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60, männlich, westdeutsch – immer noch

Eine neue Auswertung zeigt: Alle Bemühungen, mehr Diversität in die Wissenschaft zu bringen, gehen bislang an den Chefetagen der Hochschulen vorbei. Die vorgelegten Zahlen zur Demografie der Rektoren sind nicht nur ernüchternd – sie sind alarmierend.

Bild: Designed by rawpixel.com / Freepik

ALS DAS CENTRUM FÜR HOCHSCHULENTWICKLUNG (CHE) vor zwei Jahren erstmals die Demographie der deutschen Unirektoren untersuchte, war das Ergebnis größtenteils erwartbar. Was es nicht weniger ernüchternd machte: Der typische Unichef war ein Mann, 59 Jahre alt und stammte aus Westdeutschland. Nur 19 Universitäten (23,5 Prozent) wurden von Frauen geleitet und 62 von Männern. Und sage und schreibe kein einziger Unipräsident kam aus Ostdeutschland.

 

"Wir redeten über die immer größere Diversität unter den Studierenden, mit all den Anforderungen an die Hochschulen, die dadurch entstehen, doch über diejenigen, die mit dieser Diversität umgehen und die Hochschulen entsprechend ausrichten sollten, wussten wir so gut wie nichts. Das wollten wir ändern", erklärt CHE-Sprecher Jan Thiemann die Motivation hinter der ursprünglichen Untersuchung.

 

Damals bestand die Hoffnung, dass sich an der festgestellten Homogenität in den akademischen Führungsetagen bald etwas ändern würde. Weil die CHE-Zahlen so große Beachtung fanden und landauf, landab Kopfschütteln auslösten. Und weil das Durchschnittsalter der Chefs auf viele neue Berufungen in den kommenden Jahren schließen ließ.

 

Tatsächlich wurde seit 2016 etwa jeder zweite Leitungsposten neu besetzt, allein seit der letzten Erhebung sollte es rechnerisch jeder fünfte gewesen sein. Doch als die CHE-Leute kürzlich ihre Vollerhebung der Rektorate aller 81 staatlichen Universitäten in Deutschland wiederholten, kam zum Vorschein: Der typische Unichef war im September 2020 ein Mann, 60 Jahre alt und stammte aus Westdeutschland. Noch immer wurden nur 19 Universitäten (23,5 Prozent) von Frauen geleitetet und 62 von Männern. Einen ostdeutschen Geburtsort hatte zum Zeitpunkt der Erhebung eine einzige Unipräsidentin: Gesine Grande von der BTU Cottbus. Im Januar 2021 ist mit Enrico Schleiff, Präsident der Goethe-Uni Frankfurt/Main, ein zweiter gebürtiger Ostdeutscher hinzugekommen.

 

Die neuen Gesichter sehen
aus wie die alten

 

Anders formuliert: Die Gesichter auf den universitären Chefsesseln sind zum Teil neue, aber sie sehen den alten oft zum Verwechseln ähnlich, das gleiche gilt für die Lebensgeschichten der Rektoren und Präsidenten.

 

"Das, was sich getan hat auf dem Campus in den letzten Jahren, spiegelt sich in der Führung der Hochschulen bislang noch nicht wider", sagt CHE-Sprecher Thiemann. Und Ulrich Müller, Leiter politische Analysen beim CHE, sagt: "Alle reden über moderne und teamorientierte Führung, worin sich in den vergangenen Jahren auf der Ebene der Fakultäten vielfach gerade Frauen ausgezeichnet haben. Doch auf der Ebene der Hochschulleitungen werden Frauen als Führungspersonen offenbar immer noch weniger geschätzt. Ich hätte gedacht, dass wir da schon weiter wären."

 

Erklären kann und will das CHE das Ausbleiben des erhofften Diversitätsschubs nicht, aber Ulrich Müller gibt weiter den unerschütterlichen Optimisten: "Angesichts des hohen Durchschnittsalters der Hochschulleitungen bietet sich wohl auch in den kommenden Jahren die Gelegenheit dazu, eine größere Heterogenität auf der Führungsebene zu erreichen."

 

Das CHE, das von Bertelsmann-Stiftung und Hochschulrektorenkonferenz getragen wird, hat für seine Analyse alle auf den Websites der Universitäten verfügbaren Informationen zu den Unichefs ausgewertet und dabei nur diejenigen Eigenschaften berücksichtigt, die in den meisten Fällen vorhanden waren. In einem zweiten Schritt haben die Hochschulforscher Lücken gefüllt, indem sie gezielt bei den Universitäten nachfragten. 



Genauso machten sie es ein paar Monate später bei den Fachhochschulen. Deren Chefetagen durchleuchtete das CHE nämlich ebenfalls, erstmals vor anderthalb Jahren, und fand entgegen mancher Selbstwahrnehmung in den FHs ("Wir sind diverser!") ein kaum bunteres Bild vor. Der Frauenanteil fiel mit einem Fünftel sogar noch etwas geringer aus.

 

Immerhin: Seitdem haben es mehr Frauen auf die Top-Positionen an den staatlichen Fachhochschulen geschafft. Ihr Anteil legt laut aktueller Erhebung bis September 2020 um drei Prozentpunkte auf 23,8 Prozent zu. Und mit 57 sind die FH-Chefs im Schnitt zumindest nicht älter geworden. Und genau wie 2019 haben nur (oder immerhin?) neun einen Geburtsort in Ostdeutschland. 

 

An den privaten Hochschulen sind die Chefetagen
diverser besetzt – mit einem gewichtigen Aber

 

Erstmals hat das CHE diesmal auch die Lebensläufe der Präsidenten und Rektoren von 101 privaten Hochschulen ausgewertet. Diese spielen in der deutschen Bildungslandschaft eine zunehmende Rolle: Etwa 270.000 Studierende besuchten im Wintersemester 2019/2020 eine private Hochschule, 9,3 Prozent der gesamten Studierendenschaft, womit sich der Anteil in den vergangenen 25 Jahren verzehnfacht hat. 

 

Das Ergebnis der Auswertung zeigt nun: Die Chefs privater Hochschulen sind mit 55,7 Jahre im Schnitt ein paar Jahre jünger als ihre staatlichen Kollegen, und für immerhin jeder zehnten hat das CHE einen ausländischen Geburtsort ermittelt . An den staatlichen Hochschulen galt das nachweislich nur für knapp drei Prozent (fünf Personen). Auch haben immerhin 12 Prozent der Leitungen privater Hochschulen eine berufliche Ausbildung absolviert, etwa als Rettungssanitäter, Chemielaborant oder Industriekaufmann. Mit 13 Jahren hatten sie sogar deutlich mehr Berufserfahrung außerhalb des Hochschulsystems als ihre FH-Kollegen (knapp neun Jahre). Allerdings hat das "Die sind diverser"-Narrativ der Privaten eine empfindliche Lücke: Der Anteil der Präsidentinnen und Rektorinnen ist mit 20,8 Prozent sogar noch niedriger.

 

Insgesamt hat das CHE dieses Mal die Lebensläufe der Chefs von 283 staatlichen Universitäten und Fachhochschulen sowie von  privaten Hochschulen ausgewertet. Der mangelnde Zugewinn an Diversität in den Chefetagen spiegelt die mangelnde Diversität in den wissenschaftlichen Karrieren insgesamt wieder. Erst vor wenigen Tagen lieferte etwa der "Bundesbericht Wissenschaftlicher Nachwuchs" (BuWiN) 2021 aktuelle Zahlen dazu: Während die Hochschulabsolventen zur Hälfte weiblich sind und Frauen auch rund die Hälfte der Promovierenden stellen, sinkt ihr Anteil an neu besetzten W2-Professuren auf 34 Prozent, an W3 sogar auf 27 Prozent. Ähnlich sieht es etwa beim Anteil internationaler Professoren aus, der an Deutschlands Universitäten im einstelligen Prozentbereich liegt. 

 

Logisch, könnte man also schließen, dass ganz oben auch nicht mehr Vielfalt ankommt, zumal viele Rektoren und Präsidenten sich aus ehemaligen Vizepräsidenten und Dekanen rekrutieren, die wiederum zur großen Mehrheit Männer sind.

 

Wird der Kreislauf mangelnder
Heterogenität durchbrochen?

 

Allerdings könnte man auch die These aufstellen, dass hier ein unguter Kreislauf entsteht: Weil unter den Hochschulchefs so wenig Heterogenität herrscht, gehört die Diversität in wissenschaftlichen Karrieren vielfach nicht zu ihren Top-Prioritäten. Dadurch kommt der Wandel langsamer als möglich – und die nächste Generation in den Führungsetagen sieht wieder nicht viel anders aus als die davor.

 

Doch passiert gerade etwas in der deutschen Wissenschaft. "Diversität und Exzellenz, die Begriffe sind für mich untrennbar",  sagte die DFG-Präsidentin Katja Becker Anfang 2020. Und sie sagte es nicht irgendwie nebenbei, es gehörte zu ihren zentralen Botschaften nach ihrem Amtsantritt. In der Natur, sagte Becker, sei das genauso: "Der Regenwald entwickelt sich dynamischer als die landwirtschaftliche Monokultur."  Je mehr Dimensionen der Diversität in der Wissenschaft zusammenkämen – bei den Wissenschaftlern selbst, aber auch bei Förderformaten, Themen oder internationalen Kooperationen – "desto mehr spannende neue Kombinationen und Forschungsergebnisse wird es geben." 

 

Auch die aus den USA zurückgekehrte neue Rektorin der Technischen Universität Dresden, Ursula Staudinger, hat ebenfalls, sofort als sie im Amt war, klargemacht: Diversität und Inklusion in all ihren Facetten gelte es "nicht nur irgendwie zu tolerieren, sondern zu nutzen für die Weiterentwicklung unserer Universität". Die großen Sprünge in der Wissenschaft enstünden vor allem an den Grenzen und Übergängen: "zwischen den Disziplinen, den fachlichen Perspektiven und zwischen den unterschiedlichen Menschen, die sie einbringen und sich gegenseitig zuhören." Und dann zog auch Staudinger den Vergleich zur Natur oder genauer zur Landwirtschaft: "Wenn Sie eine Monokultur betreiben, geht die Produktivität zurück."

 

Zwei neue Chefinnen an der Spitze führender Wissenschaftseinrichtungen, die eine beim größten Forschungsförderer, die andere bei der einzigen ostdeutschen Exzellenzuniversität außerhalb Berlins. Zwei Einrichtungen, die für herausragende Wissenschaften stehen, und beide sagen: So, wie wir es bislang gemacht haben in Deutschland, das reicht nicht mehr. Das war bemerkenswert. Und könnte darauf hindeuten, dass sich das Verständnis dessen, was exzellente Wissenschaft ausmacht und bedingt, wirklich in der Breite zu ändern beginnt. Was irgendwann auch auf die Besetzung der Chefposten durchschlagen sollte.

 

Und wenn man von der Bundes- auf die Länderebene wechselt, lässt sich der Fortschritt dann tatsächlich hier und da messen. In Baden-Württemberg zum Beispiel hat sich die Anzahl von Frauen in den Rektoraten einer noch unveröffentlichten Statistik zufolge seit 2010 verdoppelt und erreichte zuletzt 35 Prozent – wobei der Frauenanteil in Hochschulleitungen auch in anderen Bundesländern inzwischen bei teilweise deutlich über 30 Prozent und mehr liegt. Anders sieht es allerdings meist bei den absoluten Spitzenpositionen aus. So sind auch in Baden-Württemberg nur zwei von neun Universitätsleitungen weiblich – was wiederum ziemlich genau dem mauen Bundesdurchschnitt entspricht. Und trotzdem immerhin zwei mehr ist als vor zehn Jahren.

 

Das CHE will seine Auswertungen weiter regelmäßig wiederholen. Mal schauen, ob dann auch die Chefetagen der deutschen Hochschulen etwas mehr nach Regenwald aussehen – und weniger nach Monokultur.

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Kommentare: 3
  • #1

    Th. Klein (Mittwoch, 03 März 2021 08:58)

    Die Studie ist nicht verlinkt, und ich habe sie auf Anhieb nicht auf der CHE-Seite gefunden. Deshalb ggf. redundant zur Studie: Der höhere Anteil an Ostdeutschen an den FHs/HAWs könnte sich dadurch erklären, dass für die dortigen Professuren oft aus der regionalen Wirtschaft rekrutiert wird. Da diese einerseits oftmals aus der Region selbst stammen und andererseits die Hochschulleitung sich in der Regel aus der eigenen Professorenschaft zusammensetzt, erzielt man damit höhere Werte (in dieser Kategorie). Hinsichtlich der Zahlen schön für die FHs/HAWs, aber letztlich keine Leistung dieser Institutionen, sondern nur ein Zeichen für weniger Mobilität beim professoralen Personal.

    NB! Zur Vollständigkeit, wenn es um Spitzenpositionen in der Wissenschaft geht, könnte man (d.h. das CHE) die Leitungspositionen von MPG & Co. mit einbeziehen. Übrigens wird die FhG von einem Ostdeutschen als Präsidenten geführt.

  • #2

    Jan-Martin Wiarda (Mittwoch, 03 März 2021 09:02)

    @Th. Klein: Den Link ergänze ich, sobald die Auswertung auf der CHE-Seite online ist. Viele Grüße!

  • #3

    René Krempkow (Donnerstag, 04 März 2021 18:49)

    Ja es ist schade, aber in der Tat nicht verwunderlich, wie gering die Diversität der Führungsriege in der Wissenschaft ist. Und dabei wurde auch hier noch nicht einmal die soziale Herkunft betrachtet, wo in den Hochschulleitungen noch mehr eine "geschlossene Gesellschaft" zu vermuten ist als der der Berufung auf eine Professur in Deutschland ohnehin (siehe auch https://www.tagesspiegel.de/wissen/position-bei-chanchengerechtigkeit-unterschlaegt-der-bund-einiges/26952632.html).

    Umso bemerkenswerter ist die Aussage von DFG-Präsidentin Katja Becker "Diversität und Exzellenz, die Begriffe sind für mich untrennbar"- jedenfalls für Deutschland (für die europäische Diskussion s. z.B. den Band von 2015 in www.eairweb.org/eair-books). Und sie redet nicht nur, unter ihrer Führung wird auch konkret an Konzepten für die Weiterentwicklung der eigenen Organisation gefeilt! Dies zeigte sich z.B. Ende 2020 in einer DFG-Gesprächsrunde auch mit Vorstandsmigliedern zum Thema („Diversität im Wissenschaftssystem: Handlungsoptionen der DFG”, 25.11.2020). Auch wenn die Entscheidungen der DFG-Gremien abzuwarten sind (wo evtl. noch einiges zerschossen werden könnte), kann man hierin eine große Chance für das deutsche Wissenschaftssystem sehen: Dass sich die DFG einmal mehr als Speerspitze der Förderung der Leistungsbesten erweist - und dies nicht naiv als "die Überlebenden der Kettenverträge" versteht, sondern Auswahlprozesse gezielt unabhängig(er) von Geschlecht, Herkunft usw. gestaltet.