· 

Gut, wenn sie warten

Die Regierungschefs wollten noch nicht zu weiteren Maßnahmen greifen, hieß es gestern Abend. Bleibt es dabei? Und wie sieht die Lage an den Schulen aus? Eine Analyse.

Bild: Miguel Á. Padriñán / Pixabay. 

WENN ES DABEI BLIEBE, wäre es eine gute Nachricht. Die Regierungschefs von Bund und Ländern wollten bei ihrer Videoschalte heute Nachmittag noch keine grundlegend neuen Maßnahmen ergreifen und die bestehenden weiterlaufen lassen, meldete gestern Abend zum Beispiel der Spiegel. Erst nächste Woche wollten sie dann über eine mögliche Verschärfung entscheiden. Doch kursiert gleichzeitig die Beschlussvorlage des Bundeskanzleramts, derzufolge neben einer Maskenpflicht für alle Schüler unter anderem auch alle Gruppengrößen an den Schulen halbiert werden sollten – was auf einen Hybridbetrieb für alle hinausliefe. 

 

Es wäre eine gute Nachricht, wenn die Ministerpräsidenten hier heute nicht mitgingen. Wenn sie sich nicht in die Art von Aktionismus stürzen ließen, die auf grundlegende Fakten keine Rücksicht nehmen würde. Vor allem auf die Tatsache, dass die Frage, ob der "Wellenbrecher"-Shutdown ausreichend wirkt, sich an den aktuellen Corona-Neuinfektionen noch gar nicht hinreichend ablesen lässt. Das hätten die Regierungschefs schon Ende Oktober klar sagen müssen, um die absehbare Debatte ein Stückweit zu kanalisieren. Das haben sie nicht. So ist zu hoffen, dass sie jetzt wenigstens entsprechend handeln. 

 

Ende Oktober hatte ich geschrieben: "Selbst zwei Wochen nach Start des Shutdowns, also Mitte November, wäre es schon ein Erfolg, wenn die Entwicklung bei den Neuinfektionen gerade anfinge, in eine Seitwärtsbewegung überzugehen." Was ziemlich genau die gegenwärtige Lage wiedergibt. Der 7-Tages-Schnitt der Neuinfektionen liegt nach Berechnungen des WELT-Journalisten Olaf Gersemann zwei Prozent über dem Stand der Vorwoche, sein Wachstum schwächt sich seit zweieinhalb Wochen kontinuierlich ab. Aber hält der Trend an? Werden die Corona-Zahlen demnächst erst langsam, dann immer schneller zurückgehen? Das ist die entscheidende Frage, und sie wird sich erst in einer Woche, wenn Merkel und ihre KollegInnen sich erneut treffen, seriös beantworten lassen.

 

Auch die Zahl der Intensivpatienten
steigt deutlich langsamer

 

Die Regierungschefs hätten auch deshalb Zeit abzuwarten, weil die Zunahme der auf den Intensivstationen behandelten Covid-19-Patienten sich ebenfalls deutlich abgeschwächt hat. Gestern lag ihre Zahl laut DIVI-Intensivregister bei 3385. Das waren 481 (17 Prozent) mehr als genau eine Woche zuvor. Zum Vergleich: Zwischen 1. und 8. November waren 843 zusätzliche Intensivbetten mit Corona-Kranken belegt worden, was einem Plus von fast 41 Prozent entsprach. Wäre es in dem Tempo weitergegangen, hätte der Entscheidungsdruck auf die Regierungschefs heute bereits anders ausgesehen. 

 

Die Entwicklung bei den Intensiv-Patienten spricht im Übrigen dafür, dass die Abflachung beim Wachstum der Neuinfektionen, die erstaunlich früh nach Bekanntgabe des Teil-Shutdowns eingesetzt hatte, echt war und keine rein statistische Folge überreizter Testkapazitäten.

 

Ernüchternd war hingegen in den vergangenen Tagen, wie einseitig sich die Debatte über gegebenenfalls bald notwendige Zusatzmaßnahmen auf die Kinder und Jugendlichen beschränkt hat. Immerhin redet keiner ernsthaft über die flächendeckende Schließung von Kitas. Ansonsten aber begaben sich Teile der Öffentlichkeit mit ihren heiß geführten Schuldiskussionen in eine Art Eskapismus: Sollte der "Wellenbrecher"-Shutdown sich als nicht ausreichend erweisen, dann läge das sicherlich nicht vorrangig an den Jüngsten der Gesellschaft. Dann läge das daran, dass bei großen Teilen der Bevölkerung der Ernst der Lage bislang nicht angekommen ist. Warum? Weil die Kombination der Einschränkungen insgesamt eine ganz andere – leichtere – Botschaft sendet als im Frühjahr. 

 

Weniger über die Schulen und
mehr übers Gesamtpaket reden

 

Viele Menschen gehen weiter ins Büro, sie treffen sich in 10er-Gruppen ganz legal privat. Gottesdienste, wo vor allem die Ältesten und Vulnerabelsten zusammenkommen, sind weiter erlaubt, Shopping-Malls sind offen. Die Auswertung von Mobilfunkdaten zeigt, dass die Leute sich kaum weniger bewegen als noch im Oktober – im Gegensatz zum Shutdown im Frühjahr, als die Mobilität zwischenzeitlich um 40 Prozent eingebrochen war. 

 

Anstatt (ziemlich müßig) zu fragen, welchen Anteil an den Neuinfektionen einzelne Maßnahmen haben könnten, sollte man feststellen: Das Gesamtpaket ergibt die Stimmung. Und um dieses Gesamtpaket sollte es, falls nötig, nächste Woche gehen. Dass dann als Teil dieses Gesamtpakets auch über die Schulen zu reden wäre, wäre dann – aber nur dann! – zu rechtfertigen. Nächste Woche wohlgemerkt.

 

So sehen das offenbar auch viele Ministerpräsidenten. So twitterte NRW-Regierungschef Armin Laschet (CDU) gestern: "In den deutschen Ländern regieren CDU, CSU, SPD, Grüne, Linke und Freie Wähler. Alle wollen Präsenzunterricht und Bildungschancen für alle Kinder unabhängig von den Lernbedingungen zu Hause erhalten. Egal wie man zu Schulschließungen steht: Es ist keine parteipolitische Frage!" Und seine SPD-Kollegin Malu Dreyer aus Rheinland-Pfalz sagte der Nachrichtenagentur dpa, sie halte "es für falsch, jetzt grundsätzlich Schulschließungen zu fordern". Unbestreitbar stiegen die Corona-Zahlen auch an den Schulen wie auch in der gesamten Gesellschaft. Das Übertragungsrisisko sei in den Schulen allerdings geringer als an vielen anderen Orten. 

 

Und Dreyer nannte Zahlen: Seit Ende der Sommerferien berechne das Landesuntersuchungsamt die sogenannte "Secondary Attack Rate" in den Schulen. Maßgebliche Übertragungsraten seien dort bis zum 6. November nicht festzustellen gewesen. So hätten die 131 in Rheinland-Pfalz gemeldeten Corona-positiven Kinder und Jugendlichen nur 22 der ermittelten 4063 direkten Kontaktpersonen der Kategorie 1 angesteckt, also 0,54 Prozent. Bei Haushaltskontakten gehe man hingegen von einer Ansteckungsrate von knapp 19 Prozent aus. 

 

Auch die Kultusministerkonferenz (KMK) lieferte über das Wochenende erstmals die seit Mitte Oktober versprochenen bundesweiten Zahlen. Demnach waren 106 Schulen deutschlandweit komplett wegen Corona-Ausbrüchen geschlossen, was einem Anteil von 0,37 Prozent an allen Einrichtungen entspricht. 4074 Schulen (14 Prozent) waren teilweise geschlossen, was bedeutet, das einzelne oder mehrere Lerngruppen/Klassen/Jahrgänge betroffen waren. Im Umkehrschluss waren also mehr als 85 Prozent der Schulen zum Erhebungszeitpunkt vergangene Woche nicht von Corona-Eindämmungsmaßnahmen betroffen. Knapp 200.000 Schüler hätten sich in Quarantäne befunden, berichtete die KMK weiter – 1,8 Prozent von allen.

 

Die falsche Zahl von den
300.000 Quarantäne-Fällen

 

Diese Zahl setzt übrigens eine andere Zahl in die richtige Relation. Der Deutsche Lehrerverband hatte vergangene Woche immer von rund 300.000 in Quarantäne befindlichen Schülern gesprochen – eine vom Verbandspräsidenten Heinz-Peter Meidinger persönlich geschätzte Zahl, die dann aber in weiten Teilen der Medien so transportiert worden war, als sei sie statistisch nachgewiesen. Das war eine ärgerliche Fehlleistung, weil die Zahl ganz offenbar mit einer bestimmten Absicht in die Welt gesetzt worden war: um die Debatte um die Aussetzung des Corona-Regelbetriebs an den Schulen zu befeuern nämlich.

 

Die KMK wiederum muss sich vorwerfen lassen, dass sie durch die lange versäumte Präsentation bundesweiter Zahlen Raum für solche an Fehlinformation grenzenden Angaben gelassen hat. 

 

Was steht denn nun zu erwarten, wenn als Teil des erwähnten Gesamtpakets, sollten die Regierungschefs es für nötig halten, doch auch über die Bildungseinrichtungen zu reden wäre? Vermutlich dieses: Die Kitas blieben im täglichen Präsenzbetrieb für alle Kinder. Strittig wären die Grundschulen, weil das Kanzleramt auch schon für sie halbe Gruppengrößen und damit  eine Mischung aus Präsenz- und Distanzunterricht fordert. Relativ sicher würde der Hybridbetrieb für die weiterführenden Schulen kommen.

 

Ja, es gibt mittlerweile Schulen, die das mit den digitalen Angeboten gut hinbekommen. Für die meisten aber gilt das weiterhin nicht. Und so wäre der tägliche Betrieb für die Grundschüler und der Hybridbetrieb für die Älteren wohl unter den schädlichen Lösungen die am wenigsten dramatische. Weil ältere Kinder sich bereits besser selbst organisieren können. Und weil sie nicht zuletzt den RKI-Statistiken zufolge einen deutlich größeren Anteil am Infektionsgeschehen haben als die jüngeren.

 

Die Infektionen bei Schülern nehmen
erneut überdurchschnittlich zu – aber 

 

So auch in der gestern zu Ende gegangenen Woche. Die Meldungen ans RKI sind noch nicht vollständig, doch das Bild, das sich ergibt, ist eindeutig. 5613 Corona-positive 0- bis 9-Jährige weist die Statistik bislang aus, das entspricht 4,74 Prozent aller Neuinfektionen. Bei den 10- bis 19-Jährigen liegt die Zahl der ans RKI gemeldeten Neuinfektionen aktuell bei 12.968 (10,95 Prozent). Beide Alterskohorten sind in etwa gleich groß, wohlgemerkt. Bei allen Kindern und Jugendlichen gibt es einen weiteren Anstieg der Anteile im Vergleich zur Vorwoche. Bei den 0- bis 9-Jährigen um 0,12 Prozentpunkte, bei den 10- bis 19-Jährigen um 0,44 Prozentpunkte. Was zeigt, dass das Infektionsgeschehen bei den Jüngsten sich überdurchschnittlich entwickelt, dass also vor allem die Schulen sehr wohl eine Rolle in der Pandemie spielen. 

 

Allerdings ist auch diese Feststellung differenziert zu betrachten. Erstens: Die 0- bis 19-Jährigen haben sich nicht vom Rest der Bevölkerung abgekoppelt, die Dynamik lässt auch bei ihnen nach, nur langsamer als im Schnitt. Zweitens: Über fast drei Monate hinweg waren die Anteile zuvor bei den Kindern und (größtenteils auch bei den) Jugendlichen kräftig zurückgegangen. Drittens: Das hat sich erst mit Beginn des "Wellenbrecher-Shutdowns" geändert und ist ein mögliches Indiz dafür, dass er anfängt zu wirken. 

 

Warum? Weil die Eindämmungsmaßnahmen im Gegensatz zum ersten Shutdown diesmal gewollt stärker bei anderen Altersgruppen ansetzten. Weshalb die Infektionszahlen auch zunächst in diesen Altersgruppen zurückgehen sollten. Das aber, so schrieb ich bereits vergangene Woche, sollte keinen überraschen. Das ist der zu erwartende Preis für das Offenhalten der Bildungseinrichtungen insgesamt. So wie ein (leicht) steigender Anteil der Schüler an allen Infektionen – solange diese insgesamt anfangen zurückzugehen! – in den nächsten Wochen ein Zeichen dafür wäre, dass der Shutdown trotz geöffneter Bildungseinrichtungen funktioniert. 

 

In Irland ist es bereits genauso gelaufen. Dort ist die Zahl der Neuinfektionen innerhalb von vier Wochen auf ein Drittel gefallen, obwohl die Kinder zur Schule gingen. Womit in einem zweiten Schritt logischerweise auch die Infektionen in den Schulen sinken. Ob die Politik hierzulande die Kraft hat, darauf zu warten?

 

Insgesamt sind laut KMK aktuell übrigens 18.298 der rund elf Millionen Schülerinnen und Schüler mit dem Coronavirus infiziert. Bei den Lehrkräften sind es 3798 von etwa 800.000.



Nachtrag am 16. November, 12 Uhr:

Nach Protesten der Länder wurde die Beschlussvorlage für die Runde der Regierungschefs dpa-Informationen zufolge geändert. Die Länder sollen jetzt bis zur kommenden Woche einen Vorschlag vorlegen, wie Ansteckungsrisiken in Schulen weiter reduziert werden könnten. Weitere Maßnahmen im Bereich Schule soll es jetzt offenbar zunächst nicht geben.

 

Nach weiteren Vorbesprechungen am Montag hieß es aus Teilnehmerkreisen, das Thema sei sehr sensibel, berichtet die dpa weiter. Widerstand komme von SPD-regierten Ländern, aber auch von Seiten einiger CDU-Ministerpräsidenten.


Kommentar schreiben

Kommentare: 1
  • #1

    B. Zibberke (Montag, 16 November 2020 12:49)

    Es ist natürlich nicht dieser Kolumne allein zu verdanken, daß diesmal die Schulen und Kindertages-Stätten offen gehalten werden. (Aber gelesen wird sie schon.) Der ständige Druck in dieser Richtung ist aber wichtig.
    Richtig ist auch, diesen inkorrekten und von der Presse kritiklos übernommenen Darstellungen eines Herren Meidinger zur Fallzahl von Quarantänen heftig zu widersprechen.