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Weniger Junge, mehr Alte

In den Sommermonaten berichtete die Corona-Statistik von einem immer weiter steigenden Anteil infizierter Kinder, Jugendlicher und junger Erwachsene. Jetzt scheint sich der Trend zu ändern. Für Kinder und Familien ein Hoffnungszeichen, angesichts zunehmender Gesamtzahlen aber auch ein Grund zur Sorge.

DA PASSIERT GERADE ETWAS. Und das, was da passiert, ist nicht gut. Nach einem kräftigen Anstieg im August waren die gemeldeten Corona-Neuinfektionen zwischenzeitlich leicht gesunken, jetzt geht ihre Wachstumskurve wieder nach oben. Und auch wenn die Zunahme recht gemächlich verläuft – im Gegensatz zum August ist die Entwicklung diesmal aus mehreren Gründen besorgniserregender. In zahlreichen Nachbarstaaten um Deutschland herum rollt sie längst, die zweite Welle. Droht sie jetzt auch der Bundesrepublik? Eine Analyse.

 

Die Demografie verschiebt sich wieder

 

Als die registrierten Neuinfektionen seit Mitte Juli hochgingen, stieg parallel der Anteil junger positiv Getesteter. Vor allem die Altersgruppe der 15- bis 29-Jährigen verzeichnete krasse Wachstumsraten. Von Kalenderwoche 29 (ab 13. Juli) bis Kalenderwoche 34 (ab 17. August) kletterte ihre Zahl um 351 Prozent – im Vergleich zu 216 Prozent über alle Altersgruppen. Oder in absoluten Zahlen: von 798 wöchentlichen Neuinfektionen auf 3604. Parallel blieb die Zahl der nachweislich neuinfizierten Über-70-Jährigen erfreulich niedrig: 198 in Kalenderwoche 29, 268 in Kalenderwoche 34.

 

Was den Anstieg der Fälle insgesamt weniger bedrohlich wirken ließ, zumal parallel die Auslastung der Krankenhäuser und Intensivstationen nicht zunahm. 

 

Anders sieht die Entwicklung seit Kalenderwoche 34 aus. Zuerst das Positive: Der Anteil der gemeldeten Neuinfektionen bei Kindern und Jugendlichen bis einschließlich 14 geht nun schon seit vier Wochen kontinuierlich zurück: von 15,5 Prozent in Kalenderwoche 33 (ab 10. August) über 13,0 Prozent, 12,0 Prozent, 11,5 Prozent auf – nach noch unvollständigen Zahlen – voraussichtlich etwa 10,6 Prozent in der vergangenen Kalenderwoche. Damit infizieren sich Kinder und Jugendliche seit drei Wochen nur noch unterdurchschnittlich häufig – ihr Anteil an der Bevölkerung liegt bei etwa 13 Prozent. Inzwischen ist in allen Bundesländern wieder Schule, und in der Mehrheit der Bundesländer schon seit mehreren Wochen. Geringer war die Quote der Jüngsten an allen Neuinfektionen übrigens zuletzt in Kalenderwoche 21 (ab 18. Mai), also kurz nach dem Ende des Shutdowns.

 

Rückläufig ist auch der Anteil nachweislich neuinfizierter 15- bis 29-Jähriger. In Kalenderwoche 34 – auf dem Höhepunkt – machte diese Altersgruppe fast 38 Prozent aller gemeldeten Neuinfektion aus. In der vergangenen Woche waren es nach vorläufigen Zahlen nur noch gut 34 Prozent. Wurden die jungen Erwachsenen noch vor sechs Wochen als die "Treiber" der Pandemie bezeichnet (welch ein schräges Wortbild), so fielen sie zuletzt in dieser Rolle aus.

 

Womit die negative und alarmierende Nachricht dran ist: Der Anteil der Alten unter den nachweislich Infizierten steigt wieder. Noch auf scheinbar niedrigem Niveau, relativ gesehen aber kräftig. In Kalenderwoche 36 (ab 31. August) berichtete das Robert-Koch-Institut (RKI) von 292 infizierten Über-70-Jährigen. In der vergangenen Woche verzeichnete das RKI bereits 478 Fälle, ein Zuwachs um 64 Prozent innerhalb einer Woche, und dabei sind die Zahlen der Kalenderwoche 37 noch nicht einmal vollständig abgerechnet, soll heißen: Da kommen noch etliche Fälle dazu. Unter allen bislang gemeldeten Neuinfektionen für die abgelaufene Woche lag der Anteil der Über-70-Jährigen bei 5,6 Prozent – nach 3,4 Prozent in der Woche zuvor. Das ist ein beträchtlicher Anstieg.

 

Ähnlich kräftig ist er übrigens bei den 60- bis 69-Jährigen: von 371 auf 492 (mit wie gesagt noch unvollständigen Zahlen für Kalenderwoche 37), ihr Anteil an allen Neuinfektionen steigt von 4,3 auf 5,7 Prozent. 

 

Aber erst in der Gesamtschau der jungen Jahrgänge (bis 29) im Vergleich zu den Älteren (ab 60) zeigt sich die Verschiebung in den vergangenen vier Wochen in ihrer ganzen Deutlichkeit. In der Kalenderwoche 34 (vor drei Wochen) betrug der Anteil der nachweislich infizierten Unter-30-Jährigen: 50,7 Prozent. In Kalenderwoche 37 (vorläufig): 44,8 Prozent. Das umgekehrte Bild bei den Über-60-Jährigen. Kalenderwoche 34: nur 6,5 Prozent. Kalenderwoche 37: 11,3 Prozent. Inwieweit sich die wieder verschobene Corona-Demografie auch mit einer wieder anderen Demografie bei den Corona-Tests erklären lässt, ist offen. 

 

Die Trendwende zwischendurch war vermutlich gar keine

 

Ende August hatte ich eine Prognose gewagt. Damals schrieb ich: "Die Zahl der Corona-Tests wird in den kommenden Wochen nicht mehr oder kaum steigen, eventuell sogar leicht zurückgehen. Das verringert automatisch das Plus bei den gemeldeten Neuinfektionen. Die Öffentlichkeit wird dies als die langersehnte Trendwende feiern. Ich hoffe ja auch, dass es sie gibt. Aber so, wie die stark gewachsenen Corona-Tests die Vergleichbarkeit der registrierten Neuinfektions-Zahlen von Woche zu Woche schwieriger machte, gilt das auch, wenn die Testzahl stagniert oder abnimmt. Soll heißen: Vermutlich war die Dynamik der Pandemie in den vergangenen Wochen nie so groß, wie die Zahlen es zeigten. Aber sie ist womöglich größer und ernstzunehmender, als es die Meldungen der Neuinfektionen es in den nächsten Tagen und Wochen nahelegen werden."

 

Weiter schrieb ich: "Vor allem dürften mit dem Ende der Reihentests für Reiserückkehrer wieder mehr der dringend nötigen Testkapazitäten für Altenheime und andere Einrichtungen übrig bleiben – wodurch der Anteil der gemeldeten Neuinfektionen in den älteren Altersgruppen tendenziell wieder steigen dürfte. Es ist zu hoffen, dass hier in den vergangenen Wochen nicht zu viele Fälle übersehen wurden."

 

Jetzt hat sich meine Prognose in mehrfacher Hinsicht bewahrheitet. Zwischen Kalenderwoche 29 und 34 stieg die Zahl der Coronatests um 96 Prozent auf über eine Million. In Kalenderwoche 35 nur noch um gut vier Prozent, in Kalenderwoche 36 ging die Zahl der Tests sogar um vier Prozent zurück. Parallel sanken der Anteil der getesteten Auslandsrückkehrer – und die Zahl der insgesamt registrierten Neuerkrankungen. Die Testzahlen für die Kalenderwoche 37 gibt das RKI morgen bekannt.

 

Fest steht: Allein durch die Zu- und Abnahme der Tests lässt sich die Entwicklung der wöchentlichen Fallzahlen nicht erklären, aber sie haben erst den Anstieg seit Mitte Juli und dann die Entspannung seit Ende August überzeichnet. Die wahre Dynamik tritt erst jetzt allmählich hinter den nachlassenden statistischen Sondereffekten zu Tage – und sie ist eine, die wenig Anlass zur Hoffnung gibt. Inzwischen wird der Anstieg der Zahlen insgesamt nämlich nicht allein von Bundesländern mit vielen Auslandsrückkehrer-Tests getragen, sondern auch von Regionen, in denen die Sommerferien schon längst vorbei sind und Testnormalität eingekehrt ist. Womöglich hat sich die Pandemie also die ganze Zeit – in geruhsamen Tempo, aber doch ohne Pause – gesteigert. Genau aber wissen wir es nicht. 

 

Versäumnisse der Politik

 

Und genau daran besteht ein wichtiges Versäumnis der Politik. Sie ist im Blindflug unterwegs – genau wie der Rest von Öffentlichkeit und Wissenschaft, weil repräsentative und regelmäßige Stichproben zum tatsächlichen Pandemieverlauf fehlen. Hier hatte ich am ebenfalls in meinem Artikel Ende August einen Vorschlag gemacht. Und weil die Politik im Blindflug unterwegs ist, kommt es zu absurden Fehleinschätzungen.

 

Zum Beispiel zu der, dass am Wochenende München Kitas und Schulen kurz vor der (teilweisen) Schließung standen, weil die Sieben-Tages-Inzidenz an der 50er-Marke kratzte. Am Montag sank siewieder unter 40 Fälle.

 

Doch wieviel von dem Münchner Corona-Hoch war noch bedingt durch die Auslandsrückkehrer-Tests? Und wie kann es ein, dass ausgerechnet wieder die Kinder und Jugendlichen zittern müssen, obwohl ihr Anteil an den gemeldeten Neuinfektionen auch in Bayern rückläufig ist? In Kalenderwoche 36 infizierten sich nachweislich 307 Unter-15-Jährige (Anteil an allen neuen Fällen im Freistaat: 13,8 Prozent), in der vergangenen Woche war es nach vorläufigen Zahlen 270 Kinder und Jugendliche (11,6 Prozent).

 

Die drohenden Kita- und Schulschließungen sind vor dem Hintergrund dieser Zahlen – gelinde – gesagt ein Ding der Unmöglichkeit. Sie sind es erst recht, weil die Erfahrungen aus anderen Bundesländern zeigen, dass die Kita- und Schulöffnungen dort über Wochen nicht zu einem Anstieg der Neuinfektionen unter Kinder und Jugendlichen geführt haben – ja, die offiziellen Infektionszahlen sogar insgesamt zwischenzeitlich zurückgingen (siehe Kasten). Und trotzdem sollen die Kinder jetzt wieder als erste dran sein? Was für viele Familien in der bayerischen Landeshauptstadt umso schwerer zu ertragen wäre, wenn parallel die "WirthausWiesn" als Ersatz für das ausgefallene Oktoberfest trotzdem stattfinden würde. Denn genauso ist es geplant: in 54 Gaststätten und mit feuchtfröhlichem Feiern bei Livemusik.

 

An der Schwelle zur nächsten Welle?

 

Derzeit kann das keiner mit Sicherheit sagen. Auch weil – siehe oben – die empirischen Instrumente zur Beobachtung der Pandemie fehlen. Allerdings lässt der Blick ins benachbarte Ausland (Dänemark, Niederlande, Frankreich, Österreich, Tschechien, Polen mit jeweils nahezu so vielen oder mehr täglichen Neuinfektionen als im Frühling) wenig Raum für Illusionen, dass ausgerechnet Deutschland einen virusarmen Herbst erleben wird. Die Entwicklung der vergangenen Wochen ist jedenfalls besorgniserregend.

 

Hoffnung macht, dass die Krankenhäuser und Intensivstationen immer noch nicht mehr Patienten melden. Auch die Zahl der Gestorbenen bleibt auf äußerst niedrigem Niveau – übrigens auch in den meisten der vorgenannten Länder mit stark steigenden Zahlen. Allerdings: Charité-Chef Heyo Krömer sagte neulich im Tagesspiegel, die Tatsache, dass derzeit weniger Coronainfizierte schwer erkrankten, hänge vermutlich mit ihrem jüngeren Durchschnittsalter zusammen im Vergleich zur ersten Welle. Und genau dieses Durchschnittsalter fängt nun möglicherweise wieder an zu klettern.

 

Darüber hinaus vermutete Krömer, es gebe inzwischen mehr Erfahrungen, wie man Corona-Patienten behandle, auch das die Masken und das Abstandhalten schützten die Menschen besser. "Aber vollinhaltlich verstanden ist das nicht."

 

Wie so vieles nicht an dieser Pandemie. Ausgerechnet in einem Land gehen die Zahlen derweil stark zurück: in Schweden.


Ausbrüche in Gießen und Hamburg

Anfang August hat in den ersten Bundesländern wieder der Unterricht begonnen, diese Woche startete er auch in Baden-Württemberg. Zurzeit sind deutschlandweit mindestens zwei Cluster bekannt, bei denen sich das Coronavirus nachweislich innerhalb der Schulen selbst verbreitet hat. 

 

An der Liebigschule in Gießen haben sich nach Angaben des Gesundheitsamts 14 Covid-19-Infektionen von Schülerinnen und Schülern bestätigt. 13 Fälle beträfen eine neunte Klasse, ein weiterer Fall den Jahrgang elf. Es erfolgten Reihentests. Weiteren 30 Personen sollten am Montagabend Abstriche entnommen werden, berichtete der Gießener Anzeiger. An der Heinrich-Hertz-Schule im Hamburger Stadtteil Winterhude haben sich mittlerweile 33 Schülerinnen und Schüler und drei Schulbeschäftigte mit dem Virus infiziert, teilte die Schulbehörde laut NDR mit. Bei drei Kindern stünden die Befunde noch aus. Damit habe sich die Zahl der Corona-Fälle an der Stadtteilschule im Vergleich zur Vorwoche, als der Ausbruch bekannt wurde, um zehn erhöht. Insgesamt seien rund 400 Schüler und 200 Schulbeschäftigte getestet worden. Vier der 16 betroffenen Klassen können mittlerweile wieder in die Schule kommen.

Der Charité-Chef-Virologe Christian Drosten kommentierte beide Fälle bei Twitter kurz und knapp mit "as expected" (wie erwartet). 

 

Seit Beginn des neuen Schuljahres waren inoffiziellen Zählungen zufolge mindestens 1500 Kitas und Schulen von Infektionen oder Verdachtsfällen betroffen und mussten Klassen oder Gruppen teilweise schließen. 

 

Auch diese Zahlen hatten Experten im Vorfeld selbst bei insgesamt niedriger Fallinzidenz erwartet. Insgesamt gibt es knapp 100.000 Schulen und Kitas in Deutschland. Ansteckungen innerhalb der Bildungseinrichtungen waren seit Beginn des neuen Schuljahrs jedoch die Ausnahme – was sich auch darin zeigt, dass die Infektionszahlen unter Kinder und Jugendlichen insgesamt seit August  zurückgingen oder stagnierten. 

 

Der Großteil der Schulen und Kitas befindet sich seit Schul- bzw. Kitajahrsbeginn ohne Unterbrechung im täglichen Corona-Regelbetrieb. Doch ist dies immer nur eine Momentaufnahme. Entscheidend ist, dass die Politik das Offenhalten der Schulen und Kitas auch bei einem höheren Infektionsgeschehen zur Top-Priorität erklärt hat. 



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