatte auch:
Anja Steinbeck:
Anwesenheitspflicht? Anwesenheitsrecht!
Andreas Musil:
Kommentare
#1 - Die Petition würde ich so auch nicht unterschreiben,…
Der zweite Aspekt "Gut gemachte Digital-Lehre ist kein Sparmodell" ist richtig. Aber eben nur , wenn "gut gemacht". Und auch das generiert hohen Aufwand eine auf Präsenz konzipierte Lehrveranstaltung auf die sehr unterschiedlich möglichen Online-Formate umzustellen. Der Aufwand ist vergleichbar mit dem Erstellen einer neuen LV oder als Anfänger in einer Professur. Kann man erwarten, ja. Aber auch hier wird die Spreizung zwischen Wunsch und Realität sehr deutlich, der Unterschied der LV-Konzepte zudem gefühlt größer (hoch engagiert & toll bis PPT hochgeladen und das war's).
Und was zur Finanzierung der Hochschulen noch zu diskutieren ist, ist die strukturelle Disparität kleiner Hochschulen zu großen, bzw HAW´s zu Universitäten. Abhängig vom Personalstand und Infrastruktur können die bei Digitalisierung absolut notwendigen modernen Angebote unterschiedlich gut geleistet werden. Wenn zwischen Bundesländern oder sogar innerhalb eines Bundeslandes Gehaltsunterschiede existieren (Hierarchie in Berlin: der Bund €€€, das Land bzw Bezirke €€, Unis/Hochschulen €€ bzw €), dann wird klar wer am Ende der Nahrungskette das Nachsehen haben wird, wenn die angedeuteten "strukturellen Anpassungen" kommen werden. Dass "too Big to fail" der falsche Ansatz bzw Anreiz ist, sahen bzw sehen wir an Banken und Autoindustrie. Innovation kommt nur, wenn's auch den Großen wehtut. Daher mein Aufruf dort zu stärken wo strukturell Defizite auftreten. Das sind derzeit die MINT-Fächer und die HAW, die nicht mal eben vom PC aus zu lehren sind. Denn sonst verarmt die Bildungslandschaft in D hin zu BWL und IT (die Fachkolleg*innen sehen mir bitte den plumpen Vergleich nach, das Bild trägt aber :)
#2 - Dem Chronicle of Higher Education zufolge haben bislang 68%…
#3 - Unsere Hochschulen werden immer Präsenzhochschulen bleiben…
Die weiterhin restriktiven Vorgaben und Rahmenbedingungen aufgrund der Corona-Pandemie werden auch an den Hochschulen Auswirkungen bis weit in das zweite Halbjahr (vermutete zweite Infektionswelle ggfls. mit Grippewelle überdeckend), vermutlich sogar deutlich bis in die erste Hälfte des Jahres 2021 haben. Eine Verstärkung der Schutzmaßnahmen gerade in der kälteren Jahreszeit ist wahrscheinlich.
Trotz verschiedener Lockerungen und Erleichterungen macht es an den Hochschulen aus weiteren Gründen wenig Sinn, allzu hektisch und zeitnah wieder einen umfassenden Präsenzbetrieb vorzusehen. Zum einen stehen die räumlichen Möglichkeiten für die unabdingbare Einhaltung der Hygieneregelungen (6-8 facher Raumbedarf, erhöhter Personalbedarf)) im notwendigen Umfang gar nicht zur Verfügung. Hinzu kommt, dass Präsenz- und Online-Betrieb nicht beliebig und kurzfristig gegeneinander ausgetauscht werden können. Die der digitalen Lehre zugrunde liegenden eigenen Regeln und Gesetzmäßigkeiten, die sich auch auf die Einteilung und Präsentation des Stoffs auswirken, können ebenso wenig beliebig getauscht werden. Es wird daher auch im Wintersemester noch empfehlenswert sein, den Präsenzbetrieb nur für Praktika und Übungen – also in Ausnahmefällen – zu starten, die digital nicht unabdingbar ersetzt werden können.
Eine besondere Herausforderung wird zudem der Zugang der internationalen Studierenden sein, die vielfach in den Heimatländern „festsitzen“ und zudem einen erheblichen Zeitvorlauf benötigen, um eine entsprechende Anreise zu planen. Zudem gilt es für die Immatrikulation der Studierenden einen möglichst reibungslosen Einstieg zu ermöglichen; dies ist vor der Maßgabe noch nicht geklärter Visavoraussetzungen eine weitere Schwierigkeit.
Ganz wichtig finde ich jedoch, dass die Zeit genutzt werden muss, um didaktisch sinnvolle digitale Lehrkonzepte zu überprüfen und anzupassen, um dann einen idealen Mix aus online und Präsenz zu schaffen. So können wir die Pandemie als Chance nutzen und ab dem Sommersemester 2021 die Hochschullehre ganz neu aufstellen!
#4 - Auf Ihre Anmerkung “wie hätten denn all die Studenten…
Und dass die Rektorate oder Bildungsminister nicht öffentlich zur Digitallehre zu Ungunsten der Präsenzlehre aufgerufen haben, ist wohl etwas zu wenig: vielmehr vermisst man klare Strategien und öffentlich kommunizierte Zeitpläne für die Studenten. Die Rektorate scheinen vielmehr in einer Schockstarre paralysiert - nicht anders kann man sich das bundesweite Fehlen einer leidenschaftlichen Debatte erklären.
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