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Kommt die Lernmilliarde?

Und wenn ja, wird es auch eine Milliarde? Heute beraten die Kultusminister über Wege aus der Corona-Bildungskrise. Die Initiative soll zwar noch nicht beschlossen werden, aber SPD und Union rangeln schon mal über die Frage, wer die Idee entschiedener vorantreibt.

Bild: Alex Barcley / Pixabay.

DIE SCHULEN HABEN GEÖFFNET. Noch. Zumindest teilweise. Die gesamtgesellschaftlichen Inzidenzen steigen, zuletzt gingen vor allem bei den Kindern und Jugendlichen die Zahlen hoch. Das Bild ist uneinheitlich: Einige Kreise haben wegen der gestiegenen Neuinfektionen schon wieder alle Schulen dichtgemacht. Mehrere Großstädte, in NRW etwa Dortmund, Duisburg oder Düren, wollten schließen, doch die Landesregierung ließ sie nicht. Andere Länder wie Berlin sagen derweil die versprochene Rückkehr der Mittelstufenschüler ab. Während viele Landkreise und Kommunen sich trotz höherer Zahlen dagegen stemmen, wieder alle Kinder und Jugendlichen nach Hause zu schicken. Das Ziel der Kultusminister, noch im März alle Schüler zumindest tageweise in die Schule zurückzuholen, droht jedenfalls zu scheitern.

 

Fest steht: Nicht einmal zehn Prozent aller Schulen in Deutschland, zu denen die Kultusministerkonferenz (KMK) vergangene Woche Zahlen vorliegen hatte, arbeiteten im vollen Präsenzbetrieb, 81,5 Prozent boten teilweisen Vor-Ort-Unterricht an und 10,1 Prozent der Bildungseinrichtungen befanden sich komplett im Distanzlern-Modus. 

 

Fest steht auch: Die Lernlücken, die sich nach erneut drei Monaten teilweisen oder kompletten Schulschließungen zu den im ersten Lockdown entstandenen gesellen, sind längst nicht ausreichend untersucht. Weil, wie der Bildungsforscher Olaf Köller beklagte, die Kultusminister bislang wenig Ambitionen zeigten, die Lernstände zu ermitteln. Auch ein heute von der Heinrich-Böll-Stiftung veröffentlichtes Expertenpapier stellt deshalb als eine Kernforderung auf, den "Blindflug zu beenden" und ein koordiniertes Forschungsprogramm aufzulegen. 

 

Wie groß sind die entstandenen
Lücken wirklich?

 

Immerhin, darauf deuten die wenigen belastbaren Zahlen hin, sind die Lücken möglicherweise nicht durch die Bank so groß wie befürchtet. Allerdings gilt das nur für die Hauptfächer, und es gilt vor allem für Kinder aus sozial bessergestellten Elternhäusern. Köller warnte deshalb, "dass vor allem bildungsferne Kinder und Jugendliche noch stärker zurückfallen könnten." Eine neue Auswertung des Nationalen Bildungspanels zeige bereits, dass lesestarke Kinder im Lockdown motivierter gewesen seien und ihren Lernfortschritt besser hätten steuern können als Kinder, die nicht so gern lesen. Auch das Böll-Papier, verfasst von den ehemaligen Bildungsstaatssekretären Hans-Jürgen Kuhn und Michael Voges, fordert, vor allem die benachteiligten Schüler mit gezielten Fördermaßnahmen in den Blick zu nehmen, also "vor allem diejenigen, die in über 20 Wochen Distanzunterricht am wenigsten mitbekommen und gelernt haben."

 

Kuhn und Voges richten sich mit ihrem Plädoyer explizit an die Kultusminister, die sich heute zu ihrer virtuellen Frühjahrstagung treffen. 

 

Auf die plakative Forderung, "den Blindflug zu beenden", begegnen die allerdings reserviert. So betonte zum Beispiel Schleswig-Holsteins Bildungsministerin Karin Prien (CDU) vor der KMK-Sitzung, es müsse zunächst darum gehen, alle Schüler überhaupt in die Schule zurückzuholen. "Erst dann macht es Sinn, Lernstandserhebungen und insbesondere VERA 3 und 8 durchzuführen – aus meiner Sicht noch vor den Sommerferien." 

 

Ansonsten aber dürften Kuhn und Voges mit ihrem Böll-Papier ziemlich viele offene Türen einrennen. Auf der KMK-Tagesordnung steht nämlich als ein wichtiger Punkt der "Umgang mit der Covid-19-Pandemie". Und hierzu gehört zentral der Plan einer "Lernmilliarde". Die, weniger schön formuliert, eher eine "Nachhilfe-Milliarde" werden dürfte. Sie soll zwar auf dieser KMK-Sitzung noch nicht verabschiedet werden, aber, so ist zu hören, auf jeden Fall noch vor Ostern. Was enorm schnell wäre, wenn man bedenkt, dass Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) die diesbezügliche Idee erst im Februar an das KMK-Präsidium herangetragen hatte. 

 

In der Welt am Sonntag hatte Karliczek vor einem guten Monat dann offiziell bestätigt, dass sie sich mit der KMK in Verhandlungen über einen "Aktionsplan" zur Schließung von im Lockdown entstandenen Bildungslücken bei Schülern befinde. Für den schulischen Bereich seien zwar die Länder verantwortlich, sagte Karliczek, sie wolle aber Unterstützung anbieten. Vor allem bedeutet das, wenn es nach den Ländern geht: viel Geld. Schleswig-Holsteins Bildungsministerin Prien prägte dann als erste den Begriff der "Lernmilliarde". 

 

Was die Lernmilliarde
beinhalten soll

 

Prien sagt: "Wir waren uns in der KMK mit Anja Karliczek schnell einig, dass hier nicht gekleckert, sondern geklotzt werden muss." Woraufhin die Staatssekretäre der Ministerien sofort in die Verhandlungen eingestiegen seien. Und tatsächlich haben sich Bund und Länder bereits auf die Eckpunkte für das Programm verständigt.

 

"Die Schülerinnen und Schüler haben im vergangenen Jahr fast die halbe Zeit die Schule nicht besuchen können. Wir sind uns angesichts des Ausfalls einig, dass gehandelt werden muss, damit keiner den Anschluss verliert", sagte Hamburgs SPD-Bildungssenator Ties Rabe der Nachrichtenagentur dpa. Karin Prien betont, Grundlage für die Zusatzangebote, die in den Sommerferien und im neuen Schuljahr stattfinden sollten, müssten die vorher durchgeführten Lernstanderhebungen sein. "Im Übrigen verweise ich darauf, dass die Länder bereits jetzt erhebliche Anstrengungen unternommen haben, um die individuelle Förderung von Lernrückstände für Schülerinnen und Schüler zu ermöglichen."

 

Rabe nannte derweil den Betrag von einer Milliarde noch gestern früh eine "Arbeitshypothese" zwischen Bund und Ländern. Im Hintergrund ist zu hören, es könne am Ende sogar noch deutlich mehr werden.

 

Am Ende wird es in den nächsten zwei Wochen zwischen Bund und Ländern also vor allem darum gehen, wieviel der Bund genau beisteuert und was genau er dafür von den Ländern verlangt. Womit es speziell auf Bundesbildungsministerin Anja Karliczek und ihre Rückendeckung durch die GroKo-Spitzen ankommt. Und die Länder müssen sagen, wie genau sie die Kinder, die das am dringendsten brauchen, erreichen können. Das bei den Ländern so beliebte Gießkannen-Prinzip per "Königsteiner Schlüssel" stand schon beim Bund-Länder-Programm zur Anschaffung von Endgeräten für ärmere Schüler zu Recht in der Kritik

 

Hamburgs Bildungssenator Rabe führt die Verhandlungen im Namen der Bildungsminister aller SPD-regierten Länder, und diese haben sich mit den sozialdemokratischen Bildungspolitikern im Bund ebenfalls im Vorfeld der heutigen KMK-Sitzung auf eine Erklärung geeinigt, die alle aus ihrer Sicht wichtigen Anforderungen an eine "Bundesinitiative Chancengleichheit in der Bildung" mit schnell wirkenden Maßnahmen formuliert. Diese müssten "mindestens ein Jahr in Anspruch genommen werden können und mindestens eine Milliarde Euro umfassen", heißt es in der Erklärung, die mir vorliegt. 

 

Neben dem Ausbau der Schulsozialarbeit soll mit dem Geld zusätzliches Personal an den Schulen und auch außerhalb zur Lernunterstützung der Schüler finanziert werden. "Dies können Freiwilliges-Soziales-Jahr- und Bundesfreiwilligendienst-Leistende, Lehramtsstudierende, Personal von Weiterbildungsträgern oder auch Scouts und Mentoren sein." Die Jugendhilfe und die schulpsychologische Hilfe sollen ebenso mit im Boot sein wie Stiftungen und innovative Bildungsprogramme außerhalb der Schule. Ein besonderer Fokus der Initiative soll auf den Übergängen des Schulsystems liegen: dem Schulstart, dem Wechsel zur weiterführenden Schule und dann hinüber in den Beruf. 

 

SPD-Chefin Esken: Schülern, Eltern und Lehrkräften
neue Perspektiven und Zuversicht geben

 

Eine weitere zentrale Forderung der SPD ist neben dem Festhalten an einem "Rechtsanspruch auf ganztägige Bildung und Betreuung in der Grundschule" eine digitale Lernmittelfreiheit auch nach der Pandemie. Derzeit sind die Bund-Länder-Programme für die Schülerlaptops und die Bezuschussung von Endgeräten für arme Schüler über die Job-Center befristet. Und die für alle versprochene Bildungsflatrate ist bislang eher ein Reinfall.

 

SPD-Chefin Saskia Esken sagte heute Mittag mit Bezug auf die im vergangenen Jahr beschlossenen Milliarden-Konjunkturprogramme: "Eine solche gemeinsame Kraftanstrengung von Bund und Ländern wollen wir jetzt für die Zukunft unserer jungen Generation auf den Weg bringen!" Das Abfedern der wirtschaftlichen und der sozialen Folgen der Corona-Pandemie müsse um eine Initiative für die junge Generation insbesondere im Bildungsbereich erweitert werden. "Wir müssen entstandene Rückstände in der Entwicklung und Bildung junger Menschen aufarbeiten und auch die sozialen und die psychosozialen Folgen der Pandemie in den Blick nehmen." Es gehe darum, dass Kinder und Jugendliche gemeinsam mit Eltern und Lehrkräften neue Zuversicht und gute Perspektiven auf ihrem Weg aus der Pandemie entwickeln könnten. "

 

Bildungssenator Rabe sagte heute, mit dem Geld könne konkret jedem vierten oder fünften Schüler ein Lernangebot gemacht werden: entweder zwei Extra-Stunden pro Woche in Kleingruppen über ein gesamtes Schuljahr verteilt oder vier Förderstunden pro Woche verteilt über ein halbes Schuljahr.

 

Und was sagen die Kultusministerien in den unionsregierten Ländern? Dort hat man den Eindruck, die SPD versuche den von Karliczek vorgeschlagenen und dann parteiübergreifend gefassten Plan von der Lernmilliarde für sich zu kapern. "Wir haben diese Initiative jenseits von allen parteipolitischen Gräben in der KMK gemeinsam vorangetrieben", sagt Karin Prien auf meine Anfrage hin.

 

Nachdem die Bundesbildungsministerin auf die Kultusminister zugegangen sei, habe es noch im Februar ein KMK-Präsidiumsgespräch dazu gegeben. "Und da war wir alle derselben Auffassung, dass wir das Schuljahr 2021/22 dafür nutzen müssen, verstärkt die Lernrückstände aufzuholen. Und dass es sich dabei um ein nachhaltiges Programm handeln muss, mit dem wir diejenigen 20 bis 30 Prozent der Schülerinnen und Schüler erreichen, die besonders unter der Pandemie gelitten haben." Dabei gehe es an erster Stelle um das Aufholen von Lernrückständen, aber auch um die Kompensation der sozialen und emotionalen Folgen der Krise.

 

Auch der Koordinator der Kultusministerien in Landesregierungen mit CDU-/CSU-Beteiligung, Hessens Kultusminister Alexander Lorz, erklärte gegenüber der dpa: "Wir müssen alles dafür tun, dass die Kinder und Jugendlichen die Lernrückstände, die in der Corona-Zeit entstanden sind, wieder ausgleichen können. Deshalb ist die gemeinsame Initiative von Bund und Ländern für ein entsprechendes Förderprogramm gut und richtig." 

 

Kompetenzzentren und Irritationen
um eine Infektionsstudie

 

Es wird also spannend, ob und was die Kultusminister schon morgen Mittag Neues zum Verhandlungsstand in Sachen Lernmilliarde sagen. Offiziell soll es bei ihrer Sitzung aber eher um Empfehlungen zur schulischen Bildung, Beratung und Unterstützung von Kindern und Jugendlichen im sonderpädagogischen Schwerpunkt "Geistige Entwicklung" gehen und um die berufliche Orientierung und die Ausbildungsplatzsicherung. Gerade erst gestern hatte die Bundesregierung das Förderprogramm "Ausbildungsplätze sichern" aufgestockt. 

 

Wenn es gut läuft, äußern sich die Kultusminister auch zu den geplanten "Kompetenzzentren für digitales und digital gestütztes Unterrichten", die die GroKo vergangenen Sommer angekündigt hatte und die die Lehrerbildung und die digitale Transformation der Schulen begleiten und fördern sollen. Hierzu lag bereits Mitte Februar ein Eckpunkte-Entwurf vor, der nach Kritik von Bildungsforschern nachgebessert wurde und jetzt den Transfer von Forschungsergebnissen in den Unterricht stärker betont. 

 

Und dann ist da noch das leidige, aber unendlich wichtige Thema "Infektionsgeschehen an Schulen". Wie hoch ist es tatsächlich, und wodurch wird es bestimmt? Hierzu hatte die KMK bereits im Herbst eine länderübergreifende wissenschaftliche Studie versprochen und im November in Auftrag gegeben, um die es dann jedoch Irritationen gab. Denn die Ergebnisse sollen laut der Projektpartner, der Kinderklinik der Universität Köln und dem Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI) in Braunschweig, erst in der zweiten Jahreshälfte 2021 vorliegen – wenn sie vor allem historischen und wissenschaftlichen, aber womöglich nur noch wenig praktischen Wert hätten. Doch betonten die Forscher laut NDR auf Nachfrage, dass man natürlich vorhabe, auch Zwischenergebnisse zu einzelnen Bereichen zu veröffentlichen, sobald diese ausgewertet seien. 

 

Auf der KMK-Tagesordnung steht immerhin ein Bericht zum Sachstand der Studie. Ob Rabe, Lorz und die derzeitige KMK-Präsidentin Britta Ernst (SPD) bei der für morgen Mittag angesetzten Pressekonferenz auch dazu etwas sagen werden?

 

Die wöchentlich von der KMK herausgegebenen bundesweiten Infektionszahlen an Schulen zeigen jedenfalls zweierlei: dass parallel zu den steigenden Inzidenzen in der Gesamtgesellschaft auch die Fälle an den Schulen wieder zunehmen. Und dass die Berichtsqualität der einzelnen Länder, von denen die KMK ihre Zahlen bezieht, gelinde gesagt sehr unterschiedlich ist. Wissenschaftliche und möglichst repräsentative Ergebnisse zum Infektionsgeschehen tun also Not. Je früher, desto besser.

 

Dieser Artikel wurde am 18. März um 14.20 Uhr aktualisiert.




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Kommentare: 1
  • #1

    Dr. Oliver Locker-Grütjen (Donnerstag, 18 März 2021 16:22)

    DANKE - das war an der Zeit, dass diese Thematik in den Fokus rückt.
    Jenseits des dringend notwendigen Forschungsbedarfes (Köller et al.) muss aber auch den Schulen endlich erlaubt werden, "sich ehrlich zu machen". Es muss mit einer uneingeschränkten Transparenz offengelegt werden, dass - und davon gehe ich persönlich aus - zu wenig Unterricht stattfand und Lehrinhalte noch weniger vermittelt werden konnten und in vielen Teilen vielleicht auch gar nicht die Schüler*innen erreicht haben. Wie soll hier eine faire Leistungsbewertung (in mündlichen Fächern nahezu unmöglich) erfolgen?!

    Ich hoffe sehr, dass die Politik dies ehrlich meint, endlich auf Bildungsforscher*innen hört und dies nicht wieder nur Wahlkampfrhetorik ist.